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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Das werdende Albanien

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So darf man wohl vertrauen, daß auch Montenegro seine schwere Enttäuschung
über den ihm aufgenötigten Verzicht auf Skutari überwinden wird.

Wird denn aber nun wirklich der neue Staat ein lebensfähiges Gebilde
sein? Das ist eine Frage, deren sichere Beantwortung erst die Zukunft bringen
wird. Wenn aber schon jetzt aus der bisherigen Geschichte und Art Albaniens
Schlüsse auf die Aussichtslosigkeit dieses Experiments gezogen werden, so läßt
sich dem mancherlei entgegenhalten. Auch dem bisherigen Albanien -- richtiger
gesagt, den von Albanesen bewohnten Teilen der Wilajets Skutari, Janina,
Üsküb und Monastir -- fehlte es nicht an kulturfähigen und der Kultur bereits
erschlossenen Gebieten. Aber diese Ansätze einer fortgeschrittenen Kultur kamen
nicht der albanischen Nation zugute, sondern schlössen sich an andere Jnteressen-
zentren an, die außerhalb des gemeinsamen Volkstums lagen, so daß auch Ver¬
bindungen mit anderen Kulturländern, z. B. mit Italien und den österreichisch¬
ungarischen Kronländern, wo sich zahlreiche Kolonien der intelligentesten und
entwicklungsfähigsten Köpfe Albaniens bildeten, für das Heimatland unwirksam
blieben. Wenn aber diese bereits vorhandenen geistig und wirtschaftlich reg¬
samen Elemente durch die Vereinigung aller Gebietsteile Albaniens ein Feld
finden, wo sie unmittelbar für ihre Heimat wirken und sich betätigen können,
so ist nicht einzusehen, warum sich nicht eine kluge und glückliche Regierung finden
soll, die mit dieser Hilfe und auf diesen Grundlagen und -- man darf hinzufügen --
mit entsprechender Geduld, Ruhe und Zähigkeit die politische Erziehung ihres
Volkes in die Hand zu nehmen vermag. Das überstürzte Zurechtzimmern
eines allermodernsten Staatsgerüstes mit allerhand unberechtigten Voraus¬
setzungen und Erwartungen würde allerdings Rückschläge und peinliche Ein-
drücke bringen, aber das wäre kein Grund, den Versuch zu unterlassen, dieses
Volk, in dem noch soviel unentwickelte Tüchtigkeit, ein so vortrefflicher sitt¬
licher Kern schlummert, einer neuen, gesunden und stetigen Entwicklung zu¬
zuführen.




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Das werdende Albanien

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So darf man wohl vertrauen, daß auch Montenegro seine schwere Enttäuschung
über den ihm aufgenötigten Verzicht auf Skutari überwinden wird.

Wird denn aber nun wirklich der neue Staat ein lebensfähiges Gebilde
sein? Das ist eine Frage, deren sichere Beantwortung erst die Zukunft bringen
wird. Wenn aber schon jetzt aus der bisherigen Geschichte und Art Albaniens
Schlüsse auf die Aussichtslosigkeit dieses Experiments gezogen werden, so läßt
sich dem mancherlei entgegenhalten. Auch dem bisherigen Albanien — richtiger
gesagt, den von Albanesen bewohnten Teilen der Wilajets Skutari, Janina,
Üsküb und Monastir — fehlte es nicht an kulturfähigen und der Kultur bereits
erschlossenen Gebieten. Aber diese Ansätze einer fortgeschrittenen Kultur kamen
nicht der albanischen Nation zugute, sondern schlössen sich an andere Jnteressen-
zentren an, die außerhalb des gemeinsamen Volkstums lagen, so daß auch Ver¬
bindungen mit anderen Kulturländern, z. B. mit Italien und den österreichisch¬
ungarischen Kronländern, wo sich zahlreiche Kolonien der intelligentesten und
entwicklungsfähigsten Köpfe Albaniens bildeten, für das Heimatland unwirksam
blieben. Wenn aber diese bereits vorhandenen geistig und wirtschaftlich reg¬
samen Elemente durch die Vereinigung aller Gebietsteile Albaniens ein Feld
finden, wo sie unmittelbar für ihre Heimat wirken und sich betätigen können,
so ist nicht einzusehen, warum sich nicht eine kluge und glückliche Regierung finden
soll, die mit dieser Hilfe und auf diesen Grundlagen und — man darf hinzufügen —
mit entsprechender Geduld, Ruhe und Zähigkeit die politische Erziehung ihres
Volkes in die Hand zu nehmen vermag. Das überstürzte Zurechtzimmern
eines allermodernsten Staatsgerüstes mit allerhand unberechtigten Voraus¬
setzungen und Erwartungen würde allerdings Rückschläge und peinliche Ein-
drücke bringen, aber das wäre kein Grund, den Versuch zu unterlassen, dieses
Volk, in dem noch soviel unentwickelte Tüchtigkeit, ein so vortrefflicher sitt¬
licher Kern schlummert, einer neuen, gesunden und stetigen Entwicklung zu¬
zuführen.




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[0072] Das werdende Albanien «0 So darf man wohl vertrauen, daß auch Montenegro seine schwere Enttäuschung über den ihm aufgenötigten Verzicht auf Skutari überwinden wird. Wird denn aber nun wirklich der neue Staat ein lebensfähiges Gebilde sein? Das ist eine Frage, deren sichere Beantwortung erst die Zukunft bringen wird. Wenn aber schon jetzt aus der bisherigen Geschichte und Art Albaniens Schlüsse auf die Aussichtslosigkeit dieses Experiments gezogen werden, so läßt sich dem mancherlei entgegenhalten. Auch dem bisherigen Albanien — richtiger gesagt, den von Albanesen bewohnten Teilen der Wilajets Skutari, Janina, Üsküb und Monastir — fehlte es nicht an kulturfähigen und der Kultur bereits erschlossenen Gebieten. Aber diese Ansätze einer fortgeschrittenen Kultur kamen nicht der albanischen Nation zugute, sondern schlössen sich an andere Jnteressen- zentren an, die außerhalb des gemeinsamen Volkstums lagen, so daß auch Ver¬ bindungen mit anderen Kulturländern, z. B. mit Italien und den österreichisch¬ ungarischen Kronländern, wo sich zahlreiche Kolonien der intelligentesten und entwicklungsfähigsten Köpfe Albaniens bildeten, für das Heimatland unwirksam blieben. Wenn aber diese bereits vorhandenen geistig und wirtschaftlich reg¬ samen Elemente durch die Vereinigung aller Gebietsteile Albaniens ein Feld finden, wo sie unmittelbar für ihre Heimat wirken und sich betätigen können, so ist nicht einzusehen, warum sich nicht eine kluge und glückliche Regierung finden soll, die mit dieser Hilfe und auf diesen Grundlagen und — man darf hinzufügen — mit entsprechender Geduld, Ruhe und Zähigkeit die politische Erziehung ihres Volkes in die Hand zu nehmen vermag. Das überstürzte Zurechtzimmern eines allermodernsten Staatsgerüstes mit allerhand unberechtigten Voraus¬ setzungen und Erwartungen würde allerdings Rückschläge und peinliche Ein- drücke bringen, aber das wäre kein Grund, den Versuch zu unterlassen, dieses Volk, in dem noch soviel unentwickelte Tüchtigkeit, ein so vortrefflicher sitt¬ licher Kern schlummert, einer neuen, gesunden und stetigen Entwicklung zu¬ zuführen. I

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/72>, abgerufen am 27.07.2024.