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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Line Leihbibliothek vor fünfzig Jahren

des Local Government Board, nachdrücklich eine verstärkte Anwendung dieser
Maßnahme der Jugendfürsorge ohne zu befürchten, hierdurch dem Lande in
erhöhtem Maße tüchtigen Nachwuchs zu entziehen und zu der Verschiebung des
Schwerpunktes des "Oreater Lritain" gen Westen, nach der großen aufstreben¬
den Dominion ok Lanaäa beizutragen.

Den nationalen Bedenken gegenüber der Kinderauswanderung wird entgegen¬
gehalten, daß die 2000 bis 3000 Kinder, die alljährlich nach Kanada gebracht
werden, doch einen zu geringen Bruchteil der heranwachsenden Volksschichten
bedeuten, um zugunsten patriotischer Engherzigkeit auf die menschlich wertvollen
Erfolge dieser Art von Jugendfürsorge zu verzichten.




(Line Leihbibliothek vor fünfzig Jahren
Dr. Julius volge von in

cum der Deutsche ebenso eifrig Bücher kaufte wie er Bücher schreibt,
so wäre gar manchem geholfen, dem Verfasser und Verleger nicht
minder als schließlich dem Leser selbst. Leider aber glaubt der
Deutsche im allgemeinen sein Geld noch immer besser angelegt
zu haben, wenn er es für den Abendschoppen oder die Kegel¬
partie ausgibt, als wenn er sich dafür ein gutes Buch zu eigen macht. Sein
Lesebedürfnis befriedigt er lieber in den Leihbibliotheken. So ist es jetzt, und
so war es früher. Und da Leihbibliotheken sich mit Leichtigkeit dem Geschmack
des lesenden Publikums anzupassen vermögen, so können sie sehr wohl nach
ihrem Bestand und ihrer Benutzung als Gradmesser des literarischen Bedürfnisses
eines gewissen Zeitabschnitts gelten.

Vor mir liegt nun ein dünnes, unscheinbares Heft: Verzeichnis der Richel-
schen Leihbibliothek in Ilmenau. Die unansehnlichen Bände dieser Bücherei
stehen jetzt verborgen und vergessen auf einem Holzboden neben allerhand Ge-
rümpel, und ich entdeckte sie vor einigen Jahren, als ich für mein Buch über
Goethe und Ilmenau alten Schriften aus der klassischen Zeit der kleinen Berg¬
stadt nachstöberte. Seitdem die Richelsche Buchhandlung gegen das Jahr 1860
aufgegeben worden ist, hat der Bestand der Bibliothek keinerlei Änderung er¬
fahren, und während draußen im Gebiet der deutschen Literatur eine Ent¬
wicklungsperiode auf die andere folgte, blieb hier ein bestimmter Zeitabschnitt
unseres geistigen Lebens gleichsam in der Erstarrung bestehen, in seiner Eigen¬
art dem Auge des Forschers noch deutlich erkennbar.

Es handelt sich um die Zeit etwa zwischen 1830 und 1860, als der letzte
Ausklang der jüngeren Romantik verhallte, ein neuer Sturm und Drang ein-


Line Leihbibliothek vor fünfzig Jahren

des Local Government Board, nachdrücklich eine verstärkte Anwendung dieser
Maßnahme der Jugendfürsorge ohne zu befürchten, hierdurch dem Lande in
erhöhtem Maße tüchtigen Nachwuchs zu entziehen und zu der Verschiebung des
Schwerpunktes des „Oreater Lritain" gen Westen, nach der großen aufstreben¬
den Dominion ok Lanaäa beizutragen.

Den nationalen Bedenken gegenüber der Kinderauswanderung wird entgegen¬
gehalten, daß die 2000 bis 3000 Kinder, die alljährlich nach Kanada gebracht
werden, doch einen zu geringen Bruchteil der heranwachsenden Volksschichten
bedeuten, um zugunsten patriotischer Engherzigkeit auf die menschlich wertvollen
Erfolge dieser Art von Jugendfürsorge zu verzichten.




(Line Leihbibliothek vor fünfzig Jahren
Dr. Julius volge von in

cum der Deutsche ebenso eifrig Bücher kaufte wie er Bücher schreibt,
so wäre gar manchem geholfen, dem Verfasser und Verleger nicht
minder als schließlich dem Leser selbst. Leider aber glaubt der
Deutsche im allgemeinen sein Geld noch immer besser angelegt
zu haben, wenn er es für den Abendschoppen oder die Kegel¬
partie ausgibt, als wenn er sich dafür ein gutes Buch zu eigen macht. Sein
Lesebedürfnis befriedigt er lieber in den Leihbibliotheken. So ist es jetzt, und
so war es früher. Und da Leihbibliotheken sich mit Leichtigkeit dem Geschmack
des lesenden Publikums anzupassen vermögen, so können sie sehr wohl nach
ihrem Bestand und ihrer Benutzung als Gradmesser des literarischen Bedürfnisses
eines gewissen Zeitabschnitts gelten.

Vor mir liegt nun ein dünnes, unscheinbares Heft: Verzeichnis der Richel-
schen Leihbibliothek in Ilmenau. Die unansehnlichen Bände dieser Bücherei
stehen jetzt verborgen und vergessen auf einem Holzboden neben allerhand Ge-
rümpel, und ich entdeckte sie vor einigen Jahren, als ich für mein Buch über
Goethe und Ilmenau alten Schriften aus der klassischen Zeit der kleinen Berg¬
stadt nachstöberte. Seitdem die Richelsche Buchhandlung gegen das Jahr 1860
aufgegeben worden ist, hat der Bestand der Bibliothek keinerlei Änderung er¬
fahren, und während draußen im Gebiet der deutschen Literatur eine Ent¬
wicklungsperiode auf die andere folgte, blieb hier ein bestimmter Zeitabschnitt
unseres geistigen Lebens gleichsam in der Erstarrung bestehen, in seiner Eigen¬
art dem Auge des Forschers noch deutlich erkennbar.

Es handelt sich um die Zeit etwa zwischen 1830 und 1860, als der letzte
Ausklang der jüngeren Romantik verhallte, ein neuer Sturm und Drang ein-


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[0222] Line Leihbibliothek vor fünfzig Jahren des Local Government Board, nachdrücklich eine verstärkte Anwendung dieser Maßnahme der Jugendfürsorge ohne zu befürchten, hierdurch dem Lande in erhöhtem Maße tüchtigen Nachwuchs zu entziehen und zu der Verschiebung des Schwerpunktes des „Oreater Lritain" gen Westen, nach der großen aufstreben¬ den Dominion ok Lanaäa beizutragen. Den nationalen Bedenken gegenüber der Kinderauswanderung wird entgegen¬ gehalten, daß die 2000 bis 3000 Kinder, die alljährlich nach Kanada gebracht werden, doch einen zu geringen Bruchteil der heranwachsenden Volksschichten bedeuten, um zugunsten patriotischer Engherzigkeit auf die menschlich wertvollen Erfolge dieser Art von Jugendfürsorge zu verzichten. (Line Leihbibliothek vor fünfzig Jahren Dr. Julius volge von in cum der Deutsche ebenso eifrig Bücher kaufte wie er Bücher schreibt, so wäre gar manchem geholfen, dem Verfasser und Verleger nicht minder als schließlich dem Leser selbst. Leider aber glaubt der Deutsche im allgemeinen sein Geld noch immer besser angelegt zu haben, wenn er es für den Abendschoppen oder die Kegel¬ partie ausgibt, als wenn er sich dafür ein gutes Buch zu eigen macht. Sein Lesebedürfnis befriedigt er lieber in den Leihbibliotheken. So ist es jetzt, und so war es früher. Und da Leihbibliotheken sich mit Leichtigkeit dem Geschmack des lesenden Publikums anzupassen vermögen, so können sie sehr wohl nach ihrem Bestand und ihrer Benutzung als Gradmesser des literarischen Bedürfnisses eines gewissen Zeitabschnitts gelten. Vor mir liegt nun ein dünnes, unscheinbares Heft: Verzeichnis der Richel- schen Leihbibliothek in Ilmenau. Die unansehnlichen Bände dieser Bücherei stehen jetzt verborgen und vergessen auf einem Holzboden neben allerhand Ge- rümpel, und ich entdeckte sie vor einigen Jahren, als ich für mein Buch über Goethe und Ilmenau alten Schriften aus der klassischen Zeit der kleinen Berg¬ stadt nachstöberte. Seitdem die Richelsche Buchhandlung gegen das Jahr 1860 aufgegeben worden ist, hat der Bestand der Bibliothek keinerlei Änderung er¬ fahren, und während draußen im Gebiet der deutschen Literatur eine Ent¬ wicklungsperiode auf die andere folgte, blieb hier ein bestimmter Zeitabschnitt unseres geistigen Lebens gleichsam in der Erstarrung bestehen, in seiner Eigen¬ art dem Auge des Forschers noch deutlich erkennbar. Es handelt sich um die Zeit etwa zwischen 1830 und 1860, als der letzte Ausklang der jüngeren Romantik verhallte, ein neuer Sturm und Drang ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/222>, abgerufen am 26.12.2024.