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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

geblieben, daß viele, die dem Jugendwandern
ohnehin nicht gewogen sind, sich auf Blühers
Beobachtungen berufen haben, und das leidige:
semper alicmicl Kssret wird uns vielleicht noch
allerlei Schaden tun. Darum mögen alle,
die es ehrlich mit dem Wandern meinen, sich
überzeugen, daß Blühers "erotisches Phä¬
nomen" eine Wortspielerei ist.

Traugott Friedemann
Aunst
Anton Genewein: "Vom Romanischen
bis zum Empire," Eine Wanderung durch
die Kunstformen aller Stile. Zwei Bände
mit 947 Abbildungen. Leipzig, F. Hirt und
Sohn. Geb. 9M.

Im Vorwort verspricht der Verfasser, "das
konstruktive Moment" -- gemeint, aber nir¬
gends gesagt, ist: bei der Architektur -- durch¬
aus nur dort zu berücksichtigen, "wo es das
Verständnis der Stilformen (gemeint ist: der
Ornamentik) erfordere. . ., da deren genaue
und gründliche Kenntnis erfahrungsgemäß
im Vordergrunde des allgemeinen Interesses
steht". Gewiß, wenn man die Kunst aus
der Perspektive des technischen Hochschülers
betrachtet. Und für diesen ist das Buch auch
als "kurzgefaßtes übersichtliches Lehrbuch"
geschrieben; daneben auch für den "großen
Kreis von gebildeten Laien". Man kennt
diese gebildeten Laien, die von der Kunst
nichts ahnen, als daß es sogenannte "Stile"
gegeben habe, und die sich bereits als Kunst¬
kenner fühlen, wenn sie Gotisch und Romanisch
unterscheiden können, d. h. wissen, daß im
romanischen Stil "alles rundbogig" und im
gotischen "alles spitzbogig" ist. Man glaubte
freilich, daß diese Laien, deren Anmaßung,
mit der Kunst Brüderschaft ausgemacht zu
haben, ein schlimmes Hindernis für eine
wirkliche Durchdringung des Volkes mit
künstlerischem Empfinden ist, daß sie allmählich
der Vergangenheit anzugehören begannen.
Allein Professor Genewein kommt und be¬
lehrt uns, daß es doch noch eine Menge
solcher Laien geben müsse; denn für sie --
und für all die ähnlich unbelehrbarer Archi¬
tekten und Maurermeister, welche manche
Technische Hochschulen entlassen -- und ganz
ausdrücklich sür sie ist das Buch gemacht.
Für sie der Schlußsatz des Ganzen, der uns

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mit der erfreulichen Versicherung entläßt, daß
die "Wiederholung der einzelnen Stile, vom
Romanischen angefangen bis zum Empire,
bis zum heutigen Tage andauere". Man
merke es: bis zum heutigen Tage. Für
Genewein und seine Gemeinde existiert also
einfach unsere ganze Entwicklung seit 1895
nicht. Das ist auch ein Standpunkt.

Es ist natürlich nur eine Konsequenz dieses
Standpunktes, daß die Abbildungen bis auf
wenige (meist der französischen Renaissance
angehörenden) Ausnahmen nicht nach der
Natur, sondern nach "Wandtafeln" hergestellt
sind (bezeichnend für die Art, in der angehende
Baumeister die Kunstwerke der Vergangenheit
kennen lernen, ist das unnachahmlich Sche¬
matische dieser Unterrichtstafeln); daß die
sogenannten Stile nach Ornamentkategorien
(statt nach ihrer tektonischen Entwicklung)
gelehrt werden: Gesimse, Decken, Dächer,
Säulenfüße, Hermen, Baluster, Grundrisse,
das Ornament usf. heißt eS da durchein¬
ander; und in jeder Kategorie werden zwei
bis vier "Stile" jedesmal abgehandelt, meist
mit ein Paar Zeilen. Daß bei dem absicht¬
lichen Verzicht auf die konstruktiven Elemente
sonderbare Sachen mit unterlaufen, versteht
sich. Z. B. I, 33 behält die Gotik die roma¬
nischen Lisenen nur am Anfang bei, später
tritt der Strebepfeiler an deren Stelle (!)
(gotische "Lisenen" gehören erst der Backstein¬
architektur des vierzehnten und fünfzehnten
Jahrhunderts an!). Gewölberippen treten
als romanische Erfindung auf (I, 34), weil
der Verfasser in der Eile ja nicht auf die
Unterschiede zwischen französischer Frühgotik
und deutschem Qbergangsstil einzugehen
braucht. Daß er aber auch auf seinem
eigensten Gebiet kein Gefühl für das Lebendige
des Ornaments und seiner Entwicklung hat,
beweist das Versagen gegenüber so reifen und
prachtvollenGebilden wie dem barocken Alanthus
(it, 264) und vollends dem Rollwerk und
Knorpelstil (II, 276, 277), von denen er das
erste nicht einmal dem Namen nach kennt!
Daß "Kapitäler" (II, 184) nicht der Plumlis
von Kapital ist, sondern Kapitelle bedeuten
soll, erfährt man nur aus den Abbildungen.

Schließlich könnte das Werk mittels seiner
947 Abbildungen wenigstens zur raschen
Orientierung über bestimmte Stilmerkmale

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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geblieben, daß viele, die dem Jugendwandern
ohnehin nicht gewogen sind, sich auf Blühers
Beobachtungen berufen haben, und das leidige:
semper alicmicl Kssret wird uns vielleicht noch
allerlei Schaden tun. Darum mögen alle,
die es ehrlich mit dem Wandern meinen, sich
überzeugen, daß Blühers „erotisches Phä¬
nomen" eine Wortspielerei ist.

Traugott Friedemann
Aunst
Anton Genewein: „Vom Romanischen
bis zum Empire," Eine Wanderung durch
die Kunstformen aller Stile. Zwei Bände
mit 947 Abbildungen. Leipzig, F. Hirt und
Sohn. Geb. 9M.

Im Vorwort verspricht der Verfasser, „das
konstruktive Moment" — gemeint, aber nir¬
gends gesagt, ist: bei der Architektur — durch¬
aus nur dort zu berücksichtigen, „wo es das
Verständnis der Stilformen (gemeint ist: der
Ornamentik) erfordere. . ., da deren genaue
und gründliche Kenntnis erfahrungsgemäß
im Vordergrunde des allgemeinen Interesses
steht". Gewiß, wenn man die Kunst aus
der Perspektive des technischen Hochschülers
betrachtet. Und für diesen ist das Buch auch
als „kurzgefaßtes übersichtliches Lehrbuch"
geschrieben; daneben auch für den „großen
Kreis von gebildeten Laien". Man kennt
diese gebildeten Laien, die von der Kunst
nichts ahnen, als daß es sogenannte „Stile"
gegeben habe, und die sich bereits als Kunst¬
kenner fühlen, wenn sie Gotisch und Romanisch
unterscheiden können, d. h. wissen, daß im
romanischen Stil „alles rundbogig" und im
gotischen „alles spitzbogig" ist. Man glaubte
freilich, daß diese Laien, deren Anmaßung,
mit der Kunst Brüderschaft ausgemacht zu
haben, ein schlimmes Hindernis für eine
wirkliche Durchdringung des Volkes mit
künstlerischem Empfinden ist, daß sie allmählich
der Vergangenheit anzugehören begannen.
Allein Professor Genewein kommt und be¬
lehrt uns, daß es doch noch eine Menge
solcher Laien geben müsse; denn für sie —
und für all die ähnlich unbelehrbarer Archi¬
tekten und Maurermeister, welche manche
Technische Hochschulen entlassen — und ganz
ausdrücklich sür sie ist das Buch gemacht.
Für sie der Schlußsatz des Ganzen, der uns

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mit der erfreulichen Versicherung entläßt, daß
die „Wiederholung der einzelnen Stile, vom
Romanischen angefangen bis zum Empire,
bis zum heutigen Tage andauere". Man
merke es: bis zum heutigen Tage. Für
Genewein und seine Gemeinde existiert also
einfach unsere ganze Entwicklung seit 1895
nicht. Das ist auch ein Standpunkt.

Es ist natürlich nur eine Konsequenz dieses
Standpunktes, daß die Abbildungen bis auf
wenige (meist der französischen Renaissance
angehörenden) Ausnahmen nicht nach der
Natur, sondern nach „Wandtafeln" hergestellt
sind (bezeichnend für die Art, in der angehende
Baumeister die Kunstwerke der Vergangenheit
kennen lernen, ist das unnachahmlich Sche¬
matische dieser Unterrichtstafeln); daß die
sogenannten Stile nach Ornamentkategorien
(statt nach ihrer tektonischen Entwicklung)
gelehrt werden: Gesimse, Decken, Dächer,
Säulenfüße, Hermen, Baluster, Grundrisse,
das Ornament usf. heißt eS da durchein¬
ander; und in jeder Kategorie werden zwei
bis vier „Stile" jedesmal abgehandelt, meist
mit ein Paar Zeilen. Daß bei dem absicht¬
lichen Verzicht auf die konstruktiven Elemente
sonderbare Sachen mit unterlaufen, versteht
sich. Z. B. I, 33 behält die Gotik die roma¬
nischen Lisenen nur am Anfang bei, später
tritt der Strebepfeiler an deren Stelle (!)
(gotische „Lisenen" gehören erst der Backstein¬
architektur des vierzehnten und fünfzehnten
Jahrhunderts an!). Gewölberippen treten
als romanische Erfindung auf (I, 34), weil
der Verfasser in der Eile ja nicht auf die
Unterschiede zwischen französischer Frühgotik
und deutschem Qbergangsstil einzugehen
braucht. Daß er aber auch auf seinem
eigensten Gebiet kein Gefühl für das Lebendige
des Ornaments und seiner Entwicklung hat,
beweist das Versagen gegenüber so reifen und
prachtvollenGebilden wie dem barocken Alanthus
(it, 264) und vollends dem Rollwerk und
Knorpelstil (II, 276, 277), von denen er das
erste nicht einmal dem Namen nach kennt!
Daß „Kapitäler" (II, 184) nicht der Plumlis
von Kapital ist, sondern Kapitelle bedeuten
soll, erfährt man nur aus den Abbildungen.

Schließlich könnte das Werk mittels seiner
947 Abbildungen wenigstens zur raschen
Orientierung über bestimmte Stilmerkmale

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[0250] Maßgebliches und Unmaßgebliches geblieben, daß viele, die dem Jugendwandern ohnehin nicht gewogen sind, sich auf Blühers Beobachtungen berufen haben, und das leidige: semper alicmicl Kssret wird uns vielleicht noch allerlei Schaden tun. Darum mögen alle, die es ehrlich mit dem Wandern meinen, sich überzeugen, daß Blühers „erotisches Phä¬ nomen" eine Wortspielerei ist. Traugott Friedemann Aunst Anton Genewein: „Vom Romanischen bis zum Empire," Eine Wanderung durch die Kunstformen aller Stile. Zwei Bände mit 947 Abbildungen. Leipzig, F. Hirt und Sohn. Geb. 9M. Im Vorwort verspricht der Verfasser, „das konstruktive Moment" — gemeint, aber nir¬ gends gesagt, ist: bei der Architektur — durch¬ aus nur dort zu berücksichtigen, „wo es das Verständnis der Stilformen (gemeint ist: der Ornamentik) erfordere. . ., da deren genaue und gründliche Kenntnis erfahrungsgemäß im Vordergrunde des allgemeinen Interesses steht". Gewiß, wenn man die Kunst aus der Perspektive des technischen Hochschülers betrachtet. Und für diesen ist das Buch auch als „kurzgefaßtes übersichtliches Lehrbuch" geschrieben; daneben auch für den „großen Kreis von gebildeten Laien". Man kennt diese gebildeten Laien, die von der Kunst nichts ahnen, als daß es sogenannte „Stile" gegeben habe, und die sich bereits als Kunst¬ kenner fühlen, wenn sie Gotisch und Romanisch unterscheiden können, d. h. wissen, daß im romanischen Stil „alles rundbogig" und im gotischen „alles spitzbogig" ist. Man glaubte freilich, daß diese Laien, deren Anmaßung, mit der Kunst Brüderschaft ausgemacht zu haben, ein schlimmes Hindernis für eine wirkliche Durchdringung des Volkes mit künstlerischem Empfinden ist, daß sie allmählich der Vergangenheit anzugehören begannen. Allein Professor Genewein kommt und be¬ lehrt uns, daß es doch noch eine Menge solcher Laien geben müsse; denn für sie — und für all die ähnlich unbelehrbarer Archi¬ tekten und Maurermeister, welche manche Technische Hochschulen entlassen — und ganz ausdrücklich sür sie ist das Buch gemacht. Für sie der Schlußsatz des Ganzen, der uns mit der erfreulichen Versicherung entläßt, daß die „Wiederholung der einzelnen Stile, vom Romanischen angefangen bis zum Empire, bis zum heutigen Tage andauere". Man merke es: bis zum heutigen Tage. Für Genewein und seine Gemeinde existiert also einfach unsere ganze Entwicklung seit 1895 nicht. Das ist auch ein Standpunkt. Es ist natürlich nur eine Konsequenz dieses Standpunktes, daß die Abbildungen bis auf wenige (meist der französischen Renaissance angehörenden) Ausnahmen nicht nach der Natur, sondern nach „Wandtafeln" hergestellt sind (bezeichnend für die Art, in der angehende Baumeister die Kunstwerke der Vergangenheit kennen lernen, ist das unnachahmlich Sche¬ matische dieser Unterrichtstafeln); daß die sogenannten Stile nach Ornamentkategorien (statt nach ihrer tektonischen Entwicklung) gelehrt werden: Gesimse, Decken, Dächer, Säulenfüße, Hermen, Baluster, Grundrisse, das Ornament usf. heißt eS da durchein¬ ander; und in jeder Kategorie werden zwei bis vier „Stile" jedesmal abgehandelt, meist mit ein Paar Zeilen. Daß bei dem absicht¬ lichen Verzicht auf die konstruktiven Elemente sonderbare Sachen mit unterlaufen, versteht sich. Z. B. I, 33 behält die Gotik die roma¬ nischen Lisenen nur am Anfang bei, später tritt der Strebepfeiler an deren Stelle (!) (gotische „Lisenen" gehören erst der Backstein¬ architektur des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts an!). Gewölberippen treten als romanische Erfindung auf (I, 34), weil der Verfasser in der Eile ja nicht auf die Unterschiede zwischen französischer Frühgotik und deutschem Qbergangsstil einzugehen braucht. Daß er aber auch auf seinem eigensten Gebiet kein Gefühl für das Lebendige des Ornaments und seiner Entwicklung hat, beweist das Versagen gegenüber so reifen und prachtvollenGebilden wie dem barocken Alanthus (it, 264) und vollends dem Rollwerk und Knorpelstil (II, 276, 277), von denen er das erste nicht einmal dem Namen nach kennt! Daß „Kapitäler" (II, 184) nicht der Plumlis von Kapital ist, sondern Kapitelle bedeuten soll, erfährt man nur aus den Abbildungen. Schließlich könnte das Werk mittels seiner 947 Abbildungen wenigstens zur raschen Orientierung über bestimmte Stilmerkmale

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/250>, abgerufen am 26.12.2024.