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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Völkerrecht

Die Kriegskonterbande-Erklärungen im
italienisch-türkischen Kriege. Obgleich auf
der Londoner Seekriegsrechtskonferenz 1909
ausdrücklich festgestellt worden ist, daß die in
der "Londoner Deklaration" enthaltenen Be¬
stimmungen über die Kriegskonterbande ohne
weiteres gelten und keiner besonderen Ver¬
öffentlichung in: Kriegsfalle bedürfen, haben
doch die beiden kriegführenden Parteien des
italienisch-türkischen Krieges wenige Tage nach
der Eröffnung derFeindseligkeiten Erklärungen
darüber abgegeben, welche Gegenstände von
ihnen als Kriegskonterbande behandelt werden.
Diese Liste wird eingeleitet durch eine Er¬
klärung der türkischen Regierung, in der sie
sich im allgemeinen ans den Standpunkt der
Londoner Deklaration 1909 stellt, obwohl die
Türkei nicht zu den unterzeichneten Mächten
gehört habe. Trotzdem weicht die Liste in
einigen Punkten von der Londoner Deklaration
ab. Zunächst sind relative und absolute Kriegs¬
konterbande ohne Unterschied in der Liste ver¬
einigt, so daß man annehmen muß, daß die
türkische Regierung die relative Konterbande
ebenso streng wie die absolute behandeln will;
ferner ist die Liste bedeutend erweitert und
endlich sind darin Stoffe aufgenommen wor¬
den, die nach Artikel 28 überhaupt nicht als
Kriegskonterbande erklärt werden dürfen, näm¬
lich Hanf, rohe Felle, Kalk und Harz. Die
sinngemäße Erweiterung der Kriegskonter¬
bandelisten ist nach der Londoner Erklärung
gestattet, wenn eine entsprechende Bekannt¬
machung erlassen wird. Die Aufnahme von
Gegenständen, die im Artikel 28 ausdrücklich
erwähnt sind, in die Konterbandeliste ist aber
ein Verstoß gegen die Londoner Deklaration,
der besonders ausfallend ist, weil die Türkei
sich in der Einleitung zu diesem Vertrage
bekennt und sogar hinzufügt, die Zahl der
Gegenstände sei im Interesse des allgemeinen
Handels möglichst beschränkt worden. Im
Gegensatz dazu spricht die sehr allgemein ge¬
haltene Erklärung der italienischen Regierung
überhaupt nur von der absoluten Konterbande
und enthält somit den Verzicht auf die re¬
lative Konterbande.

Die Verschiedenheit der Bekanntmachungen
erklärt sich aus der Lage der beiden krieg¬

[Spaltenumbruch]

führenden Parteien. Italien hat von der
Einführung relativer Konterbande, d. h. von
Gegenständen, die nicht lediglich zu Kriegs¬
zwecken dienen, nach Tripolis wenig zu be¬
fürchten; eS muß nur die Einfuhr von Waffen
verhüten und ist dazu dank seiner wirksamen
Blockade leicht imstande. Sein Hauptinteresse
aber ist es, den neutralen Handel möglichst
wenig zu belästigen und sich durch äußerst
humane Kriegführung die Sympathien der
europäischen Staaten wieder zu erwerben, die
es durch sein Vorgehen in Tripolis zum Teil
verloren hat. Deshalb verzichtet es freiwillig
auf Rechte, die ihm als zeichnende Macht der
"Londoner Erklärung" ohne weiteres zustehen.
Die Türkei dagegen, die in wirtschaftlicher Be¬
ziehung weit weniger abhängig vom italieni¬
schen Markt ist als umgekehrt -- der italienische
Export nach der Türkei ist über doppelt so
groß als die Einfuhr von dort -- ist in militä¬
rischer Beziehung durch das Fehlen einer starken
Seemacht zu einer passiven Rolle verurteilt. Sie
hat mit Italien keine gemeinsamen Grenzen,
um zu Lande kämpfen zu können, und kann
die mit unvergleichlicher Opferwilligkeit des
Volkes -- gegen ganz andere Feinde -- ge¬
schaffene junge Flotte nicht aufs Spiel setzen.
Es ist daher natürlich, daß sie wenigstens den
nicht unbedeutenden italienischen Handel mit
der Levante zu schädigen sucht, wenn sie es
auch vorläufig nur in den eigenen Häfen, im
Schwarzen Meere und in den türkischen
Meerengen vermag. Immerhin ist es der
Türkei auf diese Weise möglich, einen nicht
unerheblichen Druck auf den Gegner auszu¬
üben, da der italienische Außenhandel nach
der Türkei größer ist als selbst der russische
oder deutsche. Aus diesen Gesichtspunkten
heraus erklärt sich die über die Londoner
Deklaration hinausgehcndeKriegSkonterbande-
liste der türkischen Regierung. Gleich zu
Beginn des Krieges wurde die Frage des
Getreidetransportes aus den Häfen des
Schwarzen Meeres durch die Dardanellen
akut. Gegen das Verbot jeglicher Getreide¬
durchfuhr durch die Dardanellen, das die tür¬
kische Regierung Anfang Oktober erließ, legte
Nußland, dessen Schiffahrt hierdurch besonders
hart getroffen war, unter Bezugnahme auf
den Artikel 33 der Londoner Deklaration
sofort energisch Protest ein, da in den russi-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Völkerrecht

Die Kriegskonterbande-Erklärungen im
italienisch-türkischen Kriege. Obgleich auf
der Londoner Seekriegsrechtskonferenz 1909
ausdrücklich festgestellt worden ist, daß die in
der „Londoner Deklaration" enthaltenen Be¬
stimmungen über die Kriegskonterbande ohne
weiteres gelten und keiner besonderen Ver¬
öffentlichung in: Kriegsfalle bedürfen, haben
doch die beiden kriegführenden Parteien des
italienisch-türkischen Krieges wenige Tage nach
der Eröffnung derFeindseligkeiten Erklärungen
darüber abgegeben, welche Gegenstände von
ihnen als Kriegskonterbande behandelt werden.
Diese Liste wird eingeleitet durch eine Er¬
klärung der türkischen Regierung, in der sie
sich im allgemeinen ans den Standpunkt der
Londoner Deklaration 1909 stellt, obwohl die
Türkei nicht zu den unterzeichneten Mächten
gehört habe. Trotzdem weicht die Liste in
einigen Punkten von der Londoner Deklaration
ab. Zunächst sind relative und absolute Kriegs¬
konterbande ohne Unterschied in der Liste ver¬
einigt, so daß man annehmen muß, daß die
türkische Regierung die relative Konterbande
ebenso streng wie die absolute behandeln will;
ferner ist die Liste bedeutend erweitert und
endlich sind darin Stoffe aufgenommen wor¬
den, die nach Artikel 28 überhaupt nicht als
Kriegskonterbande erklärt werden dürfen, näm¬
lich Hanf, rohe Felle, Kalk und Harz. Die
sinngemäße Erweiterung der Kriegskonter¬
bandelisten ist nach der Londoner Erklärung
gestattet, wenn eine entsprechende Bekannt¬
machung erlassen wird. Die Aufnahme von
Gegenständen, die im Artikel 28 ausdrücklich
erwähnt sind, in die Konterbandeliste ist aber
ein Verstoß gegen die Londoner Deklaration,
der besonders ausfallend ist, weil die Türkei
sich in der Einleitung zu diesem Vertrage
bekennt und sogar hinzufügt, die Zahl der
Gegenstände sei im Interesse des allgemeinen
Handels möglichst beschränkt worden. Im
Gegensatz dazu spricht die sehr allgemein ge¬
haltene Erklärung der italienischen Regierung
überhaupt nur von der absoluten Konterbande
und enthält somit den Verzicht auf die re¬
lative Konterbande.

Die Verschiedenheit der Bekanntmachungen
erklärt sich aus der Lage der beiden krieg¬

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führenden Parteien. Italien hat von der
Einführung relativer Konterbande, d. h. von
Gegenständen, die nicht lediglich zu Kriegs¬
zwecken dienen, nach Tripolis wenig zu be¬
fürchten; eS muß nur die Einfuhr von Waffen
verhüten und ist dazu dank seiner wirksamen
Blockade leicht imstande. Sein Hauptinteresse
aber ist es, den neutralen Handel möglichst
wenig zu belästigen und sich durch äußerst
humane Kriegführung die Sympathien der
europäischen Staaten wieder zu erwerben, die
es durch sein Vorgehen in Tripolis zum Teil
verloren hat. Deshalb verzichtet es freiwillig
auf Rechte, die ihm als zeichnende Macht der
„Londoner Erklärung" ohne weiteres zustehen.
Die Türkei dagegen, die in wirtschaftlicher Be¬
ziehung weit weniger abhängig vom italieni¬
schen Markt ist als umgekehrt — der italienische
Export nach der Türkei ist über doppelt so
groß als die Einfuhr von dort — ist in militä¬
rischer Beziehung durch das Fehlen einer starken
Seemacht zu einer passiven Rolle verurteilt. Sie
hat mit Italien keine gemeinsamen Grenzen,
um zu Lande kämpfen zu können, und kann
die mit unvergleichlicher Opferwilligkeit des
Volkes — gegen ganz andere Feinde — ge¬
schaffene junge Flotte nicht aufs Spiel setzen.
Es ist daher natürlich, daß sie wenigstens den
nicht unbedeutenden italienischen Handel mit
der Levante zu schädigen sucht, wenn sie es
auch vorläufig nur in den eigenen Häfen, im
Schwarzen Meere und in den türkischen
Meerengen vermag. Immerhin ist es der
Türkei auf diese Weise möglich, einen nicht
unerheblichen Druck auf den Gegner auszu¬
üben, da der italienische Außenhandel nach
der Türkei größer ist als selbst der russische
oder deutsche. Aus diesen Gesichtspunkten
heraus erklärt sich die über die Londoner
Deklaration hinausgehcndeKriegSkonterbande-
liste der türkischen Regierung. Gleich zu
Beginn des Krieges wurde die Frage des
Getreidetransportes aus den Häfen des
Schwarzen Meeres durch die Dardanellen
akut. Gegen das Verbot jeglicher Getreide¬
durchfuhr durch die Dardanellen, das die tür¬
kische Regierung Anfang Oktober erließ, legte
Nußland, dessen Schiffahrt hierdurch besonders
hart getroffen war, unter Bezugnahme auf
den Artikel 33 der Londoner Deklaration
sofort energisch Protest ein, da in den russi-

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[0357] Maßgebliches und Unmaßgebliches Völkerrecht Die Kriegskonterbande-Erklärungen im italienisch-türkischen Kriege. Obgleich auf der Londoner Seekriegsrechtskonferenz 1909 ausdrücklich festgestellt worden ist, daß die in der „Londoner Deklaration" enthaltenen Be¬ stimmungen über die Kriegskonterbande ohne weiteres gelten und keiner besonderen Ver¬ öffentlichung in: Kriegsfalle bedürfen, haben doch die beiden kriegführenden Parteien des italienisch-türkischen Krieges wenige Tage nach der Eröffnung derFeindseligkeiten Erklärungen darüber abgegeben, welche Gegenstände von ihnen als Kriegskonterbande behandelt werden. Diese Liste wird eingeleitet durch eine Er¬ klärung der türkischen Regierung, in der sie sich im allgemeinen ans den Standpunkt der Londoner Deklaration 1909 stellt, obwohl die Türkei nicht zu den unterzeichneten Mächten gehört habe. Trotzdem weicht die Liste in einigen Punkten von der Londoner Deklaration ab. Zunächst sind relative und absolute Kriegs¬ konterbande ohne Unterschied in der Liste ver¬ einigt, so daß man annehmen muß, daß die türkische Regierung die relative Konterbande ebenso streng wie die absolute behandeln will; ferner ist die Liste bedeutend erweitert und endlich sind darin Stoffe aufgenommen wor¬ den, die nach Artikel 28 überhaupt nicht als Kriegskonterbande erklärt werden dürfen, näm¬ lich Hanf, rohe Felle, Kalk und Harz. Die sinngemäße Erweiterung der Kriegskonter¬ bandelisten ist nach der Londoner Erklärung gestattet, wenn eine entsprechende Bekannt¬ machung erlassen wird. Die Aufnahme von Gegenständen, die im Artikel 28 ausdrücklich erwähnt sind, in die Konterbandeliste ist aber ein Verstoß gegen die Londoner Deklaration, der besonders ausfallend ist, weil die Türkei sich in der Einleitung zu diesem Vertrage bekennt und sogar hinzufügt, die Zahl der Gegenstände sei im Interesse des allgemeinen Handels möglichst beschränkt worden. Im Gegensatz dazu spricht die sehr allgemein ge¬ haltene Erklärung der italienischen Regierung überhaupt nur von der absoluten Konterbande und enthält somit den Verzicht auf die re¬ lative Konterbande. Die Verschiedenheit der Bekanntmachungen erklärt sich aus der Lage der beiden krieg¬ führenden Parteien. Italien hat von der Einführung relativer Konterbande, d. h. von Gegenständen, die nicht lediglich zu Kriegs¬ zwecken dienen, nach Tripolis wenig zu be¬ fürchten; eS muß nur die Einfuhr von Waffen verhüten und ist dazu dank seiner wirksamen Blockade leicht imstande. Sein Hauptinteresse aber ist es, den neutralen Handel möglichst wenig zu belästigen und sich durch äußerst humane Kriegführung die Sympathien der europäischen Staaten wieder zu erwerben, die es durch sein Vorgehen in Tripolis zum Teil verloren hat. Deshalb verzichtet es freiwillig auf Rechte, die ihm als zeichnende Macht der „Londoner Erklärung" ohne weiteres zustehen. Die Türkei dagegen, die in wirtschaftlicher Be¬ ziehung weit weniger abhängig vom italieni¬ schen Markt ist als umgekehrt — der italienische Export nach der Türkei ist über doppelt so groß als die Einfuhr von dort — ist in militä¬ rischer Beziehung durch das Fehlen einer starken Seemacht zu einer passiven Rolle verurteilt. Sie hat mit Italien keine gemeinsamen Grenzen, um zu Lande kämpfen zu können, und kann die mit unvergleichlicher Opferwilligkeit des Volkes — gegen ganz andere Feinde — ge¬ schaffene junge Flotte nicht aufs Spiel setzen. Es ist daher natürlich, daß sie wenigstens den nicht unbedeutenden italienischen Handel mit der Levante zu schädigen sucht, wenn sie es auch vorläufig nur in den eigenen Häfen, im Schwarzen Meere und in den türkischen Meerengen vermag. Immerhin ist es der Türkei auf diese Weise möglich, einen nicht unerheblichen Druck auf den Gegner auszu¬ üben, da der italienische Außenhandel nach der Türkei größer ist als selbst der russische oder deutsche. Aus diesen Gesichtspunkten heraus erklärt sich die über die Londoner Deklaration hinausgehcndeKriegSkonterbande- liste der türkischen Regierung. Gleich zu Beginn des Krieges wurde die Frage des Getreidetransportes aus den Häfen des Schwarzen Meeres durch die Dardanellen akut. Gegen das Verbot jeglicher Getreide¬ durchfuhr durch die Dardanellen, das die tür¬ kische Regierung Anfang Oktober erließ, legte Nußland, dessen Schiffahrt hierdurch besonders hart getroffen war, unter Bezugnahme auf den Artikel 33 der Londoner Deklaration sofort energisch Protest ein, da in den russi-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/357>, abgerufen am 23.07.2024.