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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliche? und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Stimmung des zurückgezogenen Gelehrten¬
daseins kommt darin unvergleichlich zum Aus¬
druck, Den Humanisten gehört überhaupt
Nadlers ganze Seele; mit tiefer Trauer sieht
er durch Luthers "Revolution", wie, er dessen
gewaltige Geistestat nennt, die Früchte ihres
Fleißes und ihrer Begeisterung für die Antike
hinschwinden. Für Luther fehlt ihm überhaupt
das Organ, und er kann ihm nicht gerecht
werden, ebensowenig wie dem Rektor Johannes
Sturm zu Straßburg, Auch die Auffassung
von Scheidts "Grobianus" als einer "Satire
auf leise Mängel feiner Zucht, die er über¬
trieb", ist merkwürdig; das sechzehnte und
siebzehnte Jahrhundert war doch wirklich ein
Tummelplatz aller möglichen Roheit und Un¬
gebildetheit in allen Ständen, nicht zum
wenigsten in den akademischen Kreisen.

Eigenartig ist ebenso Nadlers Auffassung der
"Kudrun". Sie ist ihm ein Spielmanns¬
märchen, in das der Mythus hinübergebildet
worden war. "Kudruns Geschichte ist in
freier Gestaltung des Dichters aus dem
Apolloniusroman, einem Volkslied und der
Salomosage geschöpft. .. . Die Küsten und
Burgen des Mittelmeers geben das Milieu,
die letzten Kreuzzüge tragen die allgemeinen
Vorstellungen. . . . Alle Anschauung strömt
aus der Levante. Das Licht der sinkenden
Zeit liegt auf den Strophen, in denen das
wehmütige Leben einer leidenden Frau aus¬
gebreitet ist. Solch ein Gedanke wäre keinem
der Großen um IMt) nahe getreten. Die
letzte Welle der Bewegung, die von Süden
nach Nordosten ging, kein Gegenstück zu den
Nibelungen!" Eine Anschauung, die Wohl einer
Diskussion wert ist und genau zu Prüfen wäre!

Eine freudige Begeisterung durchzieht das
ganze, vom Verlag würdig ausgestattete Buch
und prägt sich vor allem in dem Vorwort aus, in
dem Nadler warme Worte des Dankes für seinen
Lehrer August Sauer findet und erinnerungs"
froh der "alten, wunderlichen, lieben Stadt
zwischen Hradschin und Whschehrad" gedenkt.

Reiche Anregungen kann das Werk, dessen
zweitem Bande man mit Spannung entgegen¬
sehen kann, dem kritischen Leser bieten, und
wird trotz oder vielleicht wegen seiner Mängel
eine bedeutsame Erscheinung in der Geschichte
der Literaturforschung bilden.

l)r. ZVolfgcmg Stammler [Spaltenumbruch]
Unterricht und Erziehung
Deutsche Mcisterprosa. Ein Lesebuch von
Eduard Engel. Braunschweig und Berlin,
Verlag von George Westermann. 1913. M, 5.

Über den Wert derartiger Zusammen¬
stellungen könnte man lange streiten; für
Schule und Haus, denen Engels Lesebuch
dienen soll, sind sie nahezu wertlos. Es wäre
eine oberflächliche Arbeit, wenn man die
Schüler an der Hand einzelner ganz kurzer
Stücke in den Stil eines Schriftstellers ein¬
führen wollte. Stilmuster sind unbedingt
nötig, mehr als jetzt noch zugegeben wird,
trotz des "Weges zum eigenen Stil", den
Imsen und Lamszus vorschlagen. Aber da
der wirklich eigene Stil ein Spiegelbild des
ganzen Mannes ist, darf man ihn nicht in
so starker Verkleinerung bringen, daß die
Züge nicht mehr zu erkennen sind. Auszüge
und Auswahlen sind zum Glück fast über¬
wunden. Eines Mannes Art, Wesen, Stil
ganz kennen zu lernen, "ist mehr wert, als
Halbheit im Hundertfältigen". Gegen die
Einführung von Engels "Meisterprosa" in
den Schulen müßte ich mich mit Händen und
Füßen wehren; sie könnte nur zur Ober¬
flächenkultur beitragen, der wir ohnehin durch
die Zersplitterung der Interessen täglich mehr
Raum gewähren müssen. -- Ich kann nur
schon eher denken, daß das gebildete deutsche
Haus an Engels Lesebuch Vergnügen und
Belehrung findet; es muß aber schon ein
sehr gebildetes Haus sein, das das stoffliche
Interesse so sehr zurückdrängen könnte, daß
es mit den Brocken, deren Form genossen
werden soll, vorlieb nehmen möchte.

Trotzdem wird das Buch viel gekauft,
zuerst von allen Seiten gepriesen werden,
bald aber der Vergessenheit anheimfallen.
Für ein ideales Publikum, das eS nirgends
gibt, auch nicht in der mehr an der Form
haftenden westlichen Bildungsgemeinschaft:
Frankreich-Belgien-Holland-England, ist das
Buch gut zusammengestellt. Wie alles, was
wir von Engel kennen, macht auch dies Buch
dort den besten Eindruck, wo wir nicht zu
Hause sind. Überall, wo wir Einzelkenntnisse
besitzen, merken wir, daß Engel mit sicherer
Hand oben abzuschöpfen versteht und auf
bequeme Formeln und gerade Linien zu

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Maßgebliche? und Unmaßgebliches

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Stimmung des zurückgezogenen Gelehrten¬
daseins kommt darin unvergleichlich zum Aus¬
druck, Den Humanisten gehört überhaupt
Nadlers ganze Seele; mit tiefer Trauer sieht
er durch Luthers „Revolution", wie, er dessen
gewaltige Geistestat nennt, die Früchte ihres
Fleißes und ihrer Begeisterung für die Antike
hinschwinden. Für Luther fehlt ihm überhaupt
das Organ, und er kann ihm nicht gerecht
werden, ebensowenig wie dem Rektor Johannes
Sturm zu Straßburg, Auch die Auffassung
von Scheidts „Grobianus" als einer „Satire
auf leise Mängel feiner Zucht, die er über¬
trieb", ist merkwürdig; das sechzehnte und
siebzehnte Jahrhundert war doch wirklich ein
Tummelplatz aller möglichen Roheit und Un¬
gebildetheit in allen Ständen, nicht zum
wenigsten in den akademischen Kreisen.

Eigenartig ist ebenso Nadlers Auffassung der
„Kudrun". Sie ist ihm ein Spielmanns¬
märchen, in das der Mythus hinübergebildet
worden war. „Kudruns Geschichte ist in
freier Gestaltung des Dichters aus dem
Apolloniusroman, einem Volkslied und der
Salomosage geschöpft. .. . Die Küsten und
Burgen des Mittelmeers geben das Milieu,
die letzten Kreuzzüge tragen die allgemeinen
Vorstellungen. . . . Alle Anschauung strömt
aus der Levante. Das Licht der sinkenden
Zeit liegt auf den Strophen, in denen das
wehmütige Leben einer leidenden Frau aus¬
gebreitet ist. Solch ein Gedanke wäre keinem
der Großen um IMt) nahe getreten. Die
letzte Welle der Bewegung, die von Süden
nach Nordosten ging, kein Gegenstück zu den
Nibelungen!" Eine Anschauung, die Wohl einer
Diskussion wert ist und genau zu Prüfen wäre!

Eine freudige Begeisterung durchzieht das
ganze, vom Verlag würdig ausgestattete Buch
und prägt sich vor allem in dem Vorwort aus, in
dem Nadler warme Worte des Dankes für seinen
Lehrer August Sauer findet und erinnerungs»
froh der „alten, wunderlichen, lieben Stadt
zwischen Hradschin und Whschehrad" gedenkt.

Reiche Anregungen kann das Werk, dessen
zweitem Bande man mit Spannung entgegen¬
sehen kann, dem kritischen Leser bieten, und
wird trotz oder vielleicht wegen seiner Mängel
eine bedeutsame Erscheinung in der Geschichte
der Literaturforschung bilden.

l)r. ZVolfgcmg Stammler [Spaltenumbruch]
Unterricht und Erziehung
Deutsche Mcisterprosa. Ein Lesebuch von
Eduard Engel. Braunschweig und Berlin,
Verlag von George Westermann. 1913. M, 5.

Über den Wert derartiger Zusammen¬
stellungen könnte man lange streiten; für
Schule und Haus, denen Engels Lesebuch
dienen soll, sind sie nahezu wertlos. Es wäre
eine oberflächliche Arbeit, wenn man die
Schüler an der Hand einzelner ganz kurzer
Stücke in den Stil eines Schriftstellers ein¬
führen wollte. Stilmuster sind unbedingt
nötig, mehr als jetzt noch zugegeben wird,
trotz des „Weges zum eigenen Stil", den
Imsen und Lamszus vorschlagen. Aber da
der wirklich eigene Stil ein Spiegelbild des
ganzen Mannes ist, darf man ihn nicht in
so starker Verkleinerung bringen, daß die
Züge nicht mehr zu erkennen sind. Auszüge
und Auswahlen sind zum Glück fast über¬
wunden. Eines Mannes Art, Wesen, Stil
ganz kennen zu lernen, „ist mehr wert, als
Halbheit im Hundertfältigen". Gegen die
Einführung von Engels „Meisterprosa" in
den Schulen müßte ich mich mit Händen und
Füßen wehren; sie könnte nur zur Ober¬
flächenkultur beitragen, der wir ohnehin durch
die Zersplitterung der Interessen täglich mehr
Raum gewähren müssen. — Ich kann nur
schon eher denken, daß das gebildete deutsche
Haus an Engels Lesebuch Vergnügen und
Belehrung findet; es muß aber schon ein
sehr gebildetes Haus sein, das das stoffliche
Interesse so sehr zurückdrängen könnte, daß
es mit den Brocken, deren Form genossen
werden soll, vorlieb nehmen möchte.

Trotzdem wird das Buch viel gekauft,
zuerst von allen Seiten gepriesen werden,
bald aber der Vergessenheit anheimfallen.
Für ein ideales Publikum, das eS nirgends
gibt, auch nicht in der mehr an der Form
haftenden westlichen Bildungsgemeinschaft:
Frankreich-Belgien-Holland-England, ist das
Buch gut zusammengestellt. Wie alles, was
wir von Engel kennen, macht auch dies Buch
dort den besten Eindruck, wo wir nicht zu
Hause sind. Überall, wo wir Einzelkenntnisse
besitzen, merken wir, daß Engel mit sicherer
Hand oben abzuschöpfen versteht und auf
bequeme Formeln und gerade Linien zu

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[0592] Maßgebliche? und Unmaßgebliches Stimmung des zurückgezogenen Gelehrten¬ daseins kommt darin unvergleichlich zum Aus¬ druck, Den Humanisten gehört überhaupt Nadlers ganze Seele; mit tiefer Trauer sieht er durch Luthers „Revolution", wie, er dessen gewaltige Geistestat nennt, die Früchte ihres Fleißes und ihrer Begeisterung für die Antike hinschwinden. Für Luther fehlt ihm überhaupt das Organ, und er kann ihm nicht gerecht werden, ebensowenig wie dem Rektor Johannes Sturm zu Straßburg, Auch die Auffassung von Scheidts „Grobianus" als einer „Satire auf leise Mängel feiner Zucht, die er über¬ trieb", ist merkwürdig; das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert war doch wirklich ein Tummelplatz aller möglichen Roheit und Un¬ gebildetheit in allen Ständen, nicht zum wenigsten in den akademischen Kreisen. Eigenartig ist ebenso Nadlers Auffassung der „Kudrun". Sie ist ihm ein Spielmanns¬ märchen, in das der Mythus hinübergebildet worden war. „Kudruns Geschichte ist in freier Gestaltung des Dichters aus dem Apolloniusroman, einem Volkslied und der Salomosage geschöpft. .. . Die Küsten und Burgen des Mittelmeers geben das Milieu, die letzten Kreuzzüge tragen die allgemeinen Vorstellungen. . . . Alle Anschauung strömt aus der Levante. Das Licht der sinkenden Zeit liegt auf den Strophen, in denen das wehmütige Leben einer leidenden Frau aus¬ gebreitet ist. Solch ein Gedanke wäre keinem der Großen um IMt) nahe getreten. Die letzte Welle der Bewegung, die von Süden nach Nordosten ging, kein Gegenstück zu den Nibelungen!" Eine Anschauung, die Wohl einer Diskussion wert ist und genau zu Prüfen wäre! Eine freudige Begeisterung durchzieht das ganze, vom Verlag würdig ausgestattete Buch und prägt sich vor allem in dem Vorwort aus, in dem Nadler warme Worte des Dankes für seinen Lehrer August Sauer findet und erinnerungs» froh der „alten, wunderlichen, lieben Stadt zwischen Hradschin und Whschehrad" gedenkt. Reiche Anregungen kann das Werk, dessen zweitem Bande man mit Spannung entgegen¬ sehen kann, dem kritischen Leser bieten, und wird trotz oder vielleicht wegen seiner Mängel eine bedeutsame Erscheinung in der Geschichte der Literaturforschung bilden. l)r. ZVolfgcmg Stammler Unterricht und Erziehung Deutsche Mcisterprosa. Ein Lesebuch von Eduard Engel. Braunschweig und Berlin, Verlag von George Westermann. 1913. M, 5. Über den Wert derartiger Zusammen¬ stellungen könnte man lange streiten; für Schule und Haus, denen Engels Lesebuch dienen soll, sind sie nahezu wertlos. Es wäre eine oberflächliche Arbeit, wenn man die Schüler an der Hand einzelner ganz kurzer Stücke in den Stil eines Schriftstellers ein¬ führen wollte. Stilmuster sind unbedingt nötig, mehr als jetzt noch zugegeben wird, trotz des „Weges zum eigenen Stil", den Imsen und Lamszus vorschlagen. Aber da der wirklich eigene Stil ein Spiegelbild des ganzen Mannes ist, darf man ihn nicht in so starker Verkleinerung bringen, daß die Züge nicht mehr zu erkennen sind. Auszüge und Auswahlen sind zum Glück fast über¬ wunden. Eines Mannes Art, Wesen, Stil ganz kennen zu lernen, „ist mehr wert, als Halbheit im Hundertfältigen". Gegen die Einführung von Engels „Meisterprosa" in den Schulen müßte ich mich mit Händen und Füßen wehren; sie könnte nur zur Ober¬ flächenkultur beitragen, der wir ohnehin durch die Zersplitterung der Interessen täglich mehr Raum gewähren müssen. — Ich kann nur schon eher denken, daß das gebildete deutsche Haus an Engels Lesebuch Vergnügen und Belehrung findet; es muß aber schon ein sehr gebildetes Haus sein, das das stoffliche Interesse so sehr zurückdrängen könnte, daß es mit den Brocken, deren Form genossen werden soll, vorlieb nehmen möchte. Trotzdem wird das Buch viel gekauft, zuerst von allen Seiten gepriesen werden, bald aber der Vergessenheit anheimfallen. Für ein ideales Publikum, das eS nirgends gibt, auch nicht in der mehr an der Form haftenden westlichen Bildungsgemeinschaft: Frankreich-Belgien-Holland-England, ist das Buch gut zusammengestellt. Wie alles, was wir von Engel kennen, macht auch dies Buch dort den besten Eindruck, wo wir nicht zu Hause sind. Überall, wo wir Einzelkenntnisse besitzen, merken wir, daß Engel mit sicherer Hand oben abzuschöpfen versteht und auf bequeme Formeln und gerade Linien zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/592>, abgerufen am 03.07.2024.