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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Regierung und Reichstag

Die Ministerreden über Teuerung -- Deren Einseitigkeit -- Einfuhrscheine -- Eine
russische Auffassung darüber -- Marokko, Kongo und Reichstag -- Wert der Kom¬
pensation

Die Vorgänge im Reichstag während der abgelaufenen Woche haben ein
grelles Schlaglicht auf die Bestrebungen geworfen, die versuchen werden sich bei
den nächsten Wahlen durchzusetzen: Freihandel und Parlamentarismus.
Der Herr Reichskanzler hat unzweideutig sowohl durch seine Rede wie durch die
norddeutsche Allgemeine Zeitung zum Ausdruck gebracht, daß er weder für das
eine noch für das andere zu haben sei. Er und nach ihm zwei Ressortminister
haben zum Schutz des bestehenden Wirtschaftssystems und zum Schutz der nationalen
Arbeit aufgerufen. Die Ausführungen der Herren Minister über die
Teuerung stützten sich auf ein sachlich einwandfreies Material und sind wohl
geeignet, alle die von der Unabänderlichkeit der wirtschaftlichen Verhältnisse zu
überzeugen, die die Reden im Zusammenhange lesen oder hören konnten. Aber,
und das ist ihr schwerwiegender Mangel, sie können niemanden, der unter den
herrschenden Zuständen irgend leidet oder sich bedrückt fühlt, bewegen, die Hoffnung
fahren zu lassen, durch eine Änderung des Systems zu besseren Tagen zu ge¬
langen. Dazu entbehrten die Reden denn doch zu sehr der Wärme und des
Mitgefühls mit den Kreisen, die am meisten unter der Notlage zu leiden haben.
Und weil sie dessen entbehrten, erhielten sie für die breite Öffentlichkeit den
Stempel einseitiger Parteinahme für die Agrarier. Daß solche Auffassung un¬
richtig ist, kann die Wirkung der Reden auf die Stimmung im Lande leider nicht
ändern. Infolgedessen dürfen wir zwar von einer Klärung der politischen Lage
sprechen, nicht aber von einer Beruhigung. Im Gegenteil: nach dem
ehrlichen, aber nicht zweckmäßigen Bekenntnis des Herrn Reichskanzlers, daß die
Negierung Abhilfemittel nicht kenne, werden sich viele, die noch unschlüssig da¬
standen, an die Demokraten wenden, die behaupten, in dem Freihandel das
Allheilmittel gefunden zu haben.

Das Verhalten der Reichsregierung in der Teuerungsfrage ist nur
dann recht verständlich, wenn sie mit absoluter Sicherheit auf die Nachfolge der
Rechtsparteien, des Zentrums, der Nationalliberalen und eines Teiles der Frei¬
sinnigen rechnet. Das scheint mir aber doch eine zu optimistische Auffassung der
Lage. Selbst gesetzt den Fall, daß die nächsten Wahlen im Reichstage eine
Mehrheit aus Konservativen, Zentrum und Nationalliberalen zustande kommen
lassen, was durchaus nicht sicher ist, glaube ich, daß die Rechnung mit dem


Grenzboten IV 1911 31


Reichsspiegel
Regierung und Reichstag

Die Ministerreden über Teuerung — Deren Einseitigkeit — Einfuhrscheine — Eine
russische Auffassung darüber — Marokko, Kongo und Reichstag — Wert der Kom¬
pensation

Die Vorgänge im Reichstag während der abgelaufenen Woche haben ein
grelles Schlaglicht auf die Bestrebungen geworfen, die versuchen werden sich bei
den nächsten Wahlen durchzusetzen: Freihandel und Parlamentarismus.
Der Herr Reichskanzler hat unzweideutig sowohl durch seine Rede wie durch die
norddeutsche Allgemeine Zeitung zum Ausdruck gebracht, daß er weder für das
eine noch für das andere zu haben sei. Er und nach ihm zwei Ressortminister
haben zum Schutz des bestehenden Wirtschaftssystems und zum Schutz der nationalen
Arbeit aufgerufen. Die Ausführungen der Herren Minister über die
Teuerung stützten sich auf ein sachlich einwandfreies Material und sind wohl
geeignet, alle die von der Unabänderlichkeit der wirtschaftlichen Verhältnisse zu
überzeugen, die die Reden im Zusammenhange lesen oder hören konnten. Aber,
und das ist ihr schwerwiegender Mangel, sie können niemanden, der unter den
herrschenden Zuständen irgend leidet oder sich bedrückt fühlt, bewegen, die Hoffnung
fahren zu lassen, durch eine Änderung des Systems zu besseren Tagen zu ge¬
langen. Dazu entbehrten die Reden denn doch zu sehr der Wärme und des
Mitgefühls mit den Kreisen, die am meisten unter der Notlage zu leiden haben.
Und weil sie dessen entbehrten, erhielten sie für die breite Öffentlichkeit den
Stempel einseitiger Parteinahme für die Agrarier. Daß solche Auffassung un¬
richtig ist, kann die Wirkung der Reden auf die Stimmung im Lande leider nicht
ändern. Infolgedessen dürfen wir zwar von einer Klärung der politischen Lage
sprechen, nicht aber von einer Beruhigung. Im Gegenteil: nach dem
ehrlichen, aber nicht zweckmäßigen Bekenntnis des Herrn Reichskanzlers, daß die
Negierung Abhilfemittel nicht kenne, werden sich viele, die noch unschlüssig da¬
standen, an die Demokraten wenden, die behaupten, in dem Freihandel das
Allheilmittel gefunden zu haben.

Das Verhalten der Reichsregierung in der Teuerungsfrage ist nur
dann recht verständlich, wenn sie mit absoluter Sicherheit auf die Nachfolge der
Rechtsparteien, des Zentrums, der Nationalliberalen und eines Teiles der Frei¬
sinnigen rechnet. Das scheint mir aber doch eine zu optimistische Auffassung der
Lage. Selbst gesetzt den Fall, daß die nächsten Wahlen im Reichstage eine
Mehrheit aus Konservativen, Zentrum und Nationalliberalen zustande kommen
lassen, was durchaus nicht sicher ist, glaube ich, daß die Rechnung mit dem


Grenzboten IV 1911 31
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/253>, abgerufen am 23.07.2024.