Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Richard Wagner und die Philosophie des deutschen Idealismus
1. Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters.
2. Wesen und weltgeschichtliche Aufgabe des deutschen Volkes.
3. Über Geist und Buchstabe in der Kunst.
4. Die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechtes.

Überall wird sich wiederum der Hinweis auf das Eigenartige und Selb¬
ständige der Wagnerschen Auffassungen an den Nachweis der geschichtlichen
Einflüsse schließen müssen.

1. Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters.

Im Anschluß an Kants transzendentalethische Grundlegung der Geschichts¬
philosophie in den Abhandlungen: "Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht" (1784) und "Mutmaßlicher Anfang der Weltgeschichte"
(1786) hat Fichte fünf Stufen der Entwicklung des Menschengeschlechtes auf¬
gestellt. Die Gegenwart, im Jahre 1804, befand sich auf der dritten Stufe,
"dem Stand der vollendeten Sündhaftigkeit". In der fünften Vorlesung wird
diese Epoche geschildert: "Als erklärter Gegner alles blinden Vernunftinstinktes
und aller Autorität stellte dieses dritte Zeitalter die Maxime auf: schlechthin
nichts gelten zu lassen, als das, was es begreife -- es versteht sich unmittelbar,
mit dem schon vorhandenen und ohne alle seine Mühe und Arbeit ihm an-
geerbten gesunden Menschenverstande" So wird "die Vernunft aufgehoben
und ausgetilgt", und es "bleibt nichts übrig, als das bloße individuelle,
persönliche Leben" -- "nichts, denn der bloße, reine und nackte Egoismus".
"Die Mittel für die Erhaltung und das Wohlsein des persönlichen Lebens
können allein durch die Erfahrung gefunden werden" -- "und daher kommt
die Lobpreisung der Erfahrung für die einzige Quelle des Wissens, als ein
charakteristischer Grundzug eines solchen Zeitalters". "Die bleibende Grund¬
eigenschaft und der Charakter eines solchen Zeitalters ist der, daß jedes echte
Produkt desselben alles, was es denkt und tut, nur für sich und seinen eigenen
Nutzen tue." Ein solches "ideenloses" Zeitalter ist schwach und kraftlos. Nichts
erfaßt es ganz und aus der Tiefe. In den Wissenschaften ist es oberflächlich
und zerfahren. "Ein Meisterfund für die Darstellung eines solchen Zeitalters
wäre es, wenn es darauf geriete, die Wissenschaften nach der Folge der Buch¬
staben im Alphabet vorzutragen." Ein wesentlicher Grundsatz dieses Zeitalters ist es,
daß man dem Leser nichts zu denken gebe, noch desselben eigene Tätigkeit auf irgend¬
eine Weise aufrege. Bestimmte Endurteile wird dies Zeitalter nicht fällen, dagegen
tritt mit der größten Arroganz die persönliche, subjektive Meinung auf. Daher der
große Wert der Publizität, des Journalismus und des Rezensententums. "Das
Druckenlassen schon an und für sich selbst ist ein Verdienst." Daraus entstehen
die Gelehrtenzeitungen, in denen die Schriftsteller "über das Denken der ersten
wiederum denken, und ihr Urteil abgeben; die Hauptmaxime aber bei diesem
Geschäft wird diese werden, daß man an allem etwas auszusetzen finde, und
jedes Ding besser wisse, als der erste Autor". So "werden die Bücher lediglich


Richard Wagner und die Philosophie des deutschen Idealismus
1. Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters.
2. Wesen und weltgeschichtliche Aufgabe des deutschen Volkes.
3. Über Geist und Buchstabe in der Kunst.
4. Die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechtes.

Überall wird sich wiederum der Hinweis auf das Eigenartige und Selb¬
ständige der Wagnerschen Auffassungen an den Nachweis der geschichtlichen
Einflüsse schließen müssen.

1. Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters.

Im Anschluß an Kants transzendentalethische Grundlegung der Geschichts¬
philosophie in den Abhandlungen: „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht" (1784) und „Mutmaßlicher Anfang der Weltgeschichte"
(1786) hat Fichte fünf Stufen der Entwicklung des Menschengeschlechtes auf¬
gestellt. Die Gegenwart, im Jahre 1804, befand sich auf der dritten Stufe,
„dem Stand der vollendeten Sündhaftigkeit". In der fünften Vorlesung wird
diese Epoche geschildert: „Als erklärter Gegner alles blinden Vernunftinstinktes
und aller Autorität stellte dieses dritte Zeitalter die Maxime auf: schlechthin
nichts gelten zu lassen, als das, was es begreife — es versteht sich unmittelbar,
mit dem schon vorhandenen und ohne alle seine Mühe und Arbeit ihm an-
geerbten gesunden Menschenverstande" So wird „die Vernunft aufgehoben
und ausgetilgt", und es „bleibt nichts übrig, als das bloße individuelle,
persönliche Leben" — „nichts, denn der bloße, reine und nackte Egoismus".
„Die Mittel für die Erhaltung und das Wohlsein des persönlichen Lebens
können allein durch die Erfahrung gefunden werden" — „und daher kommt
die Lobpreisung der Erfahrung für die einzige Quelle des Wissens, als ein
charakteristischer Grundzug eines solchen Zeitalters". „Die bleibende Grund¬
eigenschaft und der Charakter eines solchen Zeitalters ist der, daß jedes echte
Produkt desselben alles, was es denkt und tut, nur für sich und seinen eigenen
Nutzen tue." Ein solches „ideenloses" Zeitalter ist schwach und kraftlos. Nichts
erfaßt es ganz und aus der Tiefe. In den Wissenschaften ist es oberflächlich
und zerfahren. „Ein Meisterfund für die Darstellung eines solchen Zeitalters
wäre es, wenn es darauf geriete, die Wissenschaften nach der Folge der Buch¬
staben im Alphabet vorzutragen." Ein wesentlicher Grundsatz dieses Zeitalters ist es,
daß man dem Leser nichts zu denken gebe, noch desselben eigene Tätigkeit auf irgend¬
eine Weise aufrege. Bestimmte Endurteile wird dies Zeitalter nicht fällen, dagegen
tritt mit der größten Arroganz die persönliche, subjektive Meinung auf. Daher der
große Wert der Publizität, des Journalismus und des Rezensententums. „Das
Druckenlassen schon an und für sich selbst ist ein Verdienst." Daraus entstehen
die Gelehrtenzeitungen, in denen die Schriftsteller „über das Denken der ersten
wiederum denken, und ihr Urteil abgeben; die Hauptmaxime aber bei diesem
Geschäft wird diese werden, daß man an allem etwas auszusetzen finde, und
jedes Ding besser wisse, als der erste Autor". So „werden die Bücher lediglich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0261" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326431"/>
          <fw type="header" place="top"> Richard Wagner und die Philosophie des deutschen Idealismus</fw><lb/>
          <list>
            <item> 1. Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters.</item>
            <item> 2. Wesen und weltgeschichtliche Aufgabe des deutschen Volkes.</item>
            <item> 3. Über Geist und Buchstabe in der Kunst.</item>
            <item> 4. Die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechtes.</item>
          </list><lb/>
          <p xml:id="ID_1229"> Überall wird sich wiederum der Hinweis auf das Eigenartige und Selb¬<lb/>
ständige der Wagnerschen Auffassungen an den Nachweis der geschichtlichen<lb/>
Einflüsse schließen müssen.</p><lb/>
          <div n="2">
            <head> 1. Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1230" next="#ID_1231"> Im Anschluß an Kants transzendentalethische Grundlegung der Geschichts¬<lb/>
philosophie in den Abhandlungen: &#x201E;Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in<lb/>
weltbürgerlicher Absicht" (1784) und &#x201E;Mutmaßlicher Anfang der Weltgeschichte"<lb/>
(1786) hat Fichte fünf Stufen der Entwicklung des Menschengeschlechtes auf¬<lb/>
gestellt. Die Gegenwart, im Jahre 1804, befand sich auf der dritten Stufe,<lb/>
&#x201E;dem Stand der vollendeten Sündhaftigkeit". In der fünften Vorlesung wird<lb/>
diese Epoche geschildert: &#x201E;Als erklärter Gegner alles blinden Vernunftinstinktes<lb/>
und aller Autorität stellte dieses dritte Zeitalter die Maxime auf: schlechthin<lb/>
nichts gelten zu lassen, als das, was es begreife &#x2014; es versteht sich unmittelbar,<lb/>
mit dem schon vorhandenen und ohne alle seine Mühe und Arbeit ihm an-<lb/>
geerbten gesunden Menschenverstande" So wird &#x201E;die Vernunft aufgehoben<lb/>
und ausgetilgt", und es &#x201E;bleibt nichts übrig, als das bloße individuelle,<lb/>
persönliche Leben" &#x2014; &#x201E;nichts, denn der bloße, reine und nackte Egoismus".<lb/>
&#x201E;Die Mittel für die Erhaltung und das Wohlsein des persönlichen Lebens<lb/>
können allein durch die Erfahrung gefunden werden" &#x2014; &#x201E;und daher kommt<lb/>
die Lobpreisung der Erfahrung für die einzige Quelle des Wissens, als ein<lb/>
charakteristischer Grundzug eines solchen Zeitalters". &#x201E;Die bleibende Grund¬<lb/>
eigenschaft und der Charakter eines solchen Zeitalters ist der, daß jedes echte<lb/>
Produkt desselben alles, was es denkt und tut, nur für sich und seinen eigenen<lb/>
Nutzen tue." Ein solches &#x201E;ideenloses" Zeitalter ist schwach und kraftlos. Nichts<lb/>
erfaßt es ganz und aus der Tiefe. In den Wissenschaften ist es oberflächlich<lb/>
und zerfahren. &#x201E;Ein Meisterfund für die Darstellung eines solchen Zeitalters<lb/>
wäre es, wenn es darauf geriete, die Wissenschaften nach der Folge der Buch¬<lb/>
staben im Alphabet vorzutragen." Ein wesentlicher Grundsatz dieses Zeitalters ist es,<lb/>
daß man dem Leser nichts zu denken gebe, noch desselben eigene Tätigkeit auf irgend¬<lb/>
eine Weise aufrege. Bestimmte Endurteile wird dies Zeitalter nicht fällen, dagegen<lb/>
tritt mit der größten Arroganz die persönliche, subjektive Meinung auf. Daher der<lb/>
große Wert der Publizität, des Journalismus und des Rezensententums. &#x201E;Das<lb/>
Druckenlassen schon an und für sich selbst ist ein Verdienst." Daraus entstehen<lb/>
die Gelehrtenzeitungen, in denen die Schriftsteller &#x201E;über das Denken der ersten<lb/>
wiederum denken, und ihr Urteil abgeben; die Hauptmaxime aber bei diesem<lb/>
Geschäft wird diese werden, daß man an allem etwas auszusetzen finde, und<lb/>
jedes Ding besser wisse, als der erste Autor".  So &#x201E;werden die Bücher lediglich</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0261] Richard Wagner und die Philosophie des deutschen Idealismus 1. Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. 2. Wesen und weltgeschichtliche Aufgabe des deutschen Volkes. 3. Über Geist und Buchstabe in der Kunst. 4. Die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechtes. Überall wird sich wiederum der Hinweis auf das Eigenartige und Selb¬ ständige der Wagnerschen Auffassungen an den Nachweis der geschichtlichen Einflüsse schließen müssen. 1. Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Im Anschluß an Kants transzendentalethische Grundlegung der Geschichts¬ philosophie in den Abhandlungen: „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784) und „Mutmaßlicher Anfang der Weltgeschichte" (1786) hat Fichte fünf Stufen der Entwicklung des Menschengeschlechtes auf¬ gestellt. Die Gegenwart, im Jahre 1804, befand sich auf der dritten Stufe, „dem Stand der vollendeten Sündhaftigkeit". In der fünften Vorlesung wird diese Epoche geschildert: „Als erklärter Gegner alles blinden Vernunftinstinktes und aller Autorität stellte dieses dritte Zeitalter die Maxime auf: schlechthin nichts gelten zu lassen, als das, was es begreife — es versteht sich unmittelbar, mit dem schon vorhandenen und ohne alle seine Mühe und Arbeit ihm an- geerbten gesunden Menschenverstande" So wird „die Vernunft aufgehoben und ausgetilgt", und es „bleibt nichts übrig, als das bloße individuelle, persönliche Leben" — „nichts, denn der bloße, reine und nackte Egoismus". „Die Mittel für die Erhaltung und das Wohlsein des persönlichen Lebens können allein durch die Erfahrung gefunden werden" — „und daher kommt die Lobpreisung der Erfahrung für die einzige Quelle des Wissens, als ein charakteristischer Grundzug eines solchen Zeitalters". „Die bleibende Grund¬ eigenschaft und der Charakter eines solchen Zeitalters ist der, daß jedes echte Produkt desselben alles, was es denkt und tut, nur für sich und seinen eigenen Nutzen tue." Ein solches „ideenloses" Zeitalter ist schwach und kraftlos. Nichts erfaßt es ganz und aus der Tiefe. In den Wissenschaften ist es oberflächlich und zerfahren. „Ein Meisterfund für die Darstellung eines solchen Zeitalters wäre es, wenn es darauf geriete, die Wissenschaften nach der Folge der Buch¬ staben im Alphabet vorzutragen." Ein wesentlicher Grundsatz dieses Zeitalters ist es, daß man dem Leser nichts zu denken gebe, noch desselben eigene Tätigkeit auf irgend¬ eine Weise aufrege. Bestimmte Endurteile wird dies Zeitalter nicht fällen, dagegen tritt mit der größten Arroganz die persönliche, subjektive Meinung auf. Daher der große Wert der Publizität, des Journalismus und des Rezensententums. „Das Druckenlassen schon an und für sich selbst ist ein Verdienst." Daraus entstehen die Gelehrtenzeitungen, in denen die Schriftsteller „über das Denken der ersten wiederum denken, und ihr Urteil abgeben; die Hauptmaxime aber bei diesem Geschäft wird diese werden, daß man an allem etwas auszusetzen finde, und jedes Ding besser wisse, als der erste Autor". So „werden die Bücher lediglich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/261
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/261>, abgerufen am 27.12.2024.