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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Meister entstanden, der moderne sieht im all¬
gemeinen verständiger aus. Er Predigt nicht
die Religion der Kunst, er schildert Zeit,
Tätigkeit und Leben, ja er will vorzugsweise
durch eine pragmatischeVerknüpfung historischer
Notizen belehren und ist insofern eine nützliche
Kost für Leser, die sich Wohl mit kunsthisto¬
rischen Dingen beschäftigen möchten, aber nicht
über genügende Ausdauer oder Bildung ver¬
fügen, um wissenschaftliche Bücher selber
durchzuarbeiten. Ein besonders für die reifere
Jugend geeignetes gutes Muster dieser Gattung
ist H. von Schockers auf fleißigen Studien
beruhender "Rafael von Arpino" (Leipzig
1911, Verlagsbuchhandlung Schulze u, Co.
3,6(1 M.), der Wohl geeignet ist, das eine
Zeitlang zurückgetretene Interesse an dem
großen Klassiker wieder zu beleben. Weit tiefer
und gründlicher ist jedoch D. Mereschkowskis
"Leonardo da Vinci" (Ders. Verlag. Volks¬
ausgabe 3 M). Auch hier kann man nicht
eigentlich von einem Kunstwerk reden, dazu
ist das Kulturhistorische zu breit behandelt
und die Haupthandlung nicht interessant und
einheitlich genug. Aber das Problematische
in Leonardos Wesen, die Art, wie tiefste
Erkenntnis ihm die Tatkraft unterbindet, ist
vortrefflich herausgearbeitet. Doch soll nicht
der große Künstler allein geschildert werden,
auch seine Zeit, und da unterbreitet der Autor
dem Wifz- und Schaubegierigen ein in der
Tat vollständiges Bild aller Bestrebungen und
Gesinnungen einer äußerlich noch glänzenden,
innerlich aber schon sich zersetzenden Zeit.
Hoffeste und Volksauflaufe, Humanistik und
Alchemie, Mönchtum und Hexerei sind hier
mit gleich großer Akkuratesse geschildert, und
die interessanteste Figur neben dem Helden,
der häufig auftauchende Niccolo Macchiavelli
darf sogar eine hervorragende künstlerische
Leistung genannt werden. Im ganzen ein
Buch, das lange festhält und einen bleibenden
-- a -- Eindruck hinterläßt.

Literaturgeschichte

Geschichte der schweizerischen Literatur,
von Jenny u. Rössel. Bern, A. Francke, 1911.
2 Bde. 8 M.

Ein Werk so unschweizerisch wie nur
denkbar. schwankend und unsicher in der
Methode, oberflächlich und nur auf das

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Sinnenfällige gerichtet in der Beobachtung,
geschwollen und redselig im Ausdruck. Die
Paar guten Bemerkungen, die sich hier und
dort finden, wie die Bezeichnung der Gesell-
schaftsphilvsophie im achtzehnten Jahrhundert
als verborgen materialistisch, oder die Be¬
tonung von C. F. Meyers schwüler Natur, die
sich hinter eine straffe Selbstdisziplin ver¬
birgt, -- bleiben gelungene Einfälle, sie hatten
keine Zeit zu Gedanken heranzureifen und
die Darstellung des Tatsachenmaterials grund¬
sätzlich zu durchdringen. Noch so gute Ein¬
fälle können ein zweibändiges Werk, das eine
Reihe wertvoller Einzelarbeiten unter ein¬
heitlichem Gesichtspunkt zusammenzufassen be¬
ansprucht, nicht retten. Der Grundgedanke
selber ist als guter Einfall in der Einleitung
steckengeblieben und vermochte nicht Trag¬
pfeiler des Ganzen zu werden: die poetische
Vergangenheit und Gegenwart aller eid¬
genossenschaftlichen Völker als einheitliche
Äußerung des schweizerischen Nationalbewußt¬
seins darzustellen -- der Sprachgrenzen und
Rassenverschiedenheiten ungeachtet.

Ich habe in meinem Buche: Teilprobleme
(Berlin 1910) die Möglichkeit einer schweize¬
rischen Nation eingehend erörtert und ver¬
weise hier auf jene Begründungen, die mich
zu demi Schluß kommen ließen, daß seit 1843
ein interkantonales schweizerisches National¬
dasein sich entwickelt. Auch ließ sich die
gegenwärtige Entwicklungsstufe bestimmt und
unzweideutig dahin feststellen, daß die Ent¬
wicklung bei weitem nicht abgeschlossen ist,
daß wir es in der Hinsicht mit dem Wer¬
denden, nicht mit dem Fertigen zu tun haben.
Diesbezüglich gehen die Verfasser in ihrer
Einleitung einig mit mir, unterlassen aber
die methodische Konsequenz: "die Entwicklung
des schweizerischen Nationalismus als glie¬
derndes Prinzip durchzuführen Die Zeit vor
1843 hätte demnach nur als Provinziallite-
ratur behandelt werden dürfen, wie dies
Bäcbthold oder Godet getan haben, da es
doch bis dahin eine schweizerische Literatur
nur in dem Sinne gab, wie es eine mecklen¬
burgische oder eine normannische gibt, als
Zweiggebiet der deutschen, beziehungsweise
der französischen. Die glückliche Neugestaltung
der Schweiz im Jahre 1848 konnte die Volks¬
seele auch nicht über Nacht neu gebären und

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Meister entstanden, der moderne sieht im all¬
gemeinen verständiger aus. Er Predigt nicht
die Religion der Kunst, er schildert Zeit,
Tätigkeit und Leben, ja er will vorzugsweise
durch eine pragmatischeVerknüpfung historischer
Notizen belehren und ist insofern eine nützliche
Kost für Leser, die sich Wohl mit kunsthisto¬
rischen Dingen beschäftigen möchten, aber nicht
über genügende Ausdauer oder Bildung ver¬
fügen, um wissenschaftliche Bücher selber
durchzuarbeiten. Ein besonders für die reifere
Jugend geeignetes gutes Muster dieser Gattung
ist H. von Schockers auf fleißigen Studien
beruhender „Rafael von Arpino" (Leipzig
1911, Verlagsbuchhandlung Schulze u, Co.
3,6(1 M.), der Wohl geeignet ist, das eine
Zeitlang zurückgetretene Interesse an dem
großen Klassiker wieder zu beleben. Weit tiefer
und gründlicher ist jedoch D. Mereschkowskis
„Leonardo da Vinci" (Ders. Verlag. Volks¬
ausgabe 3 M). Auch hier kann man nicht
eigentlich von einem Kunstwerk reden, dazu
ist das Kulturhistorische zu breit behandelt
und die Haupthandlung nicht interessant und
einheitlich genug. Aber das Problematische
in Leonardos Wesen, die Art, wie tiefste
Erkenntnis ihm die Tatkraft unterbindet, ist
vortrefflich herausgearbeitet. Doch soll nicht
der große Künstler allein geschildert werden,
auch seine Zeit, und da unterbreitet der Autor
dem Wifz- und Schaubegierigen ein in der
Tat vollständiges Bild aller Bestrebungen und
Gesinnungen einer äußerlich noch glänzenden,
innerlich aber schon sich zersetzenden Zeit.
Hoffeste und Volksauflaufe, Humanistik und
Alchemie, Mönchtum und Hexerei sind hier
mit gleich großer Akkuratesse geschildert, und
die interessanteste Figur neben dem Helden,
der häufig auftauchende Niccolo Macchiavelli
darf sogar eine hervorragende künstlerische
Leistung genannt werden. Im ganzen ein
Buch, das lange festhält und einen bleibenden
— a — Eindruck hinterläßt.

Literaturgeschichte

Geschichte der schweizerischen Literatur,
von Jenny u. Rössel. Bern, A. Francke, 1911.
2 Bde. 8 M.

Ein Werk so unschweizerisch wie nur
denkbar. schwankend und unsicher in der
Methode, oberflächlich und nur auf das

[Spaltenumbruch]

Sinnenfällige gerichtet in der Beobachtung,
geschwollen und redselig im Ausdruck. Die
Paar guten Bemerkungen, die sich hier und
dort finden, wie die Bezeichnung der Gesell-
schaftsphilvsophie im achtzehnten Jahrhundert
als verborgen materialistisch, oder die Be¬
tonung von C. F. Meyers schwüler Natur, die
sich hinter eine straffe Selbstdisziplin ver¬
birgt, — bleiben gelungene Einfälle, sie hatten
keine Zeit zu Gedanken heranzureifen und
die Darstellung des Tatsachenmaterials grund¬
sätzlich zu durchdringen. Noch so gute Ein¬
fälle können ein zweibändiges Werk, das eine
Reihe wertvoller Einzelarbeiten unter ein¬
heitlichem Gesichtspunkt zusammenzufassen be¬
ansprucht, nicht retten. Der Grundgedanke
selber ist als guter Einfall in der Einleitung
steckengeblieben und vermochte nicht Trag¬
pfeiler des Ganzen zu werden: die poetische
Vergangenheit und Gegenwart aller eid¬
genossenschaftlichen Völker als einheitliche
Äußerung des schweizerischen Nationalbewußt¬
seins darzustellen — der Sprachgrenzen und
Rassenverschiedenheiten ungeachtet.

Ich habe in meinem Buche: Teilprobleme
(Berlin 1910) die Möglichkeit einer schweize¬
rischen Nation eingehend erörtert und ver¬
weise hier auf jene Begründungen, die mich
zu demi Schluß kommen ließen, daß seit 1843
ein interkantonales schweizerisches National¬
dasein sich entwickelt. Auch ließ sich die
gegenwärtige Entwicklungsstufe bestimmt und
unzweideutig dahin feststellen, daß die Ent¬
wicklung bei weitem nicht abgeschlossen ist,
daß wir es in der Hinsicht mit dem Wer¬
denden, nicht mit dem Fertigen zu tun haben.
Diesbezüglich gehen die Verfasser in ihrer
Einleitung einig mit mir, unterlassen aber
die methodische Konsequenz: „die Entwicklung
des schweizerischen Nationalismus als glie¬
derndes Prinzip durchzuführen Die Zeit vor
1843 hätte demnach nur als Provinziallite-
ratur behandelt werden dürfen, wie dies
Bäcbthold oder Godet getan haben, da es
doch bis dahin eine schweizerische Literatur
nur in dem Sinne gab, wie es eine mecklen¬
burgische oder eine normannische gibt, als
Zweiggebiet der deutschen, beziehungsweise
der französischen. Die glückliche Neugestaltung
der Schweiz im Jahre 1848 konnte die Volks¬
seele auch nicht über Nacht neu gebären und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/490>, abgerufen am 29.06.2024.