Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.Arbeiter als literarische Aritiker Dr. in. i vonn Die Grenzboten haben bereits im Jahre 1910 aus die Bestrebungen in der Studentenschaft, der Arbeiterbevölkerung vom reichen Tisch der Wissenschaft abzugeben, hingewiesen. Es gibt viele Kreise in Deutschland, die diesen Bestrebungen nicht nur gleichgültig, sondern sogar feindlich gegenüberstehen, und diese Kreise begründen ihre Stellungnahme mit dem Hinweis, daß die Arbeit zweckmäßiger an den bürgerlichen Schichten, die ebenfalls einer Vertiefung des wissenschaftlichen Besitzes bedürften, geleistet werden sollte. Wir können uns solcher Auffassung nicht an¬ schließen. Ganz abgesehen, daß in den vom Erwerb völlig in Anspruch genommenen bürgerlichen Kreisen das Bildungsbedürfnis, der Bildungs¬ hunger nicht so groß erscheint wie bei den Arbeitern, zwingt zu unserer Stellungnahme die maßgebende kulturpolitische Erscheinung. Nachdem die Industrialisierung die tiefe Kluft zwischen Arbeitern und Unternehmern geschaffen hat, eine Kluft, die nur noch auf dem Lande nicht ganz so störend bemerkbar ist, stehen uns lediglich geistige Gebiete zur Ver¬ fügung, auf denen wir eine Annäherung zwischen den getrennten Volks¬ teilen in den Städten wieder herstellen können. Im Interesse des Volksganzen, des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft!--- Es sei auf die Angaben Monzambanos über "sozialdemokratische Bildungs¬ arbeit" hingewiesen (Grenzboten Heft 34, Jahrgang 1912). Das von uns bemerkte Bedürfnis wird auch seitens der positiven christlichen Bollsteile anerkannt; wir haben die große katholische Bildungsbewegung, wir haben in Berlin unter Leitung der Pastoren Mumm und Jllgenstein auch unter evangelischen Männern Bestrebungen, die sich mit denen der Wildenschaft unter den Studenten in Einklang bringen ließen. Pastor Classen in Hamburg gehört gleichfalls zu den Vorkämpfern. Doch das genügt nicht. Denn wir müssen damit rechnen, daß eine große Anzahl unserer Arbeiter durch die Entwicklung der letzten vierzig Jahre aus der Kirche getrieben worden ist. Da sie aber weder durch Zwang noch durch Überredung wieder zur Kirche zurückzuführen sind, müssen wir, um sie für die nationale Kultur nicht ganz zu verlieren, ihnen auf anderem Wege die Hand reichen. Aus diesen Überlegungen heraus veröffentlichen wir auch die nachfolgenden Arbeiteraussätze, die vor¬ wiegend aus Kreisen stammen, die sozialdemokratisch organisiert sind. Sie mögen eine Stichprobe sein für die Zugänglichkeit der Arbeiter für geistige Güter. Nebenbei tun sie auch dar, in welchem Geiste sie von der studentischen Jugend geleitet werden. Die Wahl des großen Romans von Otto Ludwig, dieses deutschen Heimatdichters, "Zwischen Himmel und Erde" zur gemeinsamen Lektüre zeugt von der feinsinnigen Über¬ G. Cl. legung und dem guten Geschmack der Lehrerschaft. Grenzboten I 1918 21
Arbeiter als literarische Aritiker Dr. in. i vonn Die Grenzboten haben bereits im Jahre 1910 aus die Bestrebungen in der Studentenschaft, der Arbeiterbevölkerung vom reichen Tisch der Wissenschaft abzugeben, hingewiesen. Es gibt viele Kreise in Deutschland, die diesen Bestrebungen nicht nur gleichgültig, sondern sogar feindlich gegenüberstehen, und diese Kreise begründen ihre Stellungnahme mit dem Hinweis, daß die Arbeit zweckmäßiger an den bürgerlichen Schichten, die ebenfalls einer Vertiefung des wissenschaftlichen Besitzes bedürften, geleistet werden sollte. Wir können uns solcher Auffassung nicht an¬ schließen. Ganz abgesehen, daß in den vom Erwerb völlig in Anspruch genommenen bürgerlichen Kreisen das Bildungsbedürfnis, der Bildungs¬ hunger nicht so groß erscheint wie bei den Arbeitern, zwingt zu unserer Stellungnahme die maßgebende kulturpolitische Erscheinung. Nachdem die Industrialisierung die tiefe Kluft zwischen Arbeitern und Unternehmern geschaffen hat, eine Kluft, die nur noch auf dem Lande nicht ganz so störend bemerkbar ist, stehen uns lediglich geistige Gebiete zur Ver¬ fügung, auf denen wir eine Annäherung zwischen den getrennten Volks¬ teilen in den Städten wieder herstellen können. Im Interesse des Volksganzen, des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft!--- Es sei auf die Angaben Monzambanos über „sozialdemokratische Bildungs¬ arbeit" hingewiesen (Grenzboten Heft 34, Jahrgang 1912). Das von uns bemerkte Bedürfnis wird auch seitens der positiven christlichen Bollsteile anerkannt; wir haben die große katholische Bildungsbewegung, wir haben in Berlin unter Leitung der Pastoren Mumm und Jllgenstein auch unter evangelischen Männern Bestrebungen, die sich mit denen der Wildenschaft unter den Studenten in Einklang bringen ließen. Pastor Classen in Hamburg gehört gleichfalls zu den Vorkämpfern. Doch das genügt nicht. Denn wir müssen damit rechnen, daß eine große Anzahl unserer Arbeiter durch die Entwicklung der letzten vierzig Jahre aus der Kirche getrieben worden ist. Da sie aber weder durch Zwang noch durch Überredung wieder zur Kirche zurückzuführen sind, müssen wir, um sie für die nationale Kultur nicht ganz zu verlieren, ihnen auf anderem Wege die Hand reichen. Aus diesen Überlegungen heraus veröffentlichen wir auch die nachfolgenden Arbeiteraussätze, die vor¬ wiegend aus Kreisen stammen, die sozialdemokratisch organisiert sind. Sie mögen eine Stichprobe sein für die Zugänglichkeit der Arbeiter für geistige Güter. Nebenbei tun sie auch dar, in welchem Geiste sie von der studentischen Jugend geleitet werden. Die Wahl des großen Romans von Otto Ludwig, dieses deutschen Heimatdichters, „Zwischen Himmel und Erde" zur gemeinsamen Lektüre zeugt von der feinsinnigen Über¬ G. Cl. legung und dem guten Geschmack der Lehrerschaft. Grenzboten I 1918 21
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Arbeiter als literarische Aritiker
Dr. in. i vonn
Die Grenzboten haben bereits im Jahre 1910 aus die Bestrebungen
in der Studentenschaft, der Arbeiterbevölkerung vom reichen Tisch der
Wissenschaft abzugeben, hingewiesen. Es gibt viele Kreise in Deutschland,
die diesen Bestrebungen nicht nur gleichgültig, sondern sogar feindlich
gegenüberstehen, und diese Kreise begründen ihre Stellungnahme mit
dem Hinweis, daß die Arbeit zweckmäßiger an den bürgerlichen Schichten,
die ebenfalls einer Vertiefung des wissenschaftlichen Besitzes bedürften,
geleistet werden sollte. Wir können uns solcher Auffassung nicht an¬
schließen. Ganz abgesehen, daß in den vom Erwerb völlig in Anspruch
genommenen bürgerlichen Kreisen das Bildungsbedürfnis, der Bildungs¬
hunger nicht so groß erscheint wie bei den Arbeitern, zwingt zu unserer
Stellungnahme die maßgebende kulturpolitische Erscheinung. Nachdem
die Industrialisierung die tiefe Kluft zwischen Arbeitern und Unternehmern
geschaffen hat, eine Kluft, die nur noch auf dem Lande nicht ganz so
störend bemerkbar ist, stehen uns lediglich geistige Gebiete zur Ver¬
fügung, auf denen wir eine Annäherung zwischen den getrennten Volks¬
teilen in den Städten wieder herstellen können. Im Interesse des
Volksganzen, des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft!---
Es sei auf die Angaben Monzambanos über „sozialdemokratische Bildungs¬
arbeit" hingewiesen (Grenzboten Heft 34, Jahrgang 1912). Das von
uns bemerkte Bedürfnis wird auch seitens der positiven christlichen
Bollsteile anerkannt; wir haben die große katholische Bildungsbewegung,
wir haben in Berlin unter Leitung der Pastoren Mumm und Jllgenstein
auch unter evangelischen Männern Bestrebungen, die sich mit denen
der Wildenschaft unter den Studenten in Einklang bringen ließen. Pastor
Classen in Hamburg gehört gleichfalls zu den Vorkämpfern. Doch das
genügt nicht. Denn wir müssen damit rechnen, daß eine große Anzahl
unserer Arbeiter durch die Entwicklung der letzten vierzig Jahre aus der
Kirche getrieben worden ist. Da sie aber weder durch Zwang noch
durch Überredung wieder zur Kirche zurückzuführen sind, müssen wir,
um sie für die nationale Kultur nicht ganz zu verlieren, ihnen auf
anderem Wege die Hand reichen. Aus diesen Überlegungen heraus
veröffentlichen wir auch die nachfolgenden Arbeiteraussätze, die vor¬
wiegend aus Kreisen stammen, die sozialdemokratisch organisiert sind.
Sie mögen eine Stichprobe sein für die Zugänglichkeit der Arbeiter
für geistige Güter. Nebenbei tun sie auch dar, in welchem Geiste sie von
der studentischen Jugend geleitet werden. Die Wahl des großen Romans
von Otto Ludwig, dieses deutschen Heimatdichters, „Zwischen Himmel
und Erde" zur gemeinsamen Lektüre zeugt von der feinsinnigen Über¬
G. Cl. legung und dem guten Geschmack der Lehrerschaft.
Grenzboten I 1918 21
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