Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Arbeiter als literarische Kritiker

Aber auch jetzt versagt er. Trotzdem er so ideal veranlagt ist denkt er in
diesem Punkt nur an sich. Jetzt überspringt der Verfasser dreißig Jahre und
schreibt, daß die beiden Menschen noch genau so zusammenleben, als nach Fritz
Tode. Das ist gar nicht denkbar, entweder sie hätten sich gänzlich trennen
müssen, oder sich doch wenigstens äußerlich mehr zusammenfinden. Nun wird
noch geschildert wieviel Apollonius geschafft hat, aber ein so klug berechnender
Geschäftsmann kann unmöglich ein Idealist sein wie Apollonius.

Die Verfasserin dieses Aufsatzes, eine ältere, wegen schwerem Lungenleiden
dauernd arbeitsunfähige Papierarbeiterin, ist eine konsequente Realistin, die
mit kritischer Schärfe und starker Voreingenommenheit gegen den Idealisten
Apollonius die Frau verteidigt, die "doch auch ein Recht auf Glück hatte",
das ihm mehr am Herzen liegen müßte, als seine überspannten Ideale. Recht
interessant ist die Schlußargumentation: nicht bloß das geschwisterliche Neben¬
einanderleben der beiden Liebenden sei unmöglich, sondern auch die kluge-
Geschäftstüchtigkeit eines Idealisten -- ganz deutlich wird hier das Urteil der
Schreiberin durch eigene Erfahrungen beeinflußt. Von einem Verständnis für
höhere, über die getreue Abschilderung der Wirklichkeit hinausgehende Absichten
des Dichters ist hier nicht viel zu spüren, und von diesem Standpunkte aus
scheint die Lösung natürlich ganz verfehlt, die Heirat der Liebenden der einzig
mögliche und in Betracht kommende Schluß.

Bis zum Kern der Frage dringen die beiden letzten Aufsätze vor: der erste
ist von einem älteren Metallarbeiter verfaßt, dessen Stil und deutlich durch¬
scheinende Bildung -- wofür vor allem die sparsam und richtig gebrauchten
Fremdwörter bezeichnend sind -- über dem Durchschnitt steht. Daß der ver¬
brecherische Bruder geisteskrank sein könne, steht freilich nicht im Roman und
es ist für die Auffassung des Arbeiters nicht uninteressant, daß er das Ver¬
brechen, wie selbstverständlich, so erklärt.


4. Otto Ludwig behandelt in seinem Werke "Zwischen Himmel und Erde"

zwei scharf sich gegenüberstehende Gegensätze. Die Welt des Guten und die
Welt des Bösen. Es ist die Lebensgeschichte zweier Brüder. Fritz N. ver¬
körpert in sich den Gipfel der Gewissenlosigkeit und geht dabei zu Grunde.
A. ist ein Muster von Gewissenhaftigkeit, eine überängstliche und schüchterne
Natur. Auch er läuft Gefahr, zu Grunde gerichtet zu werden. Viele Leser werden
einwenden, der Ausgang der Handlung sei unnatürlich. Sie werden fragen,
warum heiratet A. die Christiane nicht? Die Frage ist leichter gestellt wie
beantwortet. A. liebte die Frau und wurde von ihr wieder geliebt. Der
Bruder war tot. Weniger fein organisierte Menschen wäre der Tod des
Bruders willkommen gewesen, um die geliebte Frau heimzuführen. A.
heiratete nicht die Frau. Warum nicht? A. war belastet mit dem Gefühl
einer dunklen Schuld. Ein Schuldgefühl läßt sich nicht abwaschen; Schuld
bleibt Schuld. Fritz N. ist ein eifersüchtiger Mensch. Die l> der) Eifer-


Arbeiter als literarische Kritiker

Aber auch jetzt versagt er. Trotzdem er so ideal veranlagt ist denkt er in
diesem Punkt nur an sich. Jetzt überspringt der Verfasser dreißig Jahre und
schreibt, daß die beiden Menschen noch genau so zusammenleben, als nach Fritz
Tode. Das ist gar nicht denkbar, entweder sie hätten sich gänzlich trennen
müssen, oder sich doch wenigstens äußerlich mehr zusammenfinden. Nun wird
noch geschildert wieviel Apollonius geschafft hat, aber ein so klug berechnender
Geschäftsmann kann unmöglich ein Idealist sein wie Apollonius.

Die Verfasserin dieses Aufsatzes, eine ältere, wegen schwerem Lungenleiden
dauernd arbeitsunfähige Papierarbeiterin, ist eine konsequente Realistin, die
mit kritischer Schärfe und starker Voreingenommenheit gegen den Idealisten
Apollonius die Frau verteidigt, die „doch auch ein Recht auf Glück hatte",
das ihm mehr am Herzen liegen müßte, als seine überspannten Ideale. Recht
interessant ist die Schlußargumentation: nicht bloß das geschwisterliche Neben¬
einanderleben der beiden Liebenden sei unmöglich, sondern auch die kluge-
Geschäftstüchtigkeit eines Idealisten — ganz deutlich wird hier das Urteil der
Schreiberin durch eigene Erfahrungen beeinflußt. Von einem Verständnis für
höhere, über die getreue Abschilderung der Wirklichkeit hinausgehende Absichten
des Dichters ist hier nicht viel zu spüren, und von diesem Standpunkte aus
scheint die Lösung natürlich ganz verfehlt, die Heirat der Liebenden der einzig
mögliche und in Betracht kommende Schluß.

Bis zum Kern der Frage dringen die beiden letzten Aufsätze vor: der erste
ist von einem älteren Metallarbeiter verfaßt, dessen Stil und deutlich durch¬
scheinende Bildung — wofür vor allem die sparsam und richtig gebrauchten
Fremdwörter bezeichnend sind — über dem Durchschnitt steht. Daß der ver¬
brecherische Bruder geisteskrank sein könne, steht freilich nicht im Roman und
es ist für die Auffassung des Arbeiters nicht uninteressant, daß er das Ver¬
brechen, wie selbstverständlich, so erklärt.


4. Otto Ludwig behandelt in seinem Werke „Zwischen Himmel und Erde"

zwei scharf sich gegenüberstehende Gegensätze. Die Welt des Guten und die
Welt des Bösen. Es ist die Lebensgeschichte zweier Brüder. Fritz N. ver¬
körpert in sich den Gipfel der Gewissenlosigkeit und geht dabei zu Grunde.
A. ist ein Muster von Gewissenhaftigkeit, eine überängstliche und schüchterne
Natur. Auch er läuft Gefahr, zu Grunde gerichtet zu werden. Viele Leser werden
einwenden, der Ausgang der Handlung sei unnatürlich. Sie werden fragen,
warum heiratet A. die Christiane nicht? Die Frage ist leichter gestellt wie
beantwortet. A. liebte die Frau und wurde von ihr wieder geliebt. Der
Bruder war tot. Weniger fein organisierte Menschen wäre der Tod des
Bruders willkommen gewesen, um die geliebte Frau heimzuführen. A.
heiratete nicht die Frau. Warum nicht? A. war belastet mit dem Gefühl
einer dunklen Schuld. Ein Schuldgefühl läßt sich nicht abwaschen; Schuld
bleibt Schuld. Fritz N. ist ein eifersüchtiger Mensch. Die l> der) Eifer-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0330" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325200"/>
            <fw type="header" place="top"> Arbeiter als literarische Kritiker</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1351" prev="#ID_1350"> Aber auch jetzt versagt er. Trotzdem er so ideal veranlagt ist denkt er in<lb/>
diesem Punkt nur an sich. Jetzt überspringt der Verfasser dreißig Jahre und<lb/>
schreibt, daß die beiden Menschen noch genau so zusammenleben, als nach Fritz<lb/>
Tode. Das ist gar nicht denkbar, entweder sie hätten sich gänzlich trennen<lb/>
müssen, oder sich doch wenigstens äußerlich mehr zusammenfinden. Nun wird<lb/>
noch geschildert wieviel Apollonius geschafft hat, aber ein so klug berechnender<lb/>
Geschäftsmann kann unmöglich ein Idealist sein wie Apollonius.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1352"> Die Verfasserin dieses Aufsatzes, eine ältere, wegen schwerem Lungenleiden<lb/>
dauernd arbeitsunfähige Papierarbeiterin, ist eine konsequente Realistin, die<lb/>
mit kritischer Schärfe und starker Voreingenommenheit gegen den Idealisten<lb/>
Apollonius die Frau verteidigt, die &#x201E;doch auch ein Recht auf Glück hatte",<lb/>
das ihm mehr am Herzen liegen müßte, als seine überspannten Ideale. Recht<lb/>
interessant ist die Schlußargumentation: nicht bloß das geschwisterliche Neben¬<lb/>
einanderleben der beiden Liebenden sei unmöglich, sondern auch die kluge-<lb/>
Geschäftstüchtigkeit eines Idealisten &#x2014; ganz deutlich wird hier das Urteil der<lb/>
Schreiberin durch eigene Erfahrungen beeinflußt. Von einem Verständnis für<lb/>
höhere, über die getreue Abschilderung der Wirklichkeit hinausgehende Absichten<lb/>
des Dichters ist hier nicht viel zu spüren, und von diesem Standpunkte aus<lb/>
scheint die Lösung natürlich ganz verfehlt, die Heirat der Liebenden der einzig<lb/>
mögliche und in Betracht kommende Schluß.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1353"> Bis zum Kern der Frage dringen die beiden letzten Aufsätze vor: der erste<lb/>
ist von einem älteren Metallarbeiter verfaßt, dessen Stil und deutlich durch¬<lb/>
scheinende Bildung &#x2014; wofür vor allem die sparsam und richtig gebrauchten<lb/>
Fremdwörter bezeichnend sind &#x2014; über dem Durchschnitt steht. Daß der ver¬<lb/>
brecherische Bruder geisteskrank sein könne, steht freilich nicht im Roman und<lb/>
es ist für die Auffassung des Arbeiters nicht uninteressant, daß er das Ver¬<lb/>
brechen, wie selbstverständlich, so erklärt.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> 4. Otto Ludwig behandelt in seinem Werke &#x201E;Zwischen Himmel und Erde"</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1354" next="#ID_1355"> zwei scharf sich gegenüberstehende Gegensätze. Die Welt des Guten und die<lb/>
Welt des Bösen. Es ist die Lebensgeschichte zweier Brüder. Fritz N. ver¬<lb/>
körpert in sich den Gipfel der Gewissenlosigkeit und geht dabei zu Grunde.<lb/>
A. ist ein Muster von Gewissenhaftigkeit, eine überängstliche und schüchterne<lb/>
Natur. Auch er läuft Gefahr, zu Grunde gerichtet zu werden. Viele Leser werden<lb/>
einwenden, der Ausgang der Handlung sei unnatürlich. Sie werden fragen,<lb/>
warum heiratet A. die Christiane nicht? Die Frage ist leichter gestellt wie<lb/>
beantwortet. A. liebte die Frau und wurde von ihr wieder geliebt. Der<lb/>
Bruder war tot. Weniger fein organisierte Menschen wäre der Tod des<lb/>
Bruders willkommen gewesen, um die geliebte Frau heimzuführen. A.<lb/>
heiratete nicht die Frau. Warum nicht? A. war belastet mit dem Gefühl<lb/>
einer dunklen Schuld. Ein Schuldgefühl läßt sich nicht abwaschen; Schuld<lb/>
bleibt Schuld. Fritz N. ist ein eifersüchtiger Mensch. Die l&gt; der) Eifer-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0330] Arbeiter als literarische Kritiker Aber auch jetzt versagt er. Trotzdem er so ideal veranlagt ist denkt er in diesem Punkt nur an sich. Jetzt überspringt der Verfasser dreißig Jahre und schreibt, daß die beiden Menschen noch genau so zusammenleben, als nach Fritz Tode. Das ist gar nicht denkbar, entweder sie hätten sich gänzlich trennen müssen, oder sich doch wenigstens äußerlich mehr zusammenfinden. Nun wird noch geschildert wieviel Apollonius geschafft hat, aber ein so klug berechnender Geschäftsmann kann unmöglich ein Idealist sein wie Apollonius. Die Verfasserin dieses Aufsatzes, eine ältere, wegen schwerem Lungenleiden dauernd arbeitsunfähige Papierarbeiterin, ist eine konsequente Realistin, die mit kritischer Schärfe und starker Voreingenommenheit gegen den Idealisten Apollonius die Frau verteidigt, die „doch auch ein Recht auf Glück hatte", das ihm mehr am Herzen liegen müßte, als seine überspannten Ideale. Recht interessant ist die Schlußargumentation: nicht bloß das geschwisterliche Neben¬ einanderleben der beiden Liebenden sei unmöglich, sondern auch die kluge- Geschäftstüchtigkeit eines Idealisten — ganz deutlich wird hier das Urteil der Schreiberin durch eigene Erfahrungen beeinflußt. Von einem Verständnis für höhere, über die getreue Abschilderung der Wirklichkeit hinausgehende Absichten des Dichters ist hier nicht viel zu spüren, und von diesem Standpunkte aus scheint die Lösung natürlich ganz verfehlt, die Heirat der Liebenden der einzig mögliche und in Betracht kommende Schluß. Bis zum Kern der Frage dringen die beiden letzten Aufsätze vor: der erste ist von einem älteren Metallarbeiter verfaßt, dessen Stil und deutlich durch¬ scheinende Bildung — wofür vor allem die sparsam und richtig gebrauchten Fremdwörter bezeichnend sind — über dem Durchschnitt steht. Daß der ver¬ brecherische Bruder geisteskrank sein könne, steht freilich nicht im Roman und es ist für die Auffassung des Arbeiters nicht uninteressant, daß er das Ver¬ brechen, wie selbstverständlich, so erklärt. 4. Otto Ludwig behandelt in seinem Werke „Zwischen Himmel und Erde" zwei scharf sich gegenüberstehende Gegensätze. Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Es ist die Lebensgeschichte zweier Brüder. Fritz N. ver¬ körpert in sich den Gipfel der Gewissenlosigkeit und geht dabei zu Grunde. A. ist ein Muster von Gewissenhaftigkeit, eine überängstliche und schüchterne Natur. Auch er läuft Gefahr, zu Grunde gerichtet zu werden. Viele Leser werden einwenden, der Ausgang der Handlung sei unnatürlich. Sie werden fragen, warum heiratet A. die Christiane nicht? Die Frage ist leichter gestellt wie beantwortet. A. liebte die Frau und wurde von ihr wieder geliebt. Der Bruder war tot. Weniger fein organisierte Menschen wäre der Tod des Bruders willkommen gewesen, um die geliebte Frau heimzuführen. A. heiratete nicht die Frau. Warum nicht? A. war belastet mit dem Gefühl einer dunklen Schuld. Ein Schuldgefühl läßt sich nicht abwaschen; Schuld bleibt Schuld. Fritz N. ist ein eifersüchtiger Mensch. Die l> der) Eifer-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/330
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/330>, abgerufen am 03.07.2024.