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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Zur Lntvölkerungsfrage
I.

Die berüchtigte Formel des englischen Pastors und Nationalökonomen
Malthus, daß die Lebensmittel sich nur in arithmetischer Progression (1 -- 2 --
3--4--5 usw.) vermehren, z. B. von Generation zu Generation verdoppeln
lassen, während die Bevölkerung in geometrischer Progression (1 -- 2 -- 4--
8 --16 usw.) wachse, d. h. entsprechend der Verdopplung der Lebensmittel
derart zunehme, daß jede Familie zwei überlebende Kinder habe, scheint an
sich durchaus nicht übertrieben. Entfalten doch nach der vor einigen Wochen
vom Arbeitsminister veröffentlichten Familienstatistik selbst jetzt noch in Frankreich
(wie z. B. auch im Jahre 1906) auf 100 Familien 293 Kinder, wovon 215
überlebende, also mehr als zwei Kinder auf jede Familie. Und doch ist der
sozialpolitische Rat von Malthus, geschlechtliche Enthaltsamkeit zu üben, von
der Statistik Lügen gestraft. Die Bevölkerung ist wenigstens gezwungen, nach
übermäßigem Wachsen über ihre Subsistenzmittel hinaus wieder auf deren
Niveau zurückzufallen. Das bewirkt ein vorzeitiger Tod: Hungersnot, Familien¬
elend, Säuglingssterblichkeit, Krankheitsepidemien und Krieg.

In Wahrheit stickt die Bevölkerung aber nicht nur bis auf die Linie der
Unterhaltsmittel, sondern selbst unter sie. Das zeigt die äußerst interessante
Statistik über diese Frage, namentlich für Deutschland, England und Frankreich.

1. Die absoluten Ziffern der Bevölkerung sind zwar noch immer im
Steigen begriffen, wie folgende Zusammenstellung zeigt:

1880 1908 1910
Deutschland . . , 45 Mill. 63,0 Mill. 64,9 Mit.
England.....35 " 44,6 " 45,2 "
Frankreich .... 37 " 39,3 " 39,6 "

Die Geburtenziffern sind dagegen in Frankreich absolut seit dem letzten
Drittel und, verglichen mit der Bevölkerung, schon seit dem Anfange des vorigen
Jahrhunderts gesunken laut nachstehender Übersicht, in der die Mittel von Jahr-
fünften angegeben sind, um die Zufälligkeiten einzelner Jahre auszuschalten:

1301--05 . . 912 000 Geburten, d. h. 31,7 der Bevölkerung,
1821--26 . . 972 000 " ,, 31,5 " "
1841--45 . . 976 000 " " 28,1 " "
1861-65 . . 1 005 000 " " 26,7 " "
1881-85 . . 935 000 " " 24,7 " "
1901-05 . . 831 000 " ., 21,2 " "
1906-10 . . 783 000 " " 19,9 " "
1911 . . 742 000 " " 18,7 " "

Danach ließe sich das Aussterben der französischen Rasse ungefähr berechnen.
Dieselbe Erscheinung zeigt sich indes, wenn auch noch nicht soweit fortgeschritten,
so doch in schnellerem Tempo und mit einer Verminderung der absoluten Ge¬
burtenziffern erst in den letzten Jahren beginnend, in England (außer Irland):

1801--05 . . 625 000 Geburten, d. h. 35,1 der Bevölkerung,
1881-85 . . 893 000 " " 33,5 " "
1901--05 . . 930 000 " " 28,5 " "
1910 . . 890 000 " " 24,9 " "

Zur Lntvölkerungsfrage
I.

Die berüchtigte Formel des englischen Pastors und Nationalökonomen
Malthus, daß die Lebensmittel sich nur in arithmetischer Progression (1 — 2 —
3—4—5 usw.) vermehren, z. B. von Generation zu Generation verdoppeln
lassen, während die Bevölkerung in geometrischer Progression (1 — 2 — 4—
8 —16 usw.) wachse, d. h. entsprechend der Verdopplung der Lebensmittel
derart zunehme, daß jede Familie zwei überlebende Kinder habe, scheint an
sich durchaus nicht übertrieben. Entfalten doch nach der vor einigen Wochen
vom Arbeitsminister veröffentlichten Familienstatistik selbst jetzt noch in Frankreich
(wie z. B. auch im Jahre 1906) auf 100 Familien 293 Kinder, wovon 215
überlebende, also mehr als zwei Kinder auf jede Familie. Und doch ist der
sozialpolitische Rat von Malthus, geschlechtliche Enthaltsamkeit zu üben, von
der Statistik Lügen gestraft. Die Bevölkerung ist wenigstens gezwungen, nach
übermäßigem Wachsen über ihre Subsistenzmittel hinaus wieder auf deren
Niveau zurückzufallen. Das bewirkt ein vorzeitiger Tod: Hungersnot, Familien¬
elend, Säuglingssterblichkeit, Krankheitsepidemien und Krieg.

In Wahrheit stickt die Bevölkerung aber nicht nur bis auf die Linie der
Unterhaltsmittel, sondern selbst unter sie. Das zeigt die äußerst interessante
Statistik über diese Frage, namentlich für Deutschland, England und Frankreich.

1. Die absoluten Ziffern der Bevölkerung sind zwar noch immer im
Steigen begriffen, wie folgende Zusammenstellung zeigt:

1880 1908 1910
Deutschland . . , 45 Mill. 63,0 Mill. 64,9 Mit.
England.....35 „ 44,6 „ 45,2 „
Frankreich .... 37 „ 39,3 „ 39,6 „

Die Geburtenziffern sind dagegen in Frankreich absolut seit dem letzten
Drittel und, verglichen mit der Bevölkerung, schon seit dem Anfange des vorigen
Jahrhunderts gesunken laut nachstehender Übersicht, in der die Mittel von Jahr-
fünften angegeben sind, um die Zufälligkeiten einzelner Jahre auszuschalten:

1301—05 . . 912 000 Geburten, d. h. 31,7 der Bevölkerung,
1821—26 . . 972 000 „ ,, 31,5 „ „
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1911 . . 742 000 „ „ 18,7 „ „

Danach ließe sich das Aussterben der französischen Rasse ungefähr berechnen.
Dieselbe Erscheinung zeigt sich indes, wenn auch noch nicht soweit fortgeschritten,
so doch in schnellerem Tempo und mit einer Verminderung der absoluten Ge¬
burtenziffern erst in den letzten Jahren beginnend, in England (außer Irland):

1801—05 . . 625 000 Geburten, d. h. 35,1 der Bevölkerung,
1881-85 . . 893 000 „ „ 33,5 „ „
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[0555] Zur Lntvölkerungsfrage I. Die berüchtigte Formel des englischen Pastors und Nationalökonomen Malthus, daß die Lebensmittel sich nur in arithmetischer Progression (1 — 2 — 3—4—5 usw.) vermehren, z. B. von Generation zu Generation verdoppeln lassen, während die Bevölkerung in geometrischer Progression (1 — 2 — 4— 8 —16 usw.) wachse, d. h. entsprechend der Verdopplung der Lebensmittel derart zunehme, daß jede Familie zwei überlebende Kinder habe, scheint an sich durchaus nicht übertrieben. Entfalten doch nach der vor einigen Wochen vom Arbeitsminister veröffentlichten Familienstatistik selbst jetzt noch in Frankreich (wie z. B. auch im Jahre 1906) auf 100 Familien 293 Kinder, wovon 215 überlebende, also mehr als zwei Kinder auf jede Familie. Und doch ist der sozialpolitische Rat von Malthus, geschlechtliche Enthaltsamkeit zu üben, von der Statistik Lügen gestraft. Die Bevölkerung ist wenigstens gezwungen, nach übermäßigem Wachsen über ihre Subsistenzmittel hinaus wieder auf deren Niveau zurückzufallen. Das bewirkt ein vorzeitiger Tod: Hungersnot, Familien¬ elend, Säuglingssterblichkeit, Krankheitsepidemien und Krieg. In Wahrheit stickt die Bevölkerung aber nicht nur bis auf die Linie der Unterhaltsmittel, sondern selbst unter sie. Das zeigt die äußerst interessante Statistik über diese Frage, namentlich für Deutschland, England und Frankreich. 1. Die absoluten Ziffern der Bevölkerung sind zwar noch immer im Steigen begriffen, wie folgende Zusammenstellung zeigt: 1880 1908 1910 Deutschland . . , 45 Mill. 63,0 Mill. 64,9 Mit. England.....35 „ 44,6 „ 45,2 „ Frankreich .... 37 „ 39,3 „ 39,6 „ Die Geburtenziffern sind dagegen in Frankreich absolut seit dem letzten Drittel und, verglichen mit der Bevölkerung, schon seit dem Anfange des vorigen Jahrhunderts gesunken laut nachstehender Übersicht, in der die Mittel von Jahr- fünften angegeben sind, um die Zufälligkeiten einzelner Jahre auszuschalten: 1301—05 . . 912 000 Geburten, d. h. 31,7 der Bevölkerung, 1821—26 . . 972 000 „ ,, 31,5 „ „ 1841—45 . . 976 000 „ „ 28,1 „ „ 1861-65 . . 1 005 000 „ „ 26,7 „ „ 1881-85 . . 935 000 „ „ 24,7 „ „ 1901-05 . . 831 000 „ ., 21,2 „ „ 1906-10 . . 783 000 „ „ 19,9 „ „ 1911 . . 742 000 „ „ 18,7 „ „ Danach ließe sich das Aussterben der französischen Rasse ungefähr berechnen. Dieselbe Erscheinung zeigt sich indes, wenn auch noch nicht soweit fortgeschritten, so doch in schnellerem Tempo und mit einer Verminderung der absoluten Ge¬ burtenziffern erst in den letzten Jahren beginnend, in England (außer Irland): 1801—05 . . 625 000 Geburten, d. h. 35,1 der Bevölkerung, 1881-85 . . 893 000 „ „ 33,5 „ „ 1901—05 . . 930 000 „ „ 28,5 „ „ 1910 . . 890 000 „ „ 24,9 „ „

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/555>, abgerufen am 27.06.2024.