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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Richard Wagners parsifal
versuch einer wissenschaftlichen Deutung
Dr, P. Hauck i von n
Einleitung

s ist erstaunlich, wie gering bisher, trotz des gewaltigen Umfangs
der Wagnerliteratur, die rein wissenschaftliche Arbeit geblieben ist,
welche fern dem Zank der Parteien, fern auch von Lob und Tadel,
dem tieferen Studium der einzelnen Schöpfungen dieses einzigartigen
Genius gewidmet worden ist. Dieser Mangel ist auch schuld
daran, daß über den Sinn und die Absicht der einzelnen Werke, über den
inneren Aufbau des Geistes, über seine Abhängigkeit und seine originale
Schöpferkraft, überhaupt über die wirkliche Stellung Wagners in der Kultur¬
entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts noch keine Klarheit herrscht. Die
einen fassen ihn auf als den letzten Vertreter einer, wie sie meinen, ihrem
Wesen nach unproduktiven Romantik, andere als einen getreuen Schüler erst
Feuerbachs, dann Schopenhauers, der nur auf des Meisters Worte schwört,
wieder andere als einen isolierten, über alle Einflüsse erhabenen Propheten,
der nicht Lehrer gehabt hat, nicht Schüler, nur Verehrer haben kann. Es ist
wirklich an der Zeit, auch Wagners Werken eine geschichtliche und analysierende
Betrachtung angedeihen zu lassen, und den Versuch zu wagen, ihn einzureihen
mit seinem Werden und Wesen, mit seinen Zielen und Taten in den großen
Zusammenhang des modernen deutschen Geisteslebens. Er sollte nicht zurück¬
stehen hinter seinem Antipoden Hebbel, für dessen Verständnis gerade in den
letzten Jahren der Grund gelegt worden ist.

Wenn ich mit dem Parsifal beginne, so liegt das daran, daß mir gerade
dieses Drama am wenigsten verstanden zu sein scheint, obwohl der bedeutungs¬
volle Gegensatz zwischen Wagner und Nietzsche, der jedem bekannt ist, gerade
von der Deutung dieses Dramas seinen Ausgang nahm, und obwohl
gerade hier die Probleme ganz klar zutage liegen. Jedem Leser des Parsifal
drängen sich ganz von selbst zwei Fragen mit aller Macht auf. Die erste
betrifft das Wesen der Parstfalgestalt selbst, das durch die Worte: "Durch
Mitleid wissend, der reine Tor" scharf gezeichnet wird. Wie kann man "durch
Mitleid" "wissend" werden? -- Das ist hier das handgreifliche Problem, das




Richard Wagners parsifal
versuch einer wissenschaftlichen Deutung
Dr, P. Hauck i von n
Einleitung

s ist erstaunlich, wie gering bisher, trotz des gewaltigen Umfangs
der Wagnerliteratur, die rein wissenschaftliche Arbeit geblieben ist,
welche fern dem Zank der Parteien, fern auch von Lob und Tadel,
dem tieferen Studium der einzelnen Schöpfungen dieses einzigartigen
Genius gewidmet worden ist. Dieser Mangel ist auch schuld
daran, daß über den Sinn und die Absicht der einzelnen Werke, über den
inneren Aufbau des Geistes, über seine Abhängigkeit und seine originale
Schöpferkraft, überhaupt über die wirkliche Stellung Wagners in der Kultur¬
entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts noch keine Klarheit herrscht. Die
einen fassen ihn auf als den letzten Vertreter einer, wie sie meinen, ihrem
Wesen nach unproduktiven Romantik, andere als einen getreuen Schüler erst
Feuerbachs, dann Schopenhauers, der nur auf des Meisters Worte schwört,
wieder andere als einen isolierten, über alle Einflüsse erhabenen Propheten,
der nicht Lehrer gehabt hat, nicht Schüler, nur Verehrer haben kann. Es ist
wirklich an der Zeit, auch Wagners Werken eine geschichtliche und analysierende
Betrachtung angedeihen zu lassen, und den Versuch zu wagen, ihn einzureihen
mit seinem Werden und Wesen, mit seinen Zielen und Taten in den großen
Zusammenhang des modernen deutschen Geisteslebens. Er sollte nicht zurück¬
stehen hinter seinem Antipoden Hebbel, für dessen Verständnis gerade in den
letzten Jahren der Grund gelegt worden ist.

Wenn ich mit dem Parsifal beginne, so liegt das daran, daß mir gerade
dieses Drama am wenigsten verstanden zu sein scheint, obwohl der bedeutungs¬
volle Gegensatz zwischen Wagner und Nietzsche, der jedem bekannt ist, gerade
von der Deutung dieses Dramas seinen Ausgang nahm, und obwohl
gerade hier die Probleme ganz klar zutage liegen. Jedem Leser des Parsifal
drängen sich ganz von selbst zwei Fragen mit aller Macht auf. Die erste
betrifft das Wesen der Parstfalgestalt selbst, das durch die Worte: „Durch
Mitleid wissend, der reine Tor" scharf gezeichnet wird. Wie kann man „durch
Mitleid" „wissend" werden? — Das ist hier das handgreifliche Problem, das


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[0219] [Abbildung] Richard Wagners parsifal versuch einer wissenschaftlichen Deutung Dr, P. Hauck i von n Einleitung s ist erstaunlich, wie gering bisher, trotz des gewaltigen Umfangs der Wagnerliteratur, die rein wissenschaftliche Arbeit geblieben ist, welche fern dem Zank der Parteien, fern auch von Lob und Tadel, dem tieferen Studium der einzelnen Schöpfungen dieses einzigartigen Genius gewidmet worden ist. Dieser Mangel ist auch schuld daran, daß über den Sinn und die Absicht der einzelnen Werke, über den inneren Aufbau des Geistes, über seine Abhängigkeit und seine originale Schöpferkraft, überhaupt über die wirkliche Stellung Wagners in der Kultur¬ entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts noch keine Klarheit herrscht. Die einen fassen ihn auf als den letzten Vertreter einer, wie sie meinen, ihrem Wesen nach unproduktiven Romantik, andere als einen getreuen Schüler erst Feuerbachs, dann Schopenhauers, der nur auf des Meisters Worte schwört, wieder andere als einen isolierten, über alle Einflüsse erhabenen Propheten, der nicht Lehrer gehabt hat, nicht Schüler, nur Verehrer haben kann. Es ist wirklich an der Zeit, auch Wagners Werken eine geschichtliche und analysierende Betrachtung angedeihen zu lassen, und den Versuch zu wagen, ihn einzureihen mit seinem Werden und Wesen, mit seinen Zielen und Taten in den großen Zusammenhang des modernen deutschen Geisteslebens. Er sollte nicht zurück¬ stehen hinter seinem Antipoden Hebbel, für dessen Verständnis gerade in den letzten Jahren der Grund gelegt worden ist. Wenn ich mit dem Parsifal beginne, so liegt das daran, daß mir gerade dieses Drama am wenigsten verstanden zu sein scheint, obwohl der bedeutungs¬ volle Gegensatz zwischen Wagner und Nietzsche, der jedem bekannt ist, gerade von der Deutung dieses Dramas seinen Ausgang nahm, und obwohl gerade hier die Probleme ganz klar zutage liegen. Jedem Leser des Parsifal drängen sich ganz von selbst zwei Fragen mit aller Macht auf. Die erste betrifft das Wesen der Parstfalgestalt selbst, das durch die Worte: „Durch Mitleid wissend, der reine Tor" scharf gezeichnet wird. Wie kann man „durch Mitleid" „wissend" werden? — Das ist hier das handgreifliche Problem, das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/219>, abgerufen am 27.07.2024.