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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Aunst

Deutsche Kunst und Dekoration. Im
Oktober 1911 hat die Deutsche Kunst und
Dekoration (Herausgeber und Verleger Hofrat
Alexander Koch in Darmstadt) ihren fünfzehnten
Jahrgang begonnen. Man kann sich diese Zeit¬
schrift nicht mehr aus unserer modernen Kunst
hinwegdenken. Von Anbeginn an -- seit dem
Jahre 1898 -- hat sie den Entwicklungsgang
nicht nur unserer angewandten Kunst, sondern
ebensowohl der Malerei, Plastik und Architektur
begleitet und ist noch heute, wie bor 14 Jahre",
das treue Spiegelbild von dem Besten ihrer
Zeit. Nimmt man ihre ältesten Jahrgänge
zur Hand, so steigt das Bild jener jugend-
frischem stürmischen Revolution aller Kunst
dnrans empor, aus deren Gärung wir heraus
sind -- so sehr, daß jene neunziger Jahre
uns fast schon fremd wie eine lang entschwundene
Epoche anschauen. Jene Erneuerung des Or¬
namentes, die Entdeckung neuer Formen aus
der Konstruktion ist es, mit der man nicht
nur Buchschmuck und Kissen, sondern auch
Möbel, Zinnner, Architekturen neu zu erschaffen
strebte -- eine unendlich glückverheißende
Jugendbewegung, deren Kraft und Schwung
wir gegen Maß und Einsicht eingetauscht haben.
Halt man alle Hefte gegen die neuesten, etwa
der letzten Monate, so stehen zwei Welten
gegen einander. Noch immer bestimmt ein
exklusiver Geschmack das Niveau des Dar¬
gebotenen; nnr ist dieser Geschmack, der die
Kunst und Dekoration zu allen Zeiten ans
sehr hohem Niveau gehalten hat, mit der Zeit
mitgegangen, und wir glauben nicht die Grenzen
des Objektiven zu Perlassen, wenn wir kon¬
statieren, daß wir nicht nur geschmacklich, son¬
dern auch künstlerisch uns voran entwickelt

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haben. Was namentlich in den beiden letzten
Heften gezeigt wird, bedeutet wesentlich Ab¬
geklärtes: Häuser von MuthesiuS, Baumgarten
(fürLiebermann), Bruno Paul (eine vornehme
Villa in Frankfurt n.M.); Gemälde der Münchner
Sezession, von Schweizer Künstlern, aus der
vortrefflichen MannheimerKnnsthnlle; Plastiker
von Luksch (Hamburg); und eine in zwei Heften
schon stattliche Fülle von Kunstgewerbe aus
fast allen Gebieten, Kissen von Salzmann,
Wiener Keramik vou Powoluy und Klaus,
Puppen vou Lotte Pritzcl und Kaulitz usf.
Die Vielseitigkeit des Stoffes und die Qualität
ist in den Aufsätzen die gleiche, von denen nur
als die vorzüglichsten genannt seien: A. E.
Brinckmcmn, Rnumbildung in der Baukunst,
und Fritz Wiehert, Die Mannheimer Kunst¬
bewegung.

Ich möchte es einer Zeitschrift, die das
erreichte Niveau unserer künstlerischen Kultur
spiegeln will, nicht verargen, daß sie gegen¬
über dem Vorangeschrittensten einige Zurück¬
haltung übt; daß sie z. B. bisher weder von
Loos noch Tessenow Architekturen noch Gemälde
aus der Matisse-Schule in Deutschland gebracht
hat. Aber in einem Punkte kann ich nicht
umhin, eine entschiedene Meinungsdifferenz
zwischen ihr und mir zu erwähnen, weil
deren Objekt weit über bloße Geschmacksfragen
hinausgeht. Das ist die Vorliebe, mit der
sie im vorigen Jahrgang eine Bewegung in
den Vordergrund gestellt hat, die mir für
unser Kunstgewerve in höchstem Maße ver¬
derblich scheint: die Wiederaufwärmung des
klassizistischen Pseudo-Barocks (oder wie soll
man's nennen) vou 18S0 durch Troost, Th.
Th. Heine, R. A. Schröder u. a. Gerade weil
die Deutsche Kunst und Dekoration auf einem
so hohen Niveau steht, dürfte sie für eine der-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Aunst

Deutsche Kunst und Dekoration. Im
Oktober 1911 hat die Deutsche Kunst und
Dekoration (Herausgeber und Verleger Hofrat
Alexander Koch in Darmstadt) ihren fünfzehnten
Jahrgang begonnen. Man kann sich diese Zeit¬
schrift nicht mehr aus unserer modernen Kunst
hinwegdenken. Von Anbeginn an — seit dem
Jahre 1898 — hat sie den Entwicklungsgang
nicht nur unserer angewandten Kunst, sondern
ebensowohl der Malerei, Plastik und Architektur
begleitet und ist noch heute, wie bor 14 Jahre»,
das treue Spiegelbild von dem Besten ihrer
Zeit. Nimmt man ihre ältesten Jahrgänge
zur Hand, so steigt das Bild jener jugend-
frischem stürmischen Revolution aller Kunst
dnrans empor, aus deren Gärung wir heraus
sind — so sehr, daß jene neunziger Jahre
uns fast schon fremd wie eine lang entschwundene
Epoche anschauen. Jene Erneuerung des Or¬
namentes, die Entdeckung neuer Formen aus
der Konstruktion ist es, mit der man nicht
nur Buchschmuck und Kissen, sondern auch
Möbel, Zinnner, Architekturen neu zu erschaffen
strebte — eine unendlich glückverheißende
Jugendbewegung, deren Kraft und Schwung
wir gegen Maß und Einsicht eingetauscht haben.
Halt man alle Hefte gegen die neuesten, etwa
der letzten Monate, so stehen zwei Welten
gegen einander. Noch immer bestimmt ein
exklusiver Geschmack das Niveau des Dar¬
gebotenen; nnr ist dieser Geschmack, der die
Kunst und Dekoration zu allen Zeiten ans
sehr hohem Niveau gehalten hat, mit der Zeit
mitgegangen, und wir glauben nicht die Grenzen
des Objektiven zu Perlassen, wenn wir kon¬
statieren, daß wir nicht nur geschmacklich, son¬
dern auch künstlerisch uns voran entwickelt

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haben. Was namentlich in den beiden letzten
Heften gezeigt wird, bedeutet wesentlich Ab¬
geklärtes: Häuser von MuthesiuS, Baumgarten
(fürLiebermann), Bruno Paul (eine vornehme
Villa in Frankfurt n.M.); Gemälde der Münchner
Sezession, von Schweizer Künstlern, aus der
vortrefflichen MannheimerKnnsthnlle; Plastiker
von Luksch (Hamburg); und eine in zwei Heften
schon stattliche Fülle von Kunstgewerbe aus
fast allen Gebieten, Kissen von Salzmann,
Wiener Keramik vou Powoluy und Klaus,
Puppen vou Lotte Pritzcl und Kaulitz usf.
Die Vielseitigkeit des Stoffes und die Qualität
ist in den Aufsätzen die gleiche, von denen nur
als die vorzüglichsten genannt seien: A. E.
Brinckmcmn, Rnumbildung in der Baukunst,
und Fritz Wiehert, Die Mannheimer Kunst¬
bewegung.

Ich möchte es einer Zeitschrift, die das
erreichte Niveau unserer künstlerischen Kultur
spiegeln will, nicht verargen, daß sie gegen¬
über dem Vorangeschrittensten einige Zurück¬
haltung übt; daß sie z. B. bisher weder von
Loos noch Tessenow Architekturen noch Gemälde
aus der Matisse-Schule in Deutschland gebracht
hat. Aber in einem Punkte kann ich nicht
umhin, eine entschiedene Meinungsdifferenz
zwischen ihr und mir zu erwähnen, weil
deren Objekt weit über bloße Geschmacksfragen
hinausgeht. Das ist die Vorliebe, mit der
sie im vorigen Jahrgang eine Bewegung in
den Vordergrund gestellt hat, die mir für
unser Kunstgewerve in höchstem Maße ver¬
derblich scheint: die Wiederaufwärmung des
klassizistischen Pseudo-Barocks (oder wie soll
man's nennen) vou 18S0 durch Troost, Th.
Th. Heine, R. A. Schröder u. a. Gerade weil
die Deutsche Kunst und Dekoration auf einem
so hohen Niveau steht, dürfte sie für eine der-

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[0049] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Aunst Deutsche Kunst und Dekoration. Im Oktober 1911 hat die Deutsche Kunst und Dekoration (Herausgeber und Verleger Hofrat Alexander Koch in Darmstadt) ihren fünfzehnten Jahrgang begonnen. Man kann sich diese Zeit¬ schrift nicht mehr aus unserer modernen Kunst hinwegdenken. Von Anbeginn an — seit dem Jahre 1898 — hat sie den Entwicklungsgang nicht nur unserer angewandten Kunst, sondern ebensowohl der Malerei, Plastik und Architektur begleitet und ist noch heute, wie bor 14 Jahre», das treue Spiegelbild von dem Besten ihrer Zeit. Nimmt man ihre ältesten Jahrgänge zur Hand, so steigt das Bild jener jugend- frischem stürmischen Revolution aller Kunst dnrans empor, aus deren Gärung wir heraus sind — so sehr, daß jene neunziger Jahre uns fast schon fremd wie eine lang entschwundene Epoche anschauen. Jene Erneuerung des Or¬ namentes, die Entdeckung neuer Formen aus der Konstruktion ist es, mit der man nicht nur Buchschmuck und Kissen, sondern auch Möbel, Zinnner, Architekturen neu zu erschaffen strebte — eine unendlich glückverheißende Jugendbewegung, deren Kraft und Schwung wir gegen Maß und Einsicht eingetauscht haben. Halt man alle Hefte gegen die neuesten, etwa der letzten Monate, so stehen zwei Welten gegen einander. Noch immer bestimmt ein exklusiver Geschmack das Niveau des Dar¬ gebotenen; nnr ist dieser Geschmack, der die Kunst und Dekoration zu allen Zeiten ans sehr hohem Niveau gehalten hat, mit der Zeit mitgegangen, und wir glauben nicht die Grenzen des Objektiven zu Perlassen, wenn wir kon¬ statieren, daß wir nicht nur geschmacklich, son¬ dern auch künstlerisch uns voran entwickelt haben. Was namentlich in den beiden letzten Heften gezeigt wird, bedeutet wesentlich Ab¬ geklärtes: Häuser von MuthesiuS, Baumgarten (fürLiebermann), Bruno Paul (eine vornehme Villa in Frankfurt n.M.); Gemälde der Münchner Sezession, von Schweizer Künstlern, aus der vortrefflichen MannheimerKnnsthnlle; Plastiker von Luksch (Hamburg); und eine in zwei Heften schon stattliche Fülle von Kunstgewerbe aus fast allen Gebieten, Kissen von Salzmann, Wiener Keramik vou Powoluy und Klaus, Puppen vou Lotte Pritzcl und Kaulitz usf. Die Vielseitigkeit des Stoffes und die Qualität ist in den Aufsätzen die gleiche, von denen nur als die vorzüglichsten genannt seien: A. E. Brinckmcmn, Rnumbildung in der Baukunst, und Fritz Wiehert, Die Mannheimer Kunst¬ bewegung. Ich möchte es einer Zeitschrift, die das erreichte Niveau unserer künstlerischen Kultur spiegeln will, nicht verargen, daß sie gegen¬ über dem Vorangeschrittensten einige Zurück¬ haltung übt; daß sie z. B. bisher weder von Loos noch Tessenow Architekturen noch Gemälde aus der Matisse-Schule in Deutschland gebracht hat. Aber in einem Punkte kann ich nicht umhin, eine entschiedene Meinungsdifferenz zwischen ihr und mir zu erwähnen, weil deren Objekt weit über bloße Geschmacksfragen hinausgeht. Das ist die Vorliebe, mit der sie im vorigen Jahrgang eine Bewegung in den Vordergrund gestellt hat, die mir für unser Kunstgewerve in höchstem Maße ver¬ derblich scheint: die Wiederaufwärmung des klassizistischen Pseudo-Barocks (oder wie soll man's nennen) vou 18S0 durch Troost, Th. Th. Heine, R. A. Schröder u. a. Gerade weil die Deutsche Kunst und Dekoration auf einem so hohen Niveau steht, dürfte sie für eine der-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/49>, abgerufen am 29.12.2024.