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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus Persien

Mein sehr verehrter Herr. . .

8^tho Sie wollen, daß ich Ihnen einen Abriß über die Vorgänge in
Persien schreibe und womöglich auch noch eine Antwort auf die
Frage gebe: "Was wird aus Persien?" Ich fürchte, daß Sie mit
manchen Ihrer Wünsche nicht ganz vor die richtige Tür gekommen
sind. Gewiß stehen wir mitten in den Ereignissen darin, sogar
mehr darin als manchem lieb ist. Aber gerade das "Mittendarinstehen" macht
das Übersehen so schwierig, daß der Draußenstehende oft klarer und richtiger
urteilt. Sie als Kenner des Orients müssen ja am besten wissen, wie in
orientalischen Ländern gelogen und übertrieben wird. Schon in ruhigen Zeiten
tauchen oft aus heiterem Himmel die wildesten Gerüchte auf und vergrößern
sich im Quadrat der Entfernung. Da können Sie sich vielleicht eine dunkle
Vorstellung machen, was für ein Gewirr von Nachrichten in diesen kritischen
Zeiten die Stadt durchschwirren. Post und Telegraph funktionieren -- wenn
überhaupt -- so langsam, daß die Wahrheit, wenn sie glücklich eintrifft, längst
von neuen Tatarennachrichten überholt ist. "T'o Zive it in a, nut8teil"; so
kann ich Ihnen versichern, daß nach meiner Ansicht eben nichts getan werden
wird. Rußland drängt mit recht drastischen Mitteln auf die Erfüllung der in
seinem Ultimatum gestellten Bedingungen. Erfüllt müssen sie werden, darüber
besteht kein Zweifel. Aber kein Mensch möchte auch nur den kleinsten Teil von
Verantwortung an der Erfüllung dieser Forderungen tragen. Das Ministerium
drückt sich dadurch um die Verantwortung, daß es demissioniert, das Parlament,
indem es sich zu Ehren irgend eines toten Mollahs tagelang vertagt. Die
Komödie, die sich parlamentarische Regierung nennt, wird eben scheinbar bis zu
den äußersten Konsequenzen weitergespielt. Mich sollte es nicht wundern, wenn
eines schönen Tages das persische Reich, der Mittelpunkt des Weltalls, der
Nabel der Erde usw. ohne Schah, ohne Minister und ohne Parlament dastehen
wird. Um so mehr berauscht sich alles an Worten. Große Volksversammlungen
werden abgehalten, in denen Mollahs den Krieg gegen die Russen predigen,
Resolutionen gefaßt, Telegramme abgeschickt, vor allem aber enorme Quantitäten




Briefe aus Persien

Mein sehr verehrter Herr. . .

8^tho Sie wollen, daß ich Ihnen einen Abriß über die Vorgänge in
Persien schreibe und womöglich auch noch eine Antwort auf die
Frage gebe: „Was wird aus Persien?" Ich fürchte, daß Sie mit
manchen Ihrer Wünsche nicht ganz vor die richtige Tür gekommen
sind. Gewiß stehen wir mitten in den Ereignissen darin, sogar
mehr darin als manchem lieb ist. Aber gerade das „Mittendarinstehen" macht
das Übersehen so schwierig, daß der Draußenstehende oft klarer und richtiger
urteilt. Sie als Kenner des Orients müssen ja am besten wissen, wie in
orientalischen Ländern gelogen und übertrieben wird. Schon in ruhigen Zeiten
tauchen oft aus heiterem Himmel die wildesten Gerüchte auf und vergrößern
sich im Quadrat der Entfernung. Da können Sie sich vielleicht eine dunkle
Vorstellung machen, was für ein Gewirr von Nachrichten in diesen kritischen
Zeiten die Stadt durchschwirren. Post und Telegraph funktionieren — wenn
überhaupt — so langsam, daß die Wahrheit, wenn sie glücklich eintrifft, längst
von neuen Tatarennachrichten überholt ist. „T'o Zive it in a, nut8teil"; so
kann ich Ihnen versichern, daß nach meiner Ansicht eben nichts getan werden
wird. Rußland drängt mit recht drastischen Mitteln auf die Erfüllung der in
seinem Ultimatum gestellten Bedingungen. Erfüllt müssen sie werden, darüber
besteht kein Zweifel. Aber kein Mensch möchte auch nur den kleinsten Teil von
Verantwortung an der Erfüllung dieser Forderungen tragen. Das Ministerium
drückt sich dadurch um die Verantwortung, daß es demissioniert, das Parlament,
indem es sich zu Ehren irgend eines toten Mollahs tagelang vertagt. Die
Komödie, die sich parlamentarische Regierung nennt, wird eben scheinbar bis zu
den äußersten Konsequenzen weitergespielt. Mich sollte es nicht wundern, wenn
eines schönen Tages das persische Reich, der Mittelpunkt des Weltalls, der
Nabel der Erde usw. ohne Schah, ohne Minister und ohne Parlament dastehen
wird. Um so mehr berauscht sich alles an Worten. Große Volksversammlungen
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Resolutionen gefaßt, Telegramme abgeschickt, vor allem aber enorme Quantitäten


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[0079] [Abbildung] Briefe aus Persien Mein sehr verehrter Herr. . . 8^tho Sie wollen, daß ich Ihnen einen Abriß über die Vorgänge in Persien schreibe und womöglich auch noch eine Antwort auf die Frage gebe: „Was wird aus Persien?" Ich fürchte, daß Sie mit manchen Ihrer Wünsche nicht ganz vor die richtige Tür gekommen sind. Gewiß stehen wir mitten in den Ereignissen darin, sogar mehr darin als manchem lieb ist. Aber gerade das „Mittendarinstehen" macht das Übersehen so schwierig, daß der Draußenstehende oft klarer und richtiger urteilt. Sie als Kenner des Orients müssen ja am besten wissen, wie in orientalischen Ländern gelogen und übertrieben wird. Schon in ruhigen Zeiten tauchen oft aus heiterem Himmel die wildesten Gerüchte auf und vergrößern sich im Quadrat der Entfernung. Da können Sie sich vielleicht eine dunkle Vorstellung machen, was für ein Gewirr von Nachrichten in diesen kritischen Zeiten die Stadt durchschwirren. Post und Telegraph funktionieren — wenn überhaupt — so langsam, daß die Wahrheit, wenn sie glücklich eintrifft, längst von neuen Tatarennachrichten überholt ist. „T'o Zive it in a, nut8teil"; so kann ich Ihnen versichern, daß nach meiner Ansicht eben nichts getan werden wird. Rußland drängt mit recht drastischen Mitteln auf die Erfüllung der in seinem Ultimatum gestellten Bedingungen. Erfüllt müssen sie werden, darüber besteht kein Zweifel. Aber kein Mensch möchte auch nur den kleinsten Teil von Verantwortung an der Erfüllung dieser Forderungen tragen. Das Ministerium drückt sich dadurch um die Verantwortung, daß es demissioniert, das Parlament, indem es sich zu Ehren irgend eines toten Mollahs tagelang vertagt. Die Komödie, die sich parlamentarische Regierung nennt, wird eben scheinbar bis zu den äußersten Konsequenzen weitergespielt. Mich sollte es nicht wundern, wenn eines schönen Tages das persische Reich, der Mittelpunkt des Weltalls, der Nabel der Erde usw. ohne Schah, ohne Minister und ohne Parlament dastehen wird. Um so mehr berauscht sich alles an Worten. Große Volksversammlungen werden abgehalten, in denen Mollahs den Krieg gegen die Russen predigen, Resolutionen gefaßt, Telegramme abgeschickt, vor allem aber enorme Quantitäten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/79>, abgerufen am 29.12.2024.