Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>
Reichsspiegel

Karren ziehen. Auch sie werden Verständnis für die Bedürfnisse des Reichs
geroinnen, sobald sie erkennen, daß diese Bedürfnisse sich mit ihren eigenen
Vorteilen decken. Graf Posadowsky hat kürzlich ausgeführt, die Sozial¬
demokratie sei vor allen Dingen gefährlich, weil sie die deutsche Geschichte
ignoriere; sobald sie zur Mitarbeit am Staat herangezogen würde, sei sie
aber gezwungen, mit den durch eine geschichtliche Entwicklung belasteten Tat¬
sachen zu rechnen, und werde damit dem Radikalismus entfremdet. Nun
dürfte die Entfremdung vom Radikalismus nicht arg schnell gehen. Gewiß.
Aber Graf Posadowsky zeigt mit seinen Ausführungen doch den Weg, auf
dem die Sozialdemokratie allmählich zu überwinden wäre. Der Weg führt
G, <Li, durch die neue deutsche Geschichte.


Auswärtige Angelegenheiten

Marokkoauskehr in Frankreich -- Ssasvnvwö Erklärungen -- Tripolis -- China --
Spionage

In der auswärtigen Politik liegen Veränderungen wesentlicher Natur nicht
vor. Die Marokkofrage hat nunmehr auch vor der französischen Kammer
ihren Abschluß gefunden, und Herr de Selves hat mit großem Geschick seine
Politik verteidigt. Neues haben die Kammerverhandlungen den Lesern der
Grenzboten nicht gebracht. An den bekannten feststehenden Tatsachen vermag
auch ihre Darstellung in französischer Beleuchtung nichts zu ändern. Bedeutungs¬
voller sind schon die Auslassungen des Herrn Ssasonow, der kürzlich in
Paris weilte und das Bedürfnis hatte, sich einem Vertreter des halbamtlichen
russischen Telegraphenbureaus gegenüber auszusprechen. Rußland wird besonders
von England wegen seines Vorgehens in Persien mit Mißtrauen betrachtet, und
Frankreich fürchtet von dieseni Vorgehen eine Gefährdung seiner Ententepolitik.
England möchte unter allen Umständen die Integrität des persischen Staates
erhalten wissen, um die andernfalls eintretende nachbarliche Berührung mit
Rußland zu vermeiden. Eine lange russisch-englische Grenze ist den englischen
Politikern gleichbedeutend mit einer ständigen Bedrohung Indiens durch Rußland.
Hierzu und über angebliche Schritte Rußlands wegen der Dardanellenfrage hat
Herr Ssasonow den Franzosen beruhigende Erklärungen gegeben, die natürlich
den Lauf der Tatsachen nicht aufzuhalten vermögen.

Die Lage der Italiener in Tripolis ist während der abgelaufenen
Woche nicht günstiger geworden, wohl aber die der Türkei, die die Zeit emsig
genutzt hat, das Landheer zu rüsten und ihre kleine Flotte gefechtsbereit zu
machen, so daß es mit dem Friedensschluß noch einige Weile haben dürfte.

In China gewinnt eine ruhige Reformpartei, ermutigt und gestärkt durch
Unan Shih-Kais politische und militärische Maßnahmen, wennauch langsam, an
Boden. Wie es gegenwärtig im Lande der Mitte noch aussieht, davon gibt die
nachstehend abgebildete Dollarnote der "Republik" China einige Auskunft.


Reichsspiegel

Karren ziehen. Auch sie werden Verständnis für die Bedürfnisse des Reichs
geroinnen, sobald sie erkennen, daß diese Bedürfnisse sich mit ihren eigenen
Vorteilen decken. Graf Posadowsky hat kürzlich ausgeführt, die Sozial¬
demokratie sei vor allen Dingen gefährlich, weil sie die deutsche Geschichte
ignoriere; sobald sie zur Mitarbeit am Staat herangezogen würde, sei sie
aber gezwungen, mit den durch eine geschichtliche Entwicklung belasteten Tat¬
sachen zu rechnen, und werde damit dem Radikalismus entfremdet. Nun
dürfte die Entfremdung vom Radikalismus nicht arg schnell gehen. Gewiß.
Aber Graf Posadowsky zeigt mit seinen Ausführungen doch den Weg, auf
dem die Sozialdemokratie allmählich zu überwinden wäre. Der Weg führt
G, <Li, durch die neue deutsche Geschichte.


Auswärtige Angelegenheiten

Marokkoauskehr in Frankreich — Ssasvnvwö Erklärungen — Tripolis — China —
Spionage

In der auswärtigen Politik liegen Veränderungen wesentlicher Natur nicht
vor. Die Marokkofrage hat nunmehr auch vor der französischen Kammer
ihren Abschluß gefunden, und Herr de Selves hat mit großem Geschick seine
Politik verteidigt. Neues haben die Kammerverhandlungen den Lesern der
Grenzboten nicht gebracht. An den bekannten feststehenden Tatsachen vermag
auch ihre Darstellung in französischer Beleuchtung nichts zu ändern. Bedeutungs¬
voller sind schon die Auslassungen des Herrn Ssasonow, der kürzlich in
Paris weilte und das Bedürfnis hatte, sich einem Vertreter des halbamtlichen
russischen Telegraphenbureaus gegenüber auszusprechen. Rußland wird besonders
von England wegen seines Vorgehens in Persien mit Mißtrauen betrachtet, und
Frankreich fürchtet von dieseni Vorgehen eine Gefährdung seiner Ententepolitik.
England möchte unter allen Umständen die Integrität des persischen Staates
erhalten wissen, um die andernfalls eintretende nachbarliche Berührung mit
Rußland zu vermeiden. Eine lange russisch-englische Grenze ist den englischen
Politikern gleichbedeutend mit einer ständigen Bedrohung Indiens durch Rußland.
Hierzu und über angebliche Schritte Rußlands wegen der Dardanellenfrage hat
Herr Ssasonow den Franzosen beruhigende Erklärungen gegeben, die natürlich
den Lauf der Tatsachen nicht aufzuhalten vermögen.

Die Lage der Italiener in Tripolis ist während der abgelaufenen
Woche nicht günstiger geworden, wohl aber die der Türkei, die die Zeit emsig
genutzt hat, das Landheer zu rüsten und ihre kleine Flotte gefechtsbereit zu
machen, so daß es mit dem Friedensschluß noch einige Weile haben dürfte.

In China gewinnt eine ruhige Reformpartei, ermutigt und gestärkt durch
Unan Shih-Kais politische und militärische Maßnahmen, wennauch langsam, an
Boden. Wie es gegenwärtig im Lande der Mitte noch aussieht, davon gibt die
nachstehend abgebildete Dollarnote der „Republik" China einige Auskunft.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0623" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320224"/>
            <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2694" prev="#ID_2693"> Karren ziehen. Auch sie werden Verständnis für die Bedürfnisse des Reichs<lb/>
geroinnen, sobald sie erkennen, daß diese Bedürfnisse sich mit ihren eigenen<lb/>
Vorteilen decken. Graf Posadowsky hat kürzlich ausgeführt, die Sozial¬<lb/>
demokratie sei vor allen Dingen gefährlich, weil sie die deutsche Geschichte<lb/>
ignoriere; sobald sie zur Mitarbeit am Staat herangezogen würde, sei sie<lb/>
aber gezwungen, mit den durch eine geschichtliche Entwicklung belasteten Tat¬<lb/>
sachen zu rechnen, und werde damit dem Radikalismus entfremdet. Nun<lb/>
dürfte die Entfremdung vom Radikalismus nicht arg schnell gehen. Gewiß.<lb/>
Aber Graf Posadowsky zeigt mit seinen Ausführungen doch den Weg, auf<lb/>
dem die Sozialdemokratie allmählich zu überwinden wäre. Der Weg führt<lb/><note type="byline"> G, &lt;Li,</note> durch die neue deutsche Geschichte. </p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Auswärtige Angelegenheiten</head><lb/>
            <note type="argument"> Marokkoauskehr in Frankreich &#x2014; Ssasvnvwö Erklärungen &#x2014; Tripolis &#x2014; China &#x2014;<lb/>
Spionage</note><lb/>
            <p xml:id="ID_2695"> In der auswärtigen Politik liegen Veränderungen wesentlicher Natur nicht<lb/>
vor. Die Marokkofrage hat nunmehr auch vor der französischen Kammer<lb/>
ihren Abschluß gefunden, und Herr de Selves hat mit großem Geschick seine<lb/>
Politik verteidigt. Neues haben die Kammerverhandlungen den Lesern der<lb/>
Grenzboten nicht gebracht. An den bekannten feststehenden Tatsachen vermag<lb/>
auch ihre Darstellung in französischer Beleuchtung nichts zu ändern. Bedeutungs¬<lb/>
voller sind schon die Auslassungen des Herrn Ssasonow, der kürzlich in<lb/>
Paris weilte und das Bedürfnis hatte, sich einem Vertreter des halbamtlichen<lb/>
russischen Telegraphenbureaus gegenüber auszusprechen. Rußland wird besonders<lb/>
von England wegen seines Vorgehens in Persien mit Mißtrauen betrachtet, und<lb/>
Frankreich fürchtet von dieseni Vorgehen eine Gefährdung seiner Ententepolitik.<lb/>
England möchte unter allen Umständen die Integrität des persischen Staates<lb/>
erhalten wissen, um die andernfalls eintretende nachbarliche Berührung mit<lb/>
Rußland zu vermeiden. Eine lange russisch-englische Grenze ist den englischen<lb/>
Politikern gleichbedeutend mit einer ständigen Bedrohung Indiens durch Rußland.<lb/>
Hierzu und über angebliche Schritte Rußlands wegen der Dardanellenfrage hat<lb/>
Herr Ssasonow den Franzosen beruhigende Erklärungen gegeben, die natürlich<lb/>
den Lauf der Tatsachen nicht aufzuhalten vermögen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2696"> Die Lage der Italiener in Tripolis ist während der abgelaufenen<lb/>
Woche nicht günstiger geworden, wohl aber die der Türkei, die die Zeit emsig<lb/>
genutzt hat, das Landheer zu rüsten und ihre kleine Flotte gefechtsbereit zu<lb/>
machen, so daß es mit dem Friedensschluß noch einige Weile haben dürfte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2697"> In China gewinnt eine ruhige Reformpartei, ermutigt und gestärkt durch<lb/>
Unan Shih-Kais politische und militärische Maßnahmen, wennauch langsam, an<lb/>
Boden. Wie es gegenwärtig im Lande der Mitte noch aussieht, davon gibt die<lb/>
nachstehend abgebildete Dollarnote der &#x201E;Republik" China einige Auskunft.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0623] Reichsspiegel Karren ziehen. Auch sie werden Verständnis für die Bedürfnisse des Reichs geroinnen, sobald sie erkennen, daß diese Bedürfnisse sich mit ihren eigenen Vorteilen decken. Graf Posadowsky hat kürzlich ausgeführt, die Sozial¬ demokratie sei vor allen Dingen gefährlich, weil sie die deutsche Geschichte ignoriere; sobald sie zur Mitarbeit am Staat herangezogen würde, sei sie aber gezwungen, mit den durch eine geschichtliche Entwicklung belasteten Tat¬ sachen zu rechnen, und werde damit dem Radikalismus entfremdet. Nun dürfte die Entfremdung vom Radikalismus nicht arg schnell gehen. Gewiß. Aber Graf Posadowsky zeigt mit seinen Ausführungen doch den Weg, auf dem die Sozialdemokratie allmählich zu überwinden wäre. Der Weg führt G, <Li, durch die neue deutsche Geschichte. Auswärtige Angelegenheiten Marokkoauskehr in Frankreich — Ssasvnvwö Erklärungen — Tripolis — China — Spionage In der auswärtigen Politik liegen Veränderungen wesentlicher Natur nicht vor. Die Marokkofrage hat nunmehr auch vor der französischen Kammer ihren Abschluß gefunden, und Herr de Selves hat mit großem Geschick seine Politik verteidigt. Neues haben die Kammerverhandlungen den Lesern der Grenzboten nicht gebracht. An den bekannten feststehenden Tatsachen vermag auch ihre Darstellung in französischer Beleuchtung nichts zu ändern. Bedeutungs¬ voller sind schon die Auslassungen des Herrn Ssasonow, der kürzlich in Paris weilte und das Bedürfnis hatte, sich einem Vertreter des halbamtlichen russischen Telegraphenbureaus gegenüber auszusprechen. Rußland wird besonders von England wegen seines Vorgehens in Persien mit Mißtrauen betrachtet, und Frankreich fürchtet von dieseni Vorgehen eine Gefährdung seiner Ententepolitik. England möchte unter allen Umständen die Integrität des persischen Staates erhalten wissen, um die andernfalls eintretende nachbarliche Berührung mit Rußland zu vermeiden. Eine lange russisch-englische Grenze ist den englischen Politikern gleichbedeutend mit einer ständigen Bedrohung Indiens durch Rußland. Hierzu und über angebliche Schritte Rußlands wegen der Dardanellenfrage hat Herr Ssasonow den Franzosen beruhigende Erklärungen gegeben, die natürlich den Lauf der Tatsachen nicht aufzuhalten vermögen. Die Lage der Italiener in Tripolis ist während der abgelaufenen Woche nicht günstiger geworden, wohl aber die der Türkei, die die Zeit emsig genutzt hat, das Landheer zu rüsten und ihre kleine Flotte gefechtsbereit zu machen, so daß es mit dem Friedensschluß noch einige Weile haben dürfte. In China gewinnt eine ruhige Reformpartei, ermutigt und gestärkt durch Unan Shih-Kais politische und militärische Maßnahmen, wennauch langsam, an Boden. Wie es gegenwärtig im Lande der Mitte noch aussieht, davon gibt die nachstehend abgebildete Dollarnote der „Republik" China einige Auskunft.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/623
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/623>, abgerufen am 15.01.2025.