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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Kompositionen ganz außer acht gelassen sind.
Weniger befriedigt hat mich des gleichen
Verfassers "Hu"o Wolf" (1912), namentlich
weil mir die Mannigfaltigkeit seines Lied¬
stiles, die Abwesenheit jeder Prinzipien¬
reiterei, nicht genügend betont zu sein scheint.
La Mara versucht in ihrem "Mendelssohn"
(1912) die Besprechung der Werke mit der
Lebensdarstellung zu verschmelzen. Für
Biographien von so kleinem Umfang aber ist
es Wohl empfehlenswerter, beide Teile ge¬
trennt zu halten. Freilich ist es ungemein
schwer, zusammenfassende Charakteristiken zu
geben, und in gewissem Sinne ist es kein
Paradoxon, daß die Aufgabe des Biographen
um so mehr wächst, je geringer der Umfang
seines Buches ist. Leider nimmt man heute
meist noch den entgegengesetzten Stand-
Punkt ein.

Dr. Richard Hohenemser
Schöne Literatur

Clemens Brentano, Nachtwachen von
Bonnventnrn, herausgegeben von Erich
Frank. Heidelberg 1912

Bereits im Titel tritt diese Edition eines
vielgenannten Buches höchst anspruchsvoll auf:
die Hypothese, für die der Herausgeber in
der einhundertundfünf Seiten langen Einlei¬
tung kämpft, wird gleich auf dem Umschlag als
unwiderlegbare Tatsache verkündet. Von einem
berühmten Dichter, von Clemens Brentano,
sollen die "Nachtwachen des Bonaventura"
stammen, jenes 1804 erschienene Werkchen,
das man lange Zeit irrig dem Philosophen
Schelling zuschrieb und das vor kurzen? unter
Angabe guter Gründe einer Nebengestalt der
Romantik, Fr. G, Wetzel, zugewiesen ist. Frank
befaßt sich gar nicht damit, diese letzte An¬

[Spaltenumbruch]

nahme zu widerlegen; er sucht lediglich die
seine zu beweisen. Gut, wenn ihm dies ge¬
lingen wollte. Leider aber überzeugt Frank
in keiner Weise. Innerlich sind die "Nacht¬
wachen" dem Wesen Brentanoscher Poesie
durchaus fremd; die äußeren Beweismittel
Franks sind sämtlich angreifbar. Und wenn
Frank sich eine Schutz- und Zufluchtsmauer
in der "Anwendung des sprachvergleichenden
Verfahrens" errichtet hat, so ist diese Wissen¬
schaftlichkeit nur eine scheinbare. Hoffentlich
findet Frank einen Rezensenten, der ihm das
in wissenschaftlicher Form eingehend nachweist.
Ich sehe in Franks Arbeit geradezu ein
Musterbeispiel für die falsche Art der Beweis¬
führung, die -- blind nach allen anderen
Seiten -- für die einmal gewählte Hypo¬
these viele winzige Belegmittel, in Wahrheit
Zufälligkeiten, heranzerrt, bis eine Schein¬
möglichkeit entsteht. In der Tat hat es nicht
an Zustimmung gefehlt. Demgegenüber kann
nicht bestimmt genug betont werden, daß durch
Franks Edition die Werke eines berühmten
Dichters ohne triftigen Grund um einen wesens¬
fremden Bestandteil vermehrt werden sollen.
Frank möchte in den "Nachtwachen" sogar
"Brentanos bedeutendstesWerk"finden. Sehen
wir einmal von Brentano ganz ab -- etwas
"wirklich Großes" oder "das vielleicht geist¬
reichste Werk der Romantik", wie Frank sich
ausdrückt, sind die "Nachtwachen" überhaupt
nicht, sondern sie sind eine talentvolle Jean-
Paul-Nachahmung, die sich durch eine gewisse
Wildheit von dem Vorbild originell unter¬
scheidet. Daß das Werk dem Anhänger Jean
Pauls Fr. G. Wetzel zugehört, hat die größte
Wahrscheinlichkeit für sich.

Karl Freye [Ende Spaltensatz]




N-ckidruck sämtlicher Aufsätze nur mit ausdriicklichcr Erlaubnis des Verlauf gestattet.
Kerantworllich: der Herausgeber George TIeinow in Berlin-SchöneSerg. -- Manullriptsendungen und Briefe
werden erbeten unter der Adresse: "" den Herausgeber der Grenzbotr" in Berlin-Frieden"". Hedwinftr. 1".
gernsprecher der Schriftl-itung: Amt llhland 8KM, d"! Verlag": Amt Lü"vo S510.
Verlag: Verlag der "renzb-ten ". in. b. H. in Berlin SV. 11.
Druck: .Der RsichSbote" ". in. v. H. in Berlin LVV. II, D-jj-ner Strad- "S/S7.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Kompositionen ganz außer acht gelassen sind.
Weniger befriedigt hat mich des gleichen
Verfassers „Hu„o Wolf" (1912), namentlich
weil mir die Mannigfaltigkeit seines Lied¬
stiles, die Abwesenheit jeder Prinzipien¬
reiterei, nicht genügend betont zu sein scheint.
La Mara versucht in ihrem „Mendelssohn"
(1912) die Besprechung der Werke mit der
Lebensdarstellung zu verschmelzen. Für
Biographien von so kleinem Umfang aber ist
es Wohl empfehlenswerter, beide Teile ge¬
trennt zu halten. Freilich ist es ungemein
schwer, zusammenfassende Charakteristiken zu
geben, und in gewissem Sinne ist es kein
Paradoxon, daß die Aufgabe des Biographen
um so mehr wächst, je geringer der Umfang
seines Buches ist. Leider nimmt man heute
meist noch den entgegengesetzten Stand-
Punkt ein.

Dr. Richard Hohenemser
Schöne Literatur

Clemens Brentano, Nachtwachen von
Bonnventnrn, herausgegeben von Erich
Frank. Heidelberg 1912

Bereits im Titel tritt diese Edition eines
vielgenannten Buches höchst anspruchsvoll auf:
die Hypothese, für die der Herausgeber in
der einhundertundfünf Seiten langen Einlei¬
tung kämpft, wird gleich auf dem Umschlag als
unwiderlegbare Tatsache verkündet. Von einem
berühmten Dichter, von Clemens Brentano,
sollen die „Nachtwachen des Bonaventura"
stammen, jenes 1804 erschienene Werkchen,
das man lange Zeit irrig dem Philosophen
Schelling zuschrieb und das vor kurzen? unter
Angabe guter Gründe einer Nebengestalt der
Romantik, Fr. G, Wetzel, zugewiesen ist. Frank
befaßt sich gar nicht damit, diese letzte An¬

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nahme zu widerlegen; er sucht lediglich die
seine zu beweisen. Gut, wenn ihm dies ge¬
lingen wollte. Leider aber überzeugt Frank
in keiner Weise. Innerlich sind die „Nacht¬
wachen" dem Wesen Brentanoscher Poesie
durchaus fremd; die äußeren Beweismittel
Franks sind sämtlich angreifbar. Und wenn
Frank sich eine Schutz- und Zufluchtsmauer
in der „Anwendung des sprachvergleichenden
Verfahrens" errichtet hat, so ist diese Wissen¬
schaftlichkeit nur eine scheinbare. Hoffentlich
findet Frank einen Rezensenten, der ihm das
in wissenschaftlicher Form eingehend nachweist.
Ich sehe in Franks Arbeit geradezu ein
Musterbeispiel für die falsche Art der Beweis¬
führung, die — blind nach allen anderen
Seiten — für die einmal gewählte Hypo¬
these viele winzige Belegmittel, in Wahrheit
Zufälligkeiten, heranzerrt, bis eine Schein¬
möglichkeit entsteht. In der Tat hat es nicht
an Zustimmung gefehlt. Demgegenüber kann
nicht bestimmt genug betont werden, daß durch
Franks Edition die Werke eines berühmten
Dichters ohne triftigen Grund um einen wesens¬
fremden Bestandteil vermehrt werden sollen.
Frank möchte in den „Nachtwachen" sogar
„Brentanos bedeutendstesWerk"finden. Sehen
wir einmal von Brentano ganz ab — etwas
„wirklich Großes" oder „das vielleicht geist¬
reichste Werk der Romantik", wie Frank sich
ausdrückt, sind die „Nachtwachen" überhaupt
nicht, sondern sie sind eine talentvolle Jean-
Paul-Nachahmung, die sich durch eine gewisse
Wildheit von dem Vorbild originell unter¬
scheidet. Daß das Werk dem Anhänger Jean
Pauls Fr. G. Wetzel zugehört, hat die größte
Wahrscheinlichkeit für sich.

Karl Freye [Ende Spaltensatz]




N-ckidruck sämtlicher Aufsätze nur mit ausdriicklichcr Erlaubnis des Verlauf gestattet.
Kerantworllich: der Herausgeber George TIeinow in Berlin-SchöneSerg. — Manullriptsendungen und Briefe
werden erbeten unter der Adresse: «» den Herausgeber der Grenzbotr« in Berlin-Frieden««. Hedwinftr. 1».
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Druck: .Der RsichSbote" «. in. v. H. in Berlin LVV. II, D-jj-ner Strad- »S/S7.
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[0452] Maßgebliches und Unmaßgebliches Kompositionen ganz außer acht gelassen sind. Weniger befriedigt hat mich des gleichen Verfassers „Hu„o Wolf" (1912), namentlich weil mir die Mannigfaltigkeit seines Lied¬ stiles, die Abwesenheit jeder Prinzipien¬ reiterei, nicht genügend betont zu sein scheint. La Mara versucht in ihrem „Mendelssohn" (1912) die Besprechung der Werke mit der Lebensdarstellung zu verschmelzen. Für Biographien von so kleinem Umfang aber ist es Wohl empfehlenswerter, beide Teile ge¬ trennt zu halten. Freilich ist es ungemein schwer, zusammenfassende Charakteristiken zu geben, und in gewissem Sinne ist es kein Paradoxon, daß die Aufgabe des Biographen um so mehr wächst, je geringer der Umfang seines Buches ist. Leider nimmt man heute meist noch den entgegengesetzten Stand- Punkt ein. Dr. Richard Hohenemser Schöne Literatur Clemens Brentano, Nachtwachen von Bonnventnrn, herausgegeben von Erich Frank. Heidelberg 1912 Bereits im Titel tritt diese Edition eines vielgenannten Buches höchst anspruchsvoll auf: die Hypothese, für die der Herausgeber in der einhundertundfünf Seiten langen Einlei¬ tung kämpft, wird gleich auf dem Umschlag als unwiderlegbare Tatsache verkündet. Von einem berühmten Dichter, von Clemens Brentano, sollen die „Nachtwachen des Bonaventura" stammen, jenes 1804 erschienene Werkchen, das man lange Zeit irrig dem Philosophen Schelling zuschrieb und das vor kurzen? unter Angabe guter Gründe einer Nebengestalt der Romantik, Fr. G, Wetzel, zugewiesen ist. Frank befaßt sich gar nicht damit, diese letzte An¬ nahme zu widerlegen; er sucht lediglich die seine zu beweisen. Gut, wenn ihm dies ge¬ lingen wollte. Leider aber überzeugt Frank in keiner Weise. Innerlich sind die „Nacht¬ wachen" dem Wesen Brentanoscher Poesie durchaus fremd; die äußeren Beweismittel Franks sind sämtlich angreifbar. Und wenn Frank sich eine Schutz- und Zufluchtsmauer in der „Anwendung des sprachvergleichenden Verfahrens" errichtet hat, so ist diese Wissen¬ schaftlichkeit nur eine scheinbare. Hoffentlich findet Frank einen Rezensenten, der ihm das in wissenschaftlicher Form eingehend nachweist. Ich sehe in Franks Arbeit geradezu ein Musterbeispiel für die falsche Art der Beweis¬ führung, die — blind nach allen anderen Seiten — für die einmal gewählte Hypo¬ these viele winzige Belegmittel, in Wahrheit Zufälligkeiten, heranzerrt, bis eine Schein¬ möglichkeit entsteht. In der Tat hat es nicht an Zustimmung gefehlt. Demgegenüber kann nicht bestimmt genug betont werden, daß durch Franks Edition die Werke eines berühmten Dichters ohne triftigen Grund um einen wesens¬ fremden Bestandteil vermehrt werden sollen. Frank möchte in den „Nachtwachen" sogar „Brentanos bedeutendstesWerk"finden. Sehen wir einmal von Brentano ganz ab — etwas „wirklich Großes" oder „das vielleicht geist¬ reichste Werk der Romantik", wie Frank sich ausdrückt, sind die „Nachtwachen" überhaupt nicht, sondern sie sind eine talentvolle Jean- Paul-Nachahmung, die sich durch eine gewisse Wildheit von dem Vorbild originell unter¬ scheidet. Daß das Werk dem Anhänger Jean Pauls Fr. G. Wetzel zugehört, hat die größte Wahrscheinlichkeit für sich. Karl Freye N-ckidruck sämtlicher Aufsätze nur mit ausdriicklichcr Erlaubnis des Verlauf gestattet. Kerantworllich: der Herausgeber George TIeinow in Berlin-SchöneSerg. — Manullriptsendungen und Briefe werden erbeten unter der Adresse: «» den Herausgeber der Grenzbotr« in Berlin-Frieden««. Hedwinftr. 1». gernsprecher der Schriftl-itung: Amt llhland 8KM, d«! Verlag«: Amt Lü«vo S510. Verlag: Verlag der «renzb-ten «. in. b. H. in Berlin SV. 11. Druck: .Der RsichSbote" «. in. v. H. in Berlin LVV. II, D-jj-ner Strad- »S/S7.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/452>, abgerufen am 21.12.2024.