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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Das werdende Albanien
v w. von Massow onin

cum man heute über Balkanfragen spricht, muß man sich zunächst
immer gegenwärtig halten, daß man sich mit Dingen beschäftigt,
bei denen jeder neue Tag eine neue Überraschung bringen kann.
Von vornherein hat man sich also zu sagen, daß es ganz un¬
möglich ist, vorauszubestimmen, wie es kommen wird. Es ist
schon viel, wenn es gelingt, in dem Erkennen dessen, was kommen kann, nicht
allzuweit von der Wirklichkeit oder auch nur Wahrscheinlichkeit abzuirren. Diese
Erwägung könnte vielleicht als Mittel erscheinen, um von diesen Fragen über¬
haupt abzuschrecken, anderseits aber berühren die Ereignisse auf dem Balkan
so wichtige Interessen, die uns alle angehen, daß der Politiker sich der Not¬
wendigkeit, sie zu erörtern, nicht entziehen kann. Es kann aber in diesem Falle
nicht seines Amtes sein, den Vorhang vor der Zukunft vorwitzig lüften zu
wollen; er soll vielmehr versuchen, das Bild der jeweiligen Gegenwart dem
allgemeinen Verständnis näher zu bringen. Damit sollen auch die Grenzen der
hier gestellten Aufgabe bezeichnet sein.

Als der Krieg auf der Balkanhalbinsel ausbrach, gingen die Bemühungen
der Großmächte zunächst dahin, den Status quo zu erhalten. Man hat dieses
Bemühen verspottet und es als einen Beweis für die Kurzsichtigkeit der
Zünftigen Diplomatie angesehen, die einmal wieder nicht erkannt habe, was
jedem Schulknaben in Europa auf den ersten Blick klar gewesen sei. Dieser
Spott war vom Laien- und Biertischstandpunkt zwar begreiflich, in Wahrheit
aber sehr unberechtigt; es wird dabei vergessen, daß es, wollte man sehr schwer¬
wiegende Folgen verhüten, vor allem nötig war, das Gemeinsame in den poli¬
tischen Absichten der Großmächte möglichst schnell auf eine bestimmte Formel
zu bringen, um einen Ausgangspunkt für ein einiges Vorgehen zu gewinnen.


Grenzboten II 1913 4


Das werdende Albanien
v w. von Massow onin

cum man heute über Balkanfragen spricht, muß man sich zunächst
immer gegenwärtig halten, daß man sich mit Dingen beschäftigt,
bei denen jeder neue Tag eine neue Überraschung bringen kann.
Von vornherein hat man sich also zu sagen, daß es ganz un¬
möglich ist, vorauszubestimmen, wie es kommen wird. Es ist
schon viel, wenn es gelingt, in dem Erkennen dessen, was kommen kann, nicht
allzuweit von der Wirklichkeit oder auch nur Wahrscheinlichkeit abzuirren. Diese
Erwägung könnte vielleicht als Mittel erscheinen, um von diesen Fragen über¬
haupt abzuschrecken, anderseits aber berühren die Ereignisse auf dem Balkan
so wichtige Interessen, die uns alle angehen, daß der Politiker sich der Not¬
wendigkeit, sie zu erörtern, nicht entziehen kann. Es kann aber in diesem Falle
nicht seines Amtes sein, den Vorhang vor der Zukunft vorwitzig lüften zu
wollen; er soll vielmehr versuchen, das Bild der jeweiligen Gegenwart dem
allgemeinen Verständnis näher zu bringen. Damit sollen auch die Grenzen der
hier gestellten Aufgabe bezeichnet sein.

Als der Krieg auf der Balkanhalbinsel ausbrach, gingen die Bemühungen
der Großmächte zunächst dahin, den Status quo zu erhalten. Man hat dieses
Bemühen verspottet und es als einen Beweis für die Kurzsichtigkeit der
Zünftigen Diplomatie angesehen, die einmal wieder nicht erkannt habe, was
jedem Schulknaben in Europa auf den ersten Blick klar gewesen sei. Dieser
Spott war vom Laien- und Biertischstandpunkt zwar begreiflich, in Wahrheit
aber sehr unberechtigt; es wird dabei vergessen, daß es, wollte man sehr schwer¬
wiegende Folgen verhüten, vor allem nötig war, das Gemeinsame in den poli¬
tischen Absichten der Großmächte möglichst schnell auf eine bestimmte Formel
zu bringen, um einen Ausgangspunkt für ein einiges Vorgehen zu gewinnen.


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[0061] [Abbildung] Das werdende Albanien v w. von Massow onin cum man heute über Balkanfragen spricht, muß man sich zunächst immer gegenwärtig halten, daß man sich mit Dingen beschäftigt, bei denen jeder neue Tag eine neue Überraschung bringen kann. Von vornherein hat man sich also zu sagen, daß es ganz un¬ möglich ist, vorauszubestimmen, wie es kommen wird. Es ist schon viel, wenn es gelingt, in dem Erkennen dessen, was kommen kann, nicht allzuweit von der Wirklichkeit oder auch nur Wahrscheinlichkeit abzuirren. Diese Erwägung könnte vielleicht als Mittel erscheinen, um von diesen Fragen über¬ haupt abzuschrecken, anderseits aber berühren die Ereignisse auf dem Balkan so wichtige Interessen, die uns alle angehen, daß der Politiker sich der Not¬ wendigkeit, sie zu erörtern, nicht entziehen kann. Es kann aber in diesem Falle nicht seines Amtes sein, den Vorhang vor der Zukunft vorwitzig lüften zu wollen; er soll vielmehr versuchen, das Bild der jeweiligen Gegenwart dem allgemeinen Verständnis näher zu bringen. Damit sollen auch die Grenzen der hier gestellten Aufgabe bezeichnet sein. Als der Krieg auf der Balkanhalbinsel ausbrach, gingen die Bemühungen der Großmächte zunächst dahin, den Status quo zu erhalten. Man hat dieses Bemühen verspottet und es als einen Beweis für die Kurzsichtigkeit der Zünftigen Diplomatie angesehen, die einmal wieder nicht erkannt habe, was jedem Schulknaben in Europa auf den ersten Blick klar gewesen sei. Dieser Spott war vom Laien- und Biertischstandpunkt zwar begreiflich, in Wahrheit aber sehr unberechtigt; es wird dabei vergessen, daß es, wollte man sehr schwer¬ wiegende Folgen verhüten, vor allem nötig war, das Gemeinsame in den poli¬ tischen Absichten der Großmächte möglichst schnell auf eine bestimmte Formel zu bringen, um einen Ausgangspunkt für ein einiges Vorgehen zu gewinnen. Grenzboten II 1913 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/61>, abgerufen am 27.07.2024.