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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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staatlicher Imperialismus und Individualismus

unerwähnt bleibe, daß man in: französischen Schulwesen neuerdings sehr offene
Augen für von außen her zu entnehmende Anregungen hat und daß manche
treffliche Neuerung bereits durchgedrungen ist.)

Mit solchen Vorschlägen ist denn freilich denen schlecht gedient, die aus¬
rufen, man möge doch endlich einmal den höheren Schulen Ruhe lassen.
Dauernde Ruhe ist menschlichen Verhältnissen nicht beschieden, und wo sie gleich¬
wohl angetroffen wird, ist immer zugleich Erstarrung zu befürchten. Übrigens
ist das Tempo der Veränderungen in unserem gesamten Kulturleben ein immer
rascheres geworden. Das schnell sich drehende Schwungrad führt immer neue
Probleme mit herauf. _




staatlicher Imperialismus und Individualismus
von Arthur Dix

W
kWcum ringsumher so starke Ausbreitungs- und Abrundungstendenzen
in der Weltpolitik der großen Mächte herrschen, wie wir sie in dem
Aufsatz "Neue Faktoren und Tendenzen in der Weltpolitik" (Heft 27
S. 1 ff.) beobachtet haben"), -- ist es da verwunderlich, daß die
hieran gewöhnten Politiker in England, Frankreich und anderswo
auch Deutschland gleichartige Pläne zuschreiben? Geradezu typisch ist dafür
das folgende Beispiel, das unlängst aus London berichtet wurde:

Sir Harry Johnston, der große Afrikasorscher, der im allgemeinen als
Freund Deutschlands gelten kann, veröffentlichte im XIX. Lentur^ (Dezember
1910) einen Artikel, in dem er den Deutschen folgende Verständigungspläne
zuschreibt: England müsseDeutschlands--undÖsterreich-Ungarns -- vorherrschende
Stellung in den Ländern der jetzigen Türkei anerkennen, von der Donau bis
zum Euphrat. In Palästina möge man einen neutralen jüdische" Staat schaffen.
Ein türkisches Sultanat könne ja der Form nach bestehen bleiben, aber deutscher
Einfluß müsse in Konstantinopel absolut vorherrschen. Was sollte England
dagegen haben? und Rußland? Russische Ansprüche auf Konstantinopel seien
unberechtigt. Es habe Sibirien und könne noch Turkestan und die Mongolei
nehmen. Rußland könnte auch eine Enklave auf der asiatischen Seite des
Bosporus erhalten, auch Trapezunt und Nordarmenien, und Zugang zum Per¬
sischen Golf durch Nordwest-Persien. Eines müsse aber dabei verstanden werden:
Holland gehört zur deutschen Einflußsphäre. Holland muß an Deutschland durch
ein enges Bündnis gebunden werden. Man habe jetzt schon einen Druck auf
Holland ausgeübt; es bestehe schon jetzt ein Offensiv- und Defensivbündnis, und
die auswärtige Politik Hollands sei mit der Deutschlands so eng verbunden
wie die Deutschlands mit der Österreich-Ungarns. In dieser Hinsicht würde



") V.si. noch die Artikel desselben Verfassers in den Heften 28 und 24 dieses Jahrgangs.
Grenzboten III 1911 9
staatlicher Imperialismus und Individualismus

unerwähnt bleibe, daß man in: französischen Schulwesen neuerdings sehr offene
Augen für von außen her zu entnehmende Anregungen hat und daß manche
treffliche Neuerung bereits durchgedrungen ist.)

Mit solchen Vorschlägen ist denn freilich denen schlecht gedient, die aus¬
rufen, man möge doch endlich einmal den höheren Schulen Ruhe lassen.
Dauernde Ruhe ist menschlichen Verhältnissen nicht beschieden, und wo sie gleich¬
wohl angetroffen wird, ist immer zugleich Erstarrung zu befürchten. Übrigens
ist das Tempo der Veränderungen in unserem gesamten Kulturleben ein immer
rascheres geworden. Das schnell sich drehende Schwungrad führt immer neue
Probleme mit herauf. _




staatlicher Imperialismus und Individualismus
von Arthur Dix

W
kWcum ringsumher so starke Ausbreitungs- und Abrundungstendenzen
in der Weltpolitik der großen Mächte herrschen, wie wir sie in dem
Aufsatz „Neue Faktoren und Tendenzen in der Weltpolitik" (Heft 27
S. 1 ff.) beobachtet haben"), — ist es da verwunderlich, daß die
hieran gewöhnten Politiker in England, Frankreich und anderswo
auch Deutschland gleichartige Pläne zuschreiben? Geradezu typisch ist dafür
das folgende Beispiel, das unlängst aus London berichtet wurde:

Sir Harry Johnston, der große Afrikasorscher, der im allgemeinen als
Freund Deutschlands gelten kann, veröffentlichte im XIX. Lentur^ (Dezember
1910) einen Artikel, in dem er den Deutschen folgende Verständigungspläne
zuschreibt: England müsseDeutschlands--undÖsterreich-Ungarns — vorherrschende
Stellung in den Ländern der jetzigen Türkei anerkennen, von der Donau bis
zum Euphrat. In Palästina möge man einen neutralen jüdische« Staat schaffen.
Ein türkisches Sultanat könne ja der Form nach bestehen bleiben, aber deutscher
Einfluß müsse in Konstantinopel absolut vorherrschen. Was sollte England
dagegen haben? und Rußland? Russische Ansprüche auf Konstantinopel seien
unberechtigt. Es habe Sibirien und könne noch Turkestan und die Mongolei
nehmen. Rußland könnte auch eine Enklave auf der asiatischen Seite des
Bosporus erhalten, auch Trapezunt und Nordarmenien, und Zugang zum Per¬
sischen Golf durch Nordwest-Persien. Eines müsse aber dabei verstanden werden:
Holland gehört zur deutschen Einflußsphäre. Holland muß an Deutschland durch
ein enges Bündnis gebunden werden. Man habe jetzt schon einen Druck auf
Holland ausgeübt; es bestehe schon jetzt ein Offensiv- und Defensivbündnis, und
die auswärtige Politik Hollands sei mit der Deutschlands so eng verbunden
wie die Deutschlands mit der Österreich-Ungarns. In dieser Hinsicht würde



") V.si. noch die Artikel desselben Verfassers in den Heften 28 und 24 dieses Jahrgangs.
Grenzboten III 1911 9
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/77>, abgerufen am 29.12.2024.