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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Strömungen im ländlichen Genossenschaftswesen
von Providens

Die nachstehenden Ausführungen sollen eine Ergänzung zu den
Ausführungen Spektators in Heft 30 der Grenzboten darstellen;
wir geben ihnen gerne Raum, weil sie, ohne die früheren Angaben
zu entkräften, geeignet erscheinen, den Standpunkt der Preuszenkasse
Die Schriftleitung. klar vor Augen zu führen.

n der großen Finanzwelt ist das Genossenschaftswesen fast unbekannt,
vollends das ländliche Genossenschaftswesen. Der Handelsteil einer
Zeitung nimmt von ihnen kaum Notiz; es gibt da keine
Aktionäre, die in der Zeitung darüber etwas lesen wollen. Wird
nun aber einmal die Erörterung des ländlichen Genossenschafts¬
wesens aktuell, so spielen Schlagworte, wie z. B. "Zentralisation" und "Dezentra¬
lisation", "Selbsthilfe" und "Selbstverantwortung" oder "Verstaatlichung", die
an sich doch inhaltsleer sind, leicht eine bedenkliche Rolle. In der Tat ist der
Überblick schwierig. Es handelt sich um eine Finanzmacht von mehr als
2 Milliarden Mark Betriebsmitteln, und diese Macht wird noch eigenartiger
und größer dadurch, daß die Betriebsmittel in kleinen und kleinsten Posten in
Hunderttausenden von Betrieben angelegt sind. Das ländliche Genossenschafts¬
wesen ist zugleich ein so kompliziertes System von Organisationsformen, daß
selbst der banktechnische Fachmann zunächst in einen Irrgarten einzutreten glaubt.
Ohne die Kenntnis des geschichtlichen Werdegangs kann diese Organisation gar
nicht verstanden werden.

Als Raiffeisen die ersten ländlichen Genossenschaften gründete, unterschieden
sie sich in der äußeren Form nicht wesentlich von den städtischen Vorschu߬
vereinen -- hat doch Raiffeisen selbst seine erste Darlehnskasse mit einem Schultze-
Delitzschen Statut gegründet. Indessen brachte doch der dörfliche Charakter
wesentliche Unterschiede in dem Geschäftsbetrieb hervor; ehrenamtliche Arbeit im
Vorstand und Aufsichtsrat, nebenamtliche Arbeit im Rendantenamt und die
genaue und tägliche Kenntnis des Schuldners und seiner Wirtschaftsweise er¬
möglichten einen billigeren und weitergehenden Personalkredit, als ihn jede
andere Kreditorganisation den Bauern bieten konnte. Das Fehlen von Bank¬
fachleuten in der Verwaltung dieser kleinen Dorfbank rief aber auf der anderen
Seite das Bedürfnis nach einer Zentralorganisatton hervor, die von Bank-




Strömungen im ländlichen Genossenschaftswesen
von Providens

Die nachstehenden Ausführungen sollen eine Ergänzung zu den
Ausführungen Spektators in Heft 30 der Grenzboten darstellen;
wir geben ihnen gerne Raum, weil sie, ohne die früheren Angaben
zu entkräften, geeignet erscheinen, den Standpunkt der Preuszenkasse
Die Schriftleitung. klar vor Augen zu führen.

n der großen Finanzwelt ist das Genossenschaftswesen fast unbekannt,
vollends das ländliche Genossenschaftswesen. Der Handelsteil einer
Zeitung nimmt von ihnen kaum Notiz; es gibt da keine
Aktionäre, die in der Zeitung darüber etwas lesen wollen. Wird
nun aber einmal die Erörterung des ländlichen Genossenschafts¬
wesens aktuell, so spielen Schlagworte, wie z. B. „Zentralisation" und „Dezentra¬
lisation", „Selbsthilfe" und „Selbstverantwortung" oder „Verstaatlichung", die
an sich doch inhaltsleer sind, leicht eine bedenkliche Rolle. In der Tat ist der
Überblick schwierig. Es handelt sich um eine Finanzmacht von mehr als
2 Milliarden Mark Betriebsmitteln, und diese Macht wird noch eigenartiger
und größer dadurch, daß die Betriebsmittel in kleinen und kleinsten Posten in
Hunderttausenden von Betrieben angelegt sind. Das ländliche Genossenschafts¬
wesen ist zugleich ein so kompliziertes System von Organisationsformen, daß
selbst der banktechnische Fachmann zunächst in einen Irrgarten einzutreten glaubt.
Ohne die Kenntnis des geschichtlichen Werdegangs kann diese Organisation gar
nicht verstanden werden.

Als Raiffeisen die ersten ländlichen Genossenschaften gründete, unterschieden
sie sich in der äußeren Form nicht wesentlich von den städtischen Vorschu߬
vereinen — hat doch Raiffeisen selbst seine erste Darlehnskasse mit einem Schultze-
Delitzschen Statut gegründet. Indessen brachte doch der dörfliche Charakter
wesentliche Unterschiede in dem Geschäftsbetrieb hervor; ehrenamtliche Arbeit im
Vorstand und Aufsichtsrat, nebenamtliche Arbeit im Rendantenamt und die
genaue und tägliche Kenntnis des Schuldners und seiner Wirtschaftsweise er¬
möglichten einen billigeren und weitergehenden Personalkredit, als ihn jede
andere Kreditorganisation den Bauern bieten konnte. Das Fehlen von Bank¬
fachleuten in der Verwaltung dieser kleinen Dorfbank rief aber auf der anderen
Seite das Bedürfnis nach einer Zentralorganisatton hervor, die von Bank-


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[0615] [Abbildung] Strömungen im ländlichen Genossenschaftswesen von Providens Die nachstehenden Ausführungen sollen eine Ergänzung zu den Ausführungen Spektators in Heft 30 der Grenzboten darstellen; wir geben ihnen gerne Raum, weil sie, ohne die früheren Angaben zu entkräften, geeignet erscheinen, den Standpunkt der Preuszenkasse Die Schriftleitung. klar vor Augen zu führen. n der großen Finanzwelt ist das Genossenschaftswesen fast unbekannt, vollends das ländliche Genossenschaftswesen. Der Handelsteil einer Zeitung nimmt von ihnen kaum Notiz; es gibt da keine Aktionäre, die in der Zeitung darüber etwas lesen wollen. Wird nun aber einmal die Erörterung des ländlichen Genossenschafts¬ wesens aktuell, so spielen Schlagworte, wie z. B. „Zentralisation" und „Dezentra¬ lisation", „Selbsthilfe" und „Selbstverantwortung" oder „Verstaatlichung", die an sich doch inhaltsleer sind, leicht eine bedenkliche Rolle. In der Tat ist der Überblick schwierig. Es handelt sich um eine Finanzmacht von mehr als 2 Milliarden Mark Betriebsmitteln, und diese Macht wird noch eigenartiger und größer dadurch, daß die Betriebsmittel in kleinen und kleinsten Posten in Hunderttausenden von Betrieben angelegt sind. Das ländliche Genossenschafts¬ wesen ist zugleich ein so kompliziertes System von Organisationsformen, daß selbst der banktechnische Fachmann zunächst in einen Irrgarten einzutreten glaubt. Ohne die Kenntnis des geschichtlichen Werdegangs kann diese Organisation gar nicht verstanden werden. Als Raiffeisen die ersten ländlichen Genossenschaften gründete, unterschieden sie sich in der äußeren Form nicht wesentlich von den städtischen Vorschu߬ vereinen — hat doch Raiffeisen selbst seine erste Darlehnskasse mit einem Schultze- Delitzschen Statut gegründet. Indessen brachte doch der dörfliche Charakter wesentliche Unterschiede in dem Geschäftsbetrieb hervor; ehrenamtliche Arbeit im Vorstand und Aufsichtsrat, nebenamtliche Arbeit im Rendantenamt und die genaue und tägliche Kenntnis des Schuldners und seiner Wirtschaftsweise er¬ möglichten einen billigeren und weitergehenden Personalkredit, als ihn jede andere Kreditorganisation den Bauern bieten konnte. Das Fehlen von Bank¬ fachleuten in der Verwaltung dieser kleinen Dorfbank rief aber auf der anderen Seite das Bedürfnis nach einer Zentralorganisatton hervor, die von Bank-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/615>, abgerufen am 29.12.2024.