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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Agrcire Reformen in Rußland

wird. Deutschland ist auf Rußland, Rußland auf Deutschland angewiesen, der
russische Export nach Deutschland ist ebenso steigerungsfähig wie der deutsche
Export nach Rußland, beide Staaten zählen sich gegenseitig zu den besten Ab¬
nehmern ihrer Erzeugnisse; möge hier wie dort die leider nicht mehr bei allen
Handelsvertragsverhandlungen vertretene Auffassung sich durchsetzen, daß letzten
Endes Handelsverträge nicht den Austausch von Gütern hemmen, sondern ihn
fördern sollen/) "




Nachwort des Herausgebers:

Zur Veröffentlichung des Herrn Dr. Linde seien einige Bemerkungen nach¬
getragen, die mir infolge meiner abweichenden Auffassung vom Mir notwendig
erscheinen.

Herrn Lindes Auffassung vom Mir stimmt allerdings mit der russisch-
offiziell geäußerten überein, aber sie wird doch der großen kulturellen und politischen
Bedeutung dieser eigenartigen Blüte völkischer Organisation für Rußland und
das russische Volk nicht gerecht. Der Mir an sich war nicht so schlecht, wie
ihn schließlich die Regierung hingestellt hat, um ihn im Jahre 1906 gegen
den Willen der Slavjanophilen beseitigen zu können. Wenn er an den
großen Schäden der russischen Wirtschaft mit schuld ist, so liegt dies daran,
daß die russische Negierung (hier gleichbedeutend mit Polizei) die innere Ent¬
wicklung des Mir gewaltsam aufgehalten hat. Die Reform von 1861
hat den Bauern aus der Hörigkeit des Adels unter die der Polizei gebracht und,
während in den Jahren der Negierung Nikolaus des Ersten tüchtige intelligente
Leibeigene immerhin Millionäre werden konnten, gelang solch Streben seit 1861
eigentlich nur denen von den Mirangehörigen, die von Anfang an über Geld
verfügten. Da aber das Geld ausschlaggebend wurde, blühte wohl der Handel
und entstanden große stadtartige Gebilde, aber die Landwirtschaft, bäuerliche
und gutsherrliche, lag danieder. Die im Mir organisierten sozialen Kräfte
durften sich aber selbst im Rahmen des Mir nicht entwickeln. Im revolutio¬
nierten Rußland wagte keine Negierung, auch Stolrwin nicht, dein Genossenschafts¬
wesen im Zusammenhange mit dem Mir jene Bedeutung zu geben, die es etwa



") In Anbetracht der Wichtigkeit des Gegenstandes möchte ich nicht unterlassen auf zwei,
auch von mir mehrfach benutzte Arbeiten hinzuweisen. Die eine Arbeit hat F. von Wrangell-
St, Petersburg unter dem Titel: "Die agrare Neugestaltung Rußlands" in Schmollers Jahr¬
buch 36. Jahrgang 1. Heft veröffentlicht. Die andere Arbeit ist ein Vortrag des Revisors
der Landorganisation A. Koefoed, der unter dem Titel: "Die gegenwärtige russische Agrar¬
gesetzgebung und ihre Durchführung in der Praxis" in der Zeitschrift für Agrarpolitik
10. Jahrgang 7. Heft veröffentlicht ist. Wie bereits der Titel sagt, beschäftigt sich K. ins¬
besondere auch mit der Durchführung der Landorganisationsgesetze in der Praxis, eine Frage,
die hier aus räumlichen Gründen nicht berührt worden ist. Da K. das amtliche Material
zugänglich war, sind seine Zahlenangaben durchweg auf den neuesten Stand (1. Januar 1912)
g L. ebracht.
Agrcire Reformen in Rußland

wird. Deutschland ist auf Rußland, Rußland auf Deutschland angewiesen, der
russische Export nach Deutschland ist ebenso steigerungsfähig wie der deutsche
Export nach Rußland, beide Staaten zählen sich gegenseitig zu den besten Ab¬
nehmern ihrer Erzeugnisse; möge hier wie dort die leider nicht mehr bei allen
Handelsvertragsverhandlungen vertretene Auffassung sich durchsetzen, daß letzten
Endes Handelsverträge nicht den Austausch von Gütern hemmen, sondern ihn
fördern sollen/) »




Nachwort des Herausgebers:

Zur Veröffentlichung des Herrn Dr. Linde seien einige Bemerkungen nach¬
getragen, die mir infolge meiner abweichenden Auffassung vom Mir notwendig
erscheinen.

Herrn Lindes Auffassung vom Mir stimmt allerdings mit der russisch-
offiziell geäußerten überein, aber sie wird doch der großen kulturellen und politischen
Bedeutung dieser eigenartigen Blüte völkischer Organisation für Rußland und
das russische Volk nicht gerecht. Der Mir an sich war nicht so schlecht, wie
ihn schließlich die Regierung hingestellt hat, um ihn im Jahre 1906 gegen
den Willen der Slavjanophilen beseitigen zu können. Wenn er an den
großen Schäden der russischen Wirtschaft mit schuld ist, so liegt dies daran,
daß die russische Negierung (hier gleichbedeutend mit Polizei) die innere Ent¬
wicklung des Mir gewaltsam aufgehalten hat. Die Reform von 1861
hat den Bauern aus der Hörigkeit des Adels unter die der Polizei gebracht und,
während in den Jahren der Negierung Nikolaus des Ersten tüchtige intelligente
Leibeigene immerhin Millionäre werden konnten, gelang solch Streben seit 1861
eigentlich nur denen von den Mirangehörigen, die von Anfang an über Geld
verfügten. Da aber das Geld ausschlaggebend wurde, blühte wohl der Handel
und entstanden große stadtartige Gebilde, aber die Landwirtschaft, bäuerliche
und gutsherrliche, lag danieder. Die im Mir organisierten sozialen Kräfte
durften sich aber selbst im Rahmen des Mir nicht entwickeln. Im revolutio¬
nierten Rußland wagte keine Negierung, auch Stolrwin nicht, dein Genossenschafts¬
wesen im Zusammenhange mit dem Mir jene Bedeutung zu geben, die es etwa



") In Anbetracht der Wichtigkeit des Gegenstandes möchte ich nicht unterlassen auf zwei,
auch von mir mehrfach benutzte Arbeiten hinzuweisen. Die eine Arbeit hat F. von Wrangell-
St, Petersburg unter dem Titel: „Die agrare Neugestaltung Rußlands" in Schmollers Jahr¬
buch 36. Jahrgang 1. Heft veröffentlicht. Die andere Arbeit ist ein Vortrag des Revisors
der Landorganisation A. Koefoed, der unter dem Titel: „Die gegenwärtige russische Agrar¬
gesetzgebung und ihre Durchführung in der Praxis" in der Zeitschrift für Agrarpolitik
10. Jahrgang 7. Heft veröffentlicht ist. Wie bereits der Titel sagt, beschäftigt sich K. ins¬
besondere auch mit der Durchführung der Landorganisationsgesetze in der Praxis, eine Frage,
die hier aus räumlichen Gründen nicht berührt worden ist. Da K. das amtliche Material
zugänglich war, sind seine Zahlenangaben durchweg auf den neuesten Stand (1. Januar 1912)
g L. ebracht.
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[0033] Agrcire Reformen in Rußland wird. Deutschland ist auf Rußland, Rußland auf Deutschland angewiesen, der russische Export nach Deutschland ist ebenso steigerungsfähig wie der deutsche Export nach Rußland, beide Staaten zählen sich gegenseitig zu den besten Ab¬ nehmern ihrer Erzeugnisse; möge hier wie dort die leider nicht mehr bei allen Handelsvertragsverhandlungen vertretene Auffassung sich durchsetzen, daß letzten Endes Handelsverträge nicht den Austausch von Gütern hemmen, sondern ihn fördern sollen/) » Nachwort des Herausgebers: Zur Veröffentlichung des Herrn Dr. Linde seien einige Bemerkungen nach¬ getragen, die mir infolge meiner abweichenden Auffassung vom Mir notwendig erscheinen. Herrn Lindes Auffassung vom Mir stimmt allerdings mit der russisch- offiziell geäußerten überein, aber sie wird doch der großen kulturellen und politischen Bedeutung dieser eigenartigen Blüte völkischer Organisation für Rußland und das russische Volk nicht gerecht. Der Mir an sich war nicht so schlecht, wie ihn schließlich die Regierung hingestellt hat, um ihn im Jahre 1906 gegen den Willen der Slavjanophilen beseitigen zu können. Wenn er an den großen Schäden der russischen Wirtschaft mit schuld ist, so liegt dies daran, daß die russische Negierung (hier gleichbedeutend mit Polizei) die innere Ent¬ wicklung des Mir gewaltsam aufgehalten hat. Die Reform von 1861 hat den Bauern aus der Hörigkeit des Adels unter die der Polizei gebracht und, während in den Jahren der Negierung Nikolaus des Ersten tüchtige intelligente Leibeigene immerhin Millionäre werden konnten, gelang solch Streben seit 1861 eigentlich nur denen von den Mirangehörigen, die von Anfang an über Geld verfügten. Da aber das Geld ausschlaggebend wurde, blühte wohl der Handel und entstanden große stadtartige Gebilde, aber die Landwirtschaft, bäuerliche und gutsherrliche, lag danieder. Die im Mir organisierten sozialen Kräfte durften sich aber selbst im Rahmen des Mir nicht entwickeln. Im revolutio¬ nierten Rußland wagte keine Negierung, auch Stolrwin nicht, dein Genossenschafts¬ wesen im Zusammenhange mit dem Mir jene Bedeutung zu geben, die es etwa ") In Anbetracht der Wichtigkeit des Gegenstandes möchte ich nicht unterlassen auf zwei, auch von mir mehrfach benutzte Arbeiten hinzuweisen. Die eine Arbeit hat F. von Wrangell- St, Petersburg unter dem Titel: „Die agrare Neugestaltung Rußlands" in Schmollers Jahr¬ buch 36. Jahrgang 1. Heft veröffentlicht. Die andere Arbeit ist ein Vortrag des Revisors der Landorganisation A. Koefoed, der unter dem Titel: „Die gegenwärtige russische Agrar¬ gesetzgebung und ihre Durchführung in der Praxis" in der Zeitschrift für Agrarpolitik 10. Jahrgang 7. Heft veröffentlicht ist. Wie bereits der Titel sagt, beschäftigt sich K. ins¬ besondere auch mit der Durchführung der Landorganisationsgesetze in der Praxis, eine Frage, die hier aus räumlichen Gründen nicht berührt worden ist. Da K. das amtliche Material zugänglich war, sind seine Zahlenangaben durchweg auf den neuesten Stand (1. Januar 1912) g L. ebracht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/33>, abgerufen am 15.01.2025.