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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Der Wehrverein

Wehrverein Gegenstück zum Flottenverein -- Ein wichtiger Gesichtspunkt -- Not¬
wendigkeit gewisser Propaganda -- Eine Aufgabe der politischen Parteien -- Interesse
der Parteien an Heeresfragen -- General Keim -- Vereins-Unwesen -- Praktische
Gründe gegen "unpolitische" Vereine -- Bankerotterklärung vor dem Auslande --
Verhältnis zu den Verantwortlicher Stellen -- Vernachlässigung der Flotte

Als vor einiger Zeit zum ersten Male in der Öffentlichkeit davon die Rede
war, daß ein "Wehrverein" als Seitenstück zum Flottenverein gegründet
werden sollte, fanden zwar die Ziele, die sich dieser neue Verein gesteckt hatte, in
nationalen Kreisen lebhafte Zustimmung, aber es machte sich doch auch in Kreisen
und Parteien, über deren lebhaftes Interesse an der Armee kein Zweifel bestehen
konnte, ein gewisses Zögern, eine deutliche Zurückhaltung bemerkbar. Man scheute
sich offenbar, einer guten Sache entgegenzutreten, hatte dabei aber zugleich das
Gefühl, daß irgend etwas nicht ganz in Ordnung sei. Die Begründer des Vereins,
an deren Spitze einer der rührigsten Vorkämpfer nationaler Bestrebungen, General
Keim, steht, haben inzwischen eifrig gearbeitet und geworben, um alle Bedenken,
die sich gegen den Wehrverein erheben konnten, zu zerstreuen. Wirklich scheint
es, als ob in den Kreisen, auf deren Mitwirkung der Wehrverein in erster Linie
rechnen muß, die anfänglich geübte Zurückhaltung verschwunden sei. Aber darf
man daraus den Schluß ziehen, daß der Verein nun für sein Wirken freie Bahn
haben und das gesteckte Ziel erreichen wird, ohne gewisse unerfreuliche Neben¬
wirkungen auszulösen? Man kann sich leider der Überzeugung nicht verschließen,
daß der Eifer, mit dem das Ziel ins Auge gefaßt worden ist, manche politischen
Erwägungen beiseite geschoben hat, die für die Sache von großer Bedeutung sind.

Einen sehr wichtigen Gesichtspunkt hat der Verein freilich für sich:
was er erstrebt, das muß allerdings irgendwie geleistet werden. Wir sind in der
Tat bei der Fürsorge für unsere Wehrkraft an einen kritischen Punkt gelangt.
Der Grundgedanke der allgemeinen Wehrpflicht wird längst nicht mehr durchgeführt,
weil bei der rasch zunehmenden Bevölkerung die Menge der Diensttauglichen nicht
mehr in den Rahmen des Heeres, dem wir aus finanziellen Rücksichten zu enge
Grenzen gezogen haben, hineinpaßt. Wir haben auf diesem Gebiete dem Grundsatz
der Sparsamkeit so viele Zugeständnisse gemacht, daß damit zugleich auch der
Glaube erschüttert worden ist, daß unsere Kriegsrüstung im übrigen auf der Höhe
sei. Der preußische Kriegsminister, der ja unbeschadet der Rechte seimr Kollegen
in Bayern, Sachsen und Württemberg zwar nicht der staatsrechtlichen Form nach,
wohl aber der Sache nach der Reichskriegsminister ist, hat sich vor dem Drängen
des Reichsschatzsekretärs bis hart an die Grenze zurückgezogen, wo er die Verant¬
wortung für die Vollständigkeit und Festigkeit der deutschen Kriegsrüstung nur
eben noch tragen kann. Die Sache liegt so, daß zwar die Persönlichkeit des
Generals v. Heeringen dafür bürgt, daß nichts absolut Notwendiges versäumt
und vernachlässigt wird; was wir an Vorkehrungen zur Landesverteidigung
getroffen haben, ist im Kern gut, unsere Organisation ist sorgfältig durchdacht und
und arbeitet zuverlässig, unsere Offiziere und Mannschaften stehen an Tüchtigkeit
und Pflichttreue niemandem nach. Aber die ruhige und sichere Überzeugung, daß
auch für die schwersten Gefahren, denen das Reich anscheinend entgegengeht, die
volle Einsetzung der Volkskraft zur Verteidigung unserer nationalen Güter


Reichsspiegel

Der Wehrverein

Wehrverein Gegenstück zum Flottenverein — Ein wichtiger Gesichtspunkt — Not¬
wendigkeit gewisser Propaganda — Eine Aufgabe der politischen Parteien — Interesse
der Parteien an Heeresfragen — General Keim — Vereins-Unwesen — Praktische
Gründe gegen „unpolitische" Vereine — Bankerotterklärung vor dem Auslande —
Verhältnis zu den Verantwortlicher Stellen — Vernachlässigung der Flotte

Als vor einiger Zeit zum ersten Male in der Öffentlichkeit davon die Rede
war, daß ein „Wehrverein" als Seitenstück zum Flottenverein gegründet
werden sollte, fanden zwar die Ziele, die sich dieser neue Verein gesteckt hatte, in
nationalen Kreisen lebhafte Zustimmung, aber es machte sich doch auch in Kreisen
und Parteien, über deren lebhaftes Interesse an der Armee kein Zweifel bestehen
konnte, ein gewisses Zögern, eine deutliche Zurückhaltung bemerkbar. Man scheute
sich offenbar, einer guten Sache entgegenzutreten, hatte dabei aber zugleich das
Gefühl, daß irgend etwas nicht ganz in Ordnung sei. Die Begründer des Vereins,
an deren Spitze einer der rührigsten Vorkämpfer nationaler Bestrebungen, General
Keim, steht, haben inzwischen eifrig gearbeitet und geworben, um alle Bedenken,
die sich gegen den Wehrverein erheben konnten, zu zerstreuen. Wirklich scheint
es, als ob in den Kreisen, auf deren Mitwirkung der Wehrverein in erster Linie
rechnen muß, die anfänglich geübte Zurückhaltung verschwunden sei. Aber darf
man daraus den Schluß ziehen, daß der Verein nun für sein Wirken freie Bahn
haben und das gesteckte Ziel erreichen wird, ohne gewisse unerfreuliche Neben¬
wirkungen auszulösen? Man kann sich leider der Überzeugung nicht verschließen,
daß der Eifer, mit dem das Ziel ins Auge gefaßt worden ist, manche politischen
Erwägungen beiseite geschoben hat, die für die Sache von großer Bedeutung sind.

Einen sehr wichtigen Gesichtspunkt hat der Verein freilich für sich:
was er erstrebt, das muß allerdings irgendwie geleistet werden. Wir sind in der
Tat bei der Fürsorge für unsere Wehrkraft an einen kritischen Punkt gelangt.
Der Grundgedanke der allgemeinen Wehrpflicht wird längst nicht mehr durchgeführt,
weil bei der rasch zunehmenden Bevölkerung die Menge der Diensttauglichen nicht
mehr in den Rahmen des Heeres, dem wir aus finanziellen Rücksichten zu enge
Grenzen gezogen haben, hineinpaßt. Wir haben auf diesem Gebiete dem Grundsatz
der Sparsamkeit so viele Zugeständnisse gemacht, daß damit zugleich auch der
Glaube erschüttert worden ist, daß unsere Kriegsrüstung im übrigen auf der Höhe
sei. Der preußische Kriegsminister, der ja unbeschadet der Rechte seimr Kollegen
in Bayern, Sachsen und Württemberg zwar nicht der staatsrechtlichen Form nach,
wohl aber der Sache nach der Reichskriegsminister ist, hat sich vor dem Drängen
des Reichsschatzsekretärs bis hart an die Grenze zurückgezogen, wo er die Verant¬
wortung für die Vollständigkeit und Festigkeit der deutschen Kriegsrüstung nur
eben noch tragen kann. Die Sache liegt so, daß zwar die Persönlichkeit des
Generals v. Heeringen dafür bürgt, daß nichts absolut Notwendiges versäumt
und vernachlässigt wird; was wir an Vorkehrungen zur Landesverteidigung
getroffen haben, ist im Kern gut, unsere Organisation ist sorgfältig durchdacht und
und arbeitet zuverlässig, unsere Offiziere und Mannschaften stehen an Tüchtigkeit
und Pflichttreue niemandem nach. Aber die ruhige und sichere Überzeugung, daß
auch für die schwersten Gefahren, denen das Reich anscheinend entgegengeht, die
volle Einsetzung der Volkskraft zur Verteidigung unserer nationalen Güter


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[0208] Reichsspiegel Der Wehrverein Wehrverein Gegenstück zum Flottenverein — Ein wichtiger Gesichtspunkt — Not¬ wendigkeit gewisser Propaganda — Eine Aufgabe der politischen Parteien — Interesse der Parteien an Heeresfragen — General Keim — Vereins-Unwesen — Praktische Gründe gegen „unpolitische" Vereine — Bankerotterklärung vor dem Auslande — Verhältnis zu den Verantwortlicher Stellen — Vernachlässigung der Flotte Als vor einiger Zeit zum ersten Male in der Öffentlichkeit davon die Rede war, daß ein „Wehrverein" als Seitenstück zum Flottenverein gegründet werden sollte, fanden zwar die Ziele, die sich dieser neue Verein gesteckt hatte, in nationalen Kreisen lebhafte Zustimmung, aber es machte sich doch auch in Kreisen und Parteien, über deren lebhaftes Interesse an der Armee kein Zweifel bestehen konnte, ein gewisses Zögern, eine deutliche Zurückhaltung bemerkbar. Man scheute sich offenbar, einer guten Sache entgegenzutreten, hatte dabei aber zugleich das Gefühl, daß irgend etwas nicht ganz in Ordnung sei. Die Begründer des Vereins, an deren Spitze einer der rührigsten Vorkämpfer nationaler Bestrebungen, General Keim, steht, haben inzwischen eifrig gearbeitet und geworben, um alle Bedenken, die sich gegen den Wehrverein erheben konnten, zu zerstreuen. Wirklich scheint es, als ob in den Kreisen, auf deren Mitwirkung der Wehrverein in erster Linie rechnen muß, die anfänglich geübte Zurückhaltung verschwunden sei. Aber darf man daraus den Schluß ziehen, daß der Verein nun für sein Wirken freie Bahn haben und das gesteckte Ziel erreichen wird, ohne gewisse unerfreuliche Neben¬ wirkungen auszulösen? Man kann sich leider der Überzeugung nicht verschließen, daß der Eifer, mit dem das Ziel ins Auge gefaßt worden ist, manche politischen Erwägungen beiseite geschoben hat, die für die Sache von großer Bedeutung sind. Einen sehr wichtigen Gesichtspunkt hat der Verein freilich für sich: was er erstrebt, das muß allerdings irgendwie geleistet werden. Wir sind in der Tat bei der Fürsorge für unsere Wehrkraft an einen kritischen Punkt gelangt. Der Grundgedanke der allgemeinen Wehrpflicht wird längst nicht mehr durchgeführt, weil bei der rasch zunehmenden Bevölkerung die Menge der Diensttauglichen nicht mehr in den Rahmen des Heeres, dem wir aus finanziellen Rücksichten zu enge Grenzen gezogen haben, hineinpaßt. Wir haben auf diesem Gebiete dem Grundsatz der Sparsamkeit so viele Zugeständnisse gemacht, daß damit zugleich auch der Glaube erschüttert worden ist, daß unsere Kriegsrüstung im übrigen auf der Höhe sei. Der preußische Kriegsminister, der ja unbeschadet der Rechte seimr Kollegen in Bayern, Sachsen und Württemberg zwar nicht der staatsrechtlichen Form nach, wohl aber der Sache nach der Reichskriegsminister ist, hat sich vor dem Drängen des Reichsschatzsekretärs bis hart an die Grenze zurückgezogen, wo er die Verant¬ wortung für die Vollständigkeit und Festigkeit der deutschen Kriegsrüstung nur eben noch tragen kann. Die Sache liegt so, daß zwar die Persönlichkeit des Generals v. Heeringen dafür bürgt, daß nichts absolut Notwendiges versäumt und vernachlässigt wird; was wir an Vorkehrungen zur Landesverteidigung getroffen haben, ist im Kern gut, unsere Organisation ist sorgfältig durchdacht und und arbeitet zuverlässig, unsere Offiziere und Mannschaften stehen an Tüchtigkeit und Pflichttreue niemandem nach. Aber die ruhige und sichere Überzeugung, daß auch für die schwersten Gefahren, denen das Reich anscheinend entgegengeht, die volle Einsetzung der Volkskraft zur Verteidigung unserer nationalen Güter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/208>, abgerufen am 29.12.2024.