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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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beiden ersten Lieferungen verspricht, ein star-
<jar6 worK auf diesem Gebiete zu werden,
in dem der Jugendpfleger nicht nur treuen,
verläßlichen Rat in allen Fragen der Praxis,
sondern auch das liternrische Mittel zu eigener
Weiterbildung findet. Dieses Werk dürfte den
Gedanken der Jugendpflege, die ein Stück des
großen Lebens der Gegenwart ist, auch wei¬
teren Kreisen verständlich und beachtlich machen.
Möge es dazu führen, daß nicht bloß in dem
heutigen kleinen Kreise der Jugendarbeiter,
sondern im breiten Loben unseres Volkes,
zuvörderst bei den Gebildeten und Besitzenden,
das Wort Carlyles wieder zur Geltung ge¬
lange, "daß die Gebildeten und Besitzenden
nur dann ein Existenzrecht auf Erden haben,
wenn ihre höchste Liebe der Aufwärtsentwick¬
lung der Massen gewidmet ist."

Dr. Fritz Roeder
Jugendschriften.

Der Verlag Ullstein u. Co.
hat Rudolf Herzog veranlaßt, "Die Nive-
lungensagc" in zwei Bändchen der Ullstein-
Jugendvücher zu behandeln (1. Siegfried der
Held. 2. Der Nibelungen Fahrt ins Hunnen¬
land, je 1 Mark). Franz Stassen hat Bilder
dazu gemacht, von denen die bunten ab¬
schreckend sind, während die Holzschnitte des
Künstlers bewährte Art zeigen. stofflich
stehen sie zu sehr unter dem Einfluß von
Rudolf Herzogs sentimentalen Text. Wer
die alten Sagen kennt, aus denen das Nibe¬
lungenlied um 1200 zusammengeschrieben
wurde, empfindet schon diese Bearbeitung
teilweise als VerWässerung. Bei jeder Moder¬
nisierung eines alten Stoffes ist die Gefahr
vorhanden, daß man das, was ahnungsvoll
zwischen den Zeilen stand, zur Verdeutlichung
ausführt und die keusche Lakonie in breite
Bettelsuppe verwandelt. Das ist Rudolf
Herzog über Erwarten gelungen. Besonders
häßlich tritt die Neigung, alles deutlich zu
machen, bei den Gefühlsäußerungen hervor.
So, wenn es von Siegfried, als Kriemhild
ihm "mit zitternden Händen" den Kranz ins
Haar drückt, heißt:

"Da schaute er auf, und ihre Augen be¬
gegneten sich, wurden groß und weit, tranken
sich satt und wollten sich nicht mehr lassen.
Und Kriemhild beugte sich über ihn, der
immer noch vor ihr kniete, und Auge in Auge
versenkt, küßte sie ihn auf den Mund."

[Spaltenumbruch]

In dieser Modernisierung ist das letzte
Große aus der Ribelungensage verschwunden.
Alles ist im Tone eines modernen Salon¬
romanes vorgetragen, mit viel Geschick er¬
zählt, aber eine unfreiwillige empörende
Parodie, die man ja nicht den Kindern in
die Hände geben soll. Je objektiver, desto
besser für die Kinder. Psychologische und
stilistische Anachronismen sind verbitterter und
irreführender, als sachliche. Eine Sentimenta-
lisierung der Nibelungen konnten wir gerade
Fritz Tychow- noch brauchen!

Kindcrmißhandlungen.


Die Novelle zum
Strafgesetzbuch, die in der am 21. Juni 1912
ausgegebenen Nummer des Reichsgesetzblattes
jetzt erschienen ist, bringt eine -- allen denen,
die sich für die moderne Jugendschutzbewegnng
interessieren -- hocherfreuliche Bestimmung:
Dem § 223 a, dem sogenannten Messerpara¬
graphen, welcherdieKörperverletzung, begangen
mittels eines gefährlichen Werkzeuges, mit
Gefängnis von zwei Monaten an (bei mil¬
dernden Umständen mit Geldstrafe oder Ge¬
fängnis) bestraft, wird ein neuer Absatz hin¬
zugefügt:

"Gleiche Strafe tritt ein, wenn gegen eine
noch nicht achtzehn Jahre alte oder wegen
Gebrechlichkeit oder Krankheit wehrlose Per¬
son, die der Fürsorge oder Obhut des
Täters untersteht oder seinem Hausstande
angehört, oder die der Fürsorgepflichtige
der Gewalt des Täters überlassen hat, eine
Körperverletzung mittels grausamer oder bos¬
hafter Behandlung begangen wird."

Hiermit wird der erste Schritt getan,
einem der Hauptmißstände auf dein Gebiete
unserer Strafrechtspflege abzuhelfen, welcher
auch die Öffentlichkeit schon des öfteren er¬
regt hat.

Auch der Fernstehende weiß heutzutage,
wie verbreitet in den unteren Schichten der
Bevölkerung Kindermißhandlungen sind. Das
ist eine Folge der gedrückten sozialen Ver¬
hältnisse: der tägliche Kampf um die not-
wendigstenLevensbedürfnisse stumpftdas feinere
Empfinden ab und läßt jedes, der Familie
unerwünscht hinzugekommene Kind als un¬
nützen Mitesser erscheinen, für das man mög¬
lichst wenig Zeit und Geld aufwenden mag.
Psychische Momente, wie die Gefühle der un-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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beiden ersten Lieferungen verspricht, ein star-
<jar6 worK auf diesem Gebiete zu werden,
in dem der Jugendpfleger nicht nur treuen,
verläßlichen Rat in allen Fragen der Praxis,
sondern auch das liternrische Mittel zu eigener
Weiterbildung findet. Dieses Werk dürfte den
Gedanken der Jugendpflege, die ein Stück des
großen Lebens der Gegenwart ist, auch wei¬
teren Kreisen verständlich und beachtlich machen.
Möge es dazu führen, daß nicht bloß in dem
heutigen kleinen Kreise der Jugendarbeiter,
sondern im breiten Loben unseres Volkes,
zuvörderst bei den Gebildeten und Besitzenden,
das Wort Carlyles wieder zur Geltung ge¬
lange, „daß die Gebildeten und Besitzenden
nur dann ein Existenzrecht auf Erden haben,
wenn ihre höchste Liebe der Aufwärtsentwick¬
lung der Massen gewidmet ist."

Dr. Fritz Roeder
Jugendschriften.

Der Verlag Ullstein u. Co.
hat Rudolf Herzog veranlaßt, „Die Nive-
lungensagc" in zwei Bändchen der Ullstein-
Jugendvücher zu behandeln (1. Siegfried der
Held. 2. Der Nibelungen Fahrt ins Hunnen¬
land, je 1 Mark). Franz Stassen hat Bilder
dazu gemacht, von denen die bunten ab¬
schreckend sind, während die Holzschnitte des
Künstlers bewährte Art zeigen. stofflich
stehen sie zu sehr unter dem Einfluß von
Rudolf Herzogs sentimentalen Text. Wer
die alten Sagen kennt, aus denen das Nibe¬
lungenlied um 1200 zusammengeschrieben
wurde, empfindet schon diese Bearbeitung
teilweise als VerWässerung. Bei jeder Moder¬
nisierung eines alten Stoffes ist die Gefahr
vorhanden, daß man das, was ahnungsvoll
zwischen den Zeilen stand, zur Verdeutlichung
ausführt und die keusche Lakonie in breite
Bettelsuppe verwandelt. Das ist Rudolf
Herzog über Erwarten gelungen. Besonders
häßlich tritt die Neigung, alles deutlich zu
machen, bei den Gefühlsäußerungen hervor.
So, wenn es von Siegfried, als Kriemhild
ihm „mit zitternden Händen" den Kranz ins
Haar drückt, heißt:

„Da schaute er auf, und ihre Augen be¬
gegneten sich, wurden groß und weit, tranken
sich satt und wollten sich nicht mehr lassen.
Und Kriemhild beugte sich über ihn, der
immer noch vor ihr kniete, und Auge in Auge
versenkt, küßte sie ihn auf den Mund."

[Spaltenumbruch]

In dieser Modernisierung ist das letzte
Große aus der Ribelungensage verschwunden.
Alles ist im Tone eines modernen Salon¬
romanes vorgetragen, mit viel Geschick er¬
zählt, aber eine unfreiwillige empörende
Parodie, die man ja nicht den Kindern in
die Hände geben soll. Je objektiver, desto
besser für die Kinder. Psychologische und
stilistische Anachronismen sind verbitterter und
irreführender, als sachliche. Eine Sentimenta-
lisierung der Nibelungen konnten wir gerade
Fritz Tychow- noch brauchen!

Kindcrmißhandlungen.


Die Novelle zum
Strafgesetzbuch, die in der am 21. Juni 1912
ausgegebenen Nummer des Reichsgesetzblattes
jetzt erschienen ist, bringt eine — allen denen,
die sich für die moderne Jugendschutzbewegnng
interessieren — hocherfreuliche Bestimmung:
Dem § 223 a, dem sogenannten Messerpara¬
graphen, welcherdieKörperverletzung, begangen
mittels eines gefährlichen Werkzeuges, mit
Gefängnis von zwei Monaten an (bei mil¬
dernden Umständen mit Geldstrafe oder Ge¬
fängnis) bestraft, wird ein neuer Absatz hin¬
zugefügt:

„Gleiche Strafe tritt ein, wenn gegen eine
noch nicht achtzehn Jahre alte oder wegen
Gebrechlichkeit oder Krankheit wehrlose Per¬
son, die der Fürsorge oder Obhut des
Täters untersteht oder seinem Hausstande
angehört, oder die der Fürsorgepflichtige
der Gewalt des Täters überlassen hat, eine
Körperverletzung mittels grausamer oder bos¬
hafter Behandlung begangen wird."

Hiermit wird der erste Schritt getan,
einem der Hauptmißstände auf dein Gebiete
unserer Strafrechtspflege abzuhelfen, welcher
auch die Öffentlichkeit schon des öfteren er¬
regt hat.

Auch der Fernstehende weiß heutzutage,
wie verbreitet in den unteren Schichten der
Bevölkerung Kindermißhandlungen sind. Das
ist eine Folge der gedrückten sozialen Ver¬
hältnisse: der tägliche Kampf um die not-
wendigstenLevensbedürfnisse stumpftdas feinere
Empfinden ab und läßt jedes, der Familie
unerwünscht hinzugekommene Kind als un¬
nützen Mitesser erscheinen, für das man mög¬
lichst wenig Zeit und Geld aufwenden mag.
Psychische Momente, wie die Gefühle der un-

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[0196] Maßgebliches und Unmaßgebliches beiden ersten Lieferungen verspricht, ein star- <jar6 worK auf diesem Gebiete zu werden, in dem der Jugendpfleger nicht nur treuen, verläßlichen Rat in allen Fragen der Praxis, sondern auch das liternrische Mittel zu eigener Weiterbildung findet. Dieses Werk dürfte den Gedanken der Jugendpflege, die ein Stück des großen Lebens der Gegenwart ist, auch wei¬ teren Kreisen verständlich und beachtlich machen. Möge es dazu führen, daß nicht bloß in dem heutigen kleinen Kreise der Jugendarbeiter, sondern im breiten Loben unseres Volkes, zuvörderst bei den Gebildeten und Besitzenden, das Wort Carlyles wieder zur Geltung ge¬ lange, „daß die Gebildeten und Besitzenden nur dann ein Existenzrecht auf Erden haben, wenn ihre höchste Liebe der Aufwärtsentwick¬ lung der Massen gewidmet ist." Dr. Fritz Roeder Jugendschriften. Der Verlag Ullstein u. Co. hat Rudolf Herzog veranlaßt, „Die Nive- lungensagc" in zwei Bändchen der Ullstein- Jugendvücher zu behandeln (1. Siegfried der Held. 2. Der Nibelungen Fahrt ins Hunnen¬ land, je 1 Mark). Franz Stassen hat Bilder dazu gemacht, von denen die bunten ab¬ schreckend sind, während die Holzschnitte des Künstlers bewährte Art zeigen. stofflich stehen sie zu sehr unter dem Einfluß von Rudolf Herzogs sentimentalen Text. Wer die alten Sagen kennt, aus denen das Nibe¬ lungenlied um 1200 zusammengeschrieben wurde, empfindet schon diese Bearbeitung teilweise als VerWässerung. Bei jeder Moder¬ nisierung eines alten Stoffes ist die Gefahr vorhanden, daß man das, was ahnungsvoll zwischen den Zeilen stand, zur Verdeutlichung ausführt und die keusche Lakonie in breite Bettelsuppe verwandelt. Das ist Rudolf Herzog über Erwarten gelungen. Besonders häßlich tritt die Neigung, alles deutlich zu machen, bei den Gefühlsäußerungen hervor. So, wenn es von Siegfried, als Kriemhild ihm „mit zitternden Händen" den Kranz ins Haar drückt, heißt: „Da schaute er auf, und ihre Augen be¬ gegneten sich, wurden groß und weit, tranken sich satt und wollten sich nicht mehr lassen. Und Kriemhild beugte sich über ihn, der immer noch vor ihr kniete, und Auge in Auge versenkt, küßte sie ihn auf den Mund." In dieser Modernisierung ist das letzte Große aus der Ribelungensage verschwunden. Alles ist im Tone eines modernen Salon¬ romanes vorgetragen, mit viel Geschick er¬ zählt, aber eine unfreiwillige empörende Parodie, die man ja nicht den Kindern in die Hände geben soll. Je objektiver, desto besser für die Kinder. Psychologische und stilistische Anachronismen sind verbitterter und irreführender, als sachliche. Eine Sentimenta- lisierung der Nibelungen konnten wir gerade Fritz Tychow- noch brauchen! Kindcrmißhandlungen. Die Novelle zum Strafgesetzbuch, die in der am 21. Juni 1912 ausgegebenen Nummer des Reichsgesetzblattes jetzt erschienen ist, bringt eine — allen denen, die sich für die moderne Jugendschutzbewegnng interessieren — hocherfreuliche Bestimmung: Dem § 223 a, dem sogenannten Messerpara¬ graphen, welcherdieKörperverletzung, begangen mittels eines gefährlichen Werkzeuges, mit Gefängnis von zwei Monaten an (bei mil¬ dernden Umständen mit Geldstrafe oder Ge¬ fängnis) bestraft, wird ein neuer Absatz hin¬ zugefügt: „Gleiche Strafe tritt ein, wenn gegen eine noch nicht achtzehn Jahre alte oder wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit wehrlose Per¬ son, die der Fürsorge oder Obhut des Täters untersteht oder seinem Hausstande angehört, oder die der Fürsorgepflichtige der Gewalt des Täters überlassen hat, eine Körperverletzung mittels grausamer oder bos¬ hafter Behandlung begangen wird." Hiermit wird der erste Schritt getan, einem der Hauptmißstände auf dein Gebiete unserer Strafrechtspflege abzuhelfen, welcher auch die Öffentlichkeit schon des öfteren er¬ regt hat. Auch der Fernstehende weiß heutzutage, wie verbreitet in den unteren Schichten der Bevölkerung Kindermißhandlungen sind. Das ist eine Folge der gedrückten sozialen Ver¬ hältnisse: der tägliche Kampf um die not- wendigstenLevensbedürfnisse stumpftdas feinere Empfinden ab und läßt jedes, der Familie unerwünscht hinzugekommene Kind als un¬ nützen Mitesser erscheinen, für das man mög¬ lichst wenig Zeit und Geld aufwenden mag. Psychische Momente, wie die Gefühle der un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/196>, abgerufen am 29.06.2024.