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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Dichterwerke in neuem Gewände

In der Grotte des Castello ist es allerdings ein lesender Mönch, dein man erst
das Buch zuklappen und die Kerzen ausblasen muß, ehe man zum Schatze gelangt.

Dem Geschlechte der Zwerge und Hausgeister zugehörig, etwa unseren Heinzel¬
männchen nahestehend, erscheint in Anacapri der gute Ambriano, der einer armen
Frau nachts die am Webstuhl angefangene Arbeit vollendet.

Endlich gesellen sich zu den geizigen Erd- und gütigen Hausgeistern auch
noch hilfreiche Wasser- und Brunnennymphen, deren Vorhandensein mir ebenfalls
in Anacapri verbürgt wurde: Eine arme Alte wußte einst nicht mehr, woher sie
die Miete bezahlen sollte. Da fand sie eines Tages beim Wasserschöpfen ein
Goldstück im emporgezogenem Eimer. Das ging eine Weile so fort, bis die hab¬
gierige Wirtin, die gern das Geschäft selbst übermhmen wollte, ihr kündigte. Als
sie zum letzten Male Wasser schöpfte, hob sie einen großen goldenen Apfel mit
aus dem Brunnen empor, und eine Stimme rief aus der Tiefe: "Kello, bello,
dollo reMlo! ti c!c> un buon ricorcZo!" (Schönes, schönes, schönes Geschenk!
Nimm es von mir als gutes AndenkenI)

Auch mir schien am Ende meiner Sammelarbeit eine Stimme aus der Tiefe
der Volksseele zu rufen: "Nimm, was du gefunden, und bring es deinem --
und meinem Volke!"




Dichterwerke in neuem Gewände
von Heinz Amelung

le hundertjährige Wiederkehr von Kleists Todestag hat uns nicht
nur eine unübersehbare Flut von Zeitschriften- und Zeitungsauf¬
sätzen gebracht, sondern auch eine große Zahl mehr oder minder
wertvoller Bücher. (Vgl. das Referat über die neuere Kleist-Literatur
in Heft 49 der Grenzboten, Seite 510.) Daß sich in anderthalb
Jahren der Geburtstag Friedrich Hebbels zum hundertsten Male jähren wird,
macht sich bereits bemerkbar, aber bis jetzt in durchaus erfreulicher Weise.
Zwei große Ausgaben des lange verkannten, heute aber so kritiklos gelobten
Dichters, daß sich mancherorts Widerspruch dagegen erhebt, treten auf den Plan:
in dritter Auflage beginnt die bewährte, vortreffliche historisch-kritische Gesamt¬
ausgabe der Werke, Tagebücher und Briefe Hebbels, die glänzende Leistung Richard
Maria Werners, als "säkular-Ausgabe" zu erscheinen (B. Behrs Verlag zu Berlin,
bis jetzt drei Bände); daneben stellt sich nun eine zweite, von Paul Börnstein
besorgte Gesamtausgabe, die sich den Klassikerausgaben des rührigen und kräftig
aufblühenden Verlags von Georg Müller in München würdig anschließt. Die
beiden Ausgaben wollen nicht miteinander konkurrieren; denn die Anordnung ist
in ihnen völlig verschieden. Werner hat an der alten Einteilung festgehalten,
natürlich aber berücksichtigt er in seinen klaren und knappen Einführungen die
neuen Ergebnisse der Forschung. Börnstein dagegen bringt die Werke in chrono¬
logischer Reihenfolge und fügt in jedem Bande zu den Dichtungen die dazu
gehörigen bedeutsamen Briefe und Eintragungen der Tagebücher. Auch Briefe an


Dichterwerke in neuem Gewände

In der Grotte des Castello ist es allerdings ein lesender Mönch, dein man erst
das Buch zuklappen und die Kerzen ausblasen muß, ehe man zum Schatze gelangt.

Dem Geschlechte der Zwerge und Hausgeister zugehörig, etwa unseren Heinzel¬
männchen nahestehend, erscheint in Anacapri der gute Ambriano, der einer armen
Frau nachts die am Webstuhl angefangene Arbeit vollendet.

Endlich gesellen sich zu den geizigen Erd- und gütigen Hausgeistern auch
noch hilfreiche Wasser- und Brunnennymphen, deren Vorhandensein mir ebenfalls
in Anacapri verbürgt wurde: Eine arme Alte wußte einst nicht mehr, woher sie
die Miete bezahlen sollte. Da fand sie eines Tages beim Wasserschöpfen ein
Goldstück im emporgezogenem Eimer. Das ging eine Weile so fort, bis die hab¬
gierige Wirtin, die gern das Geschäft selbst übermhmen wollte, ihr kündigte. Als
sie zum letzten Male Wasser schöpfte, hob sie einen großen goldenen Apfel mit
aus dem Brunnen empor, und eine Stimme rief aus der Tiefe: „Kello, bello,
dollo reMlo! ti c!c> un buon ricorcZo!" (Schönes, schönes, schönes Geschenk!
Nimm es von mir als gutes AndenkenI)

Auch mir schien am Ende meiner Sammelarbeit eine Stimme aus der Tiefe
der Volksseele zu rufen: „Nimm, was du gefunden, und bring es deinem —
und meinem Volke!"




Dichterwerke in neuem Gewände
von Heinz Amelung

le hundertjährige Wiederkehr von Kleists Todestag hat uns nicht
nur eine unübersehbare Flut von Zeitschriften- und Zeitungsauf¬
sätzen gebracht, sondern auch eine große Zahl mehr oder minder
wertvoller Bücher. (Vgl. das Referat über die neuere Kleist-Literatur
in Heft 49 der Grenzboten, Seite 510.) Daß sich in anderthalb
Jahren der Geburtstag Friedrich Hebbels zum hundertsten Male jähren wird,
macht sich bereits bemerkbar, aber bis jetzt in durchaus erfreulicher Weise.
Zwei große Ausgaben des lange verkannten, heute aber so kritiklos gelobten
Dichters, daß sich mancherorts Widerspruch dagegen erhebt, treten auf den Plan:
in dritter Auflage beginnt die bewährte, vortreffliche historisch-kritische Gesamt¬
ausgabe der Werke, Tagebücher und Briefe Hebbels, die glänzende Leistung Richard
Maria Werners, als „säkular-Ausgabe" zu erscheinen (B. Behrs Verlag zu Berlin,
bis jetzt drei Bände); daneben stellt sich nun eine zweite, von Paul Börnstein
besorgte Gesamtausgabe, die sich den Klassikerausgaben des rührigen und kräftig
aufblühenden Verlags von Georg Müller in München würdig anschließt. Die
beiden Ausgaben wollen nicht miteinander konkurrieren; denn die Anordnung ist
in ihnen völlig verschieden. Werner hat an der alten Einteilung festgehalten,
natürlich aber berücksichtigt er in seinen klaren und knappen Einführungen die
neuen Ergebnisse der Forschung. Börnstein dagegen bringt die Werke in chrono¬
logischer Reihenfolge und fügt in jedem Bande zu den Dichtungen die dazu
gehörigen bedeutsamen Briefe und Eintragungen der Tagebücher. Auch Briefe an


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[0558] Dichterwerke in neuem Gewände In der Grotte des Castello ist es allerdings ein lesender Mönch, dein man erst das Buch zuklappen und die Kerzen ausblasen muß, ehe man zum Schatze gelangt. Dem Geschlechte der Zwerge und Hausgeister zugehörig, etwa unseren Heinzel¬ männchen nahestehend, erscheint in Anacapri der gute Ambriano, der einer armen Frau nachts die am Webstuhl angefangene Arbeit vollendet. Endlich gesellen sich zu den geizigen Erd- und gütigen Hausgeistern auch noch hilfreiche Wasser- und Brunnennymphen, deren Vorhandensein mir ebenfalls in Anacapri verbürgt wurde: Eine arme Alte wußte einst nicht mehr, woher sie die Miete bezahlen sollte. Da fand sie eines Tages beim Wasserschöpfen ein Goldstück im emporgezogenem Eimer. Das ging eine Weile so fort, bis die hab¬ gierige Wirtin, die gern das Geschäft selbst übermhmen wollte, ihr kündigte. Als sie zum letzten Male Wasser schöpfte, hob sie einen großen goldenen Apfel mit aus dem Brunnen empor, und eine Stimme rief aus der Tiefe: „Kello, bello, dollo reMlo! ti c!c> un buon ricorcZo!" (Schönes, schönes, schönes Geschenk! Nimm es von mir als gutes AndenkenI) Auch mir schien am Ende meiner Sammelarbeit eine Stimme aus der Tiefe der Volksseele zu rufen: „Nimm, was du gefunden, und bring es deinem — und meinem Volke!" Dichterwerke in neuem Gewände von Heinz Amelung le hundertjährige Wiederkehr von Kleists Todestag hat uns nicht nur eine unübersehbare Flut von Zeitschriften- und Zeitungsauf¬ sätzen gebracht, sondern auch eine große Zahl mehr oder minder wertvoller Bücher. (Vgl. das Referat über die neuere Kleist-Literatur in Heft 49 der Grenzboten, Seite 510.) Daß sich in anderthalb Jahren der Geburtstag Friedrich Hebbels zum hundertsten Male jähren wird, macht sich bereits bemerkbar, aber bis jetzt in durchaus erfreulicher Weise. Zwei große Ausgaben des lange verkannten, heute aber so kritiklos gelobten Dichters, daß sich mancherorts Widerspruch dagegen erhebt, treten auf den Plan: in dritter Auflage beginnt die bewährte, vortreffliche historisch-kritische Gesamt¬ ausgabe der Werke, Tagebücher und Briefe Hebbels, die glänzende Leistung Richard Maria Werners, als „säkular-Ausgabe" zu erscheinen (B. Behrs Verlag zu Berlin, bis jetzt drei Bände); daneben stellt sich nun eine zweite, von Paul Börnstein besorgte Gesamtausgabe, die sich den Klassikerausgaben des rührigen und kräftig aufblühenden Verlags von Georg Müller in München würdig anschließt. Die beiden Ausgaben wollen nicht miteinander konkurrieren; denn die Anordnung ist in ihnen völlig verschieden. Werner hat an der alten Einteilung festgehalten, natürlich aber berücksichtigt er in seinen klaren und knappen Einführungen die neuen Ergebnisse der Forschung. Börnstein dagegen bringt die Werke in chrono¬ logischer Reihenfolge und fügt in jedem Bande zu den Dichtungen die dazu gehörigen bedeutsamen Briefe und Eintragungen der Tagebücher. Auch Briefe an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/558>, abgerufen am 03.07.2024.