Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] genommen. Es würde ein schlimmes Symptom Da ein halber Trost besser ist als gar keiner, Testaments liegt vor, nur daß die liberale Tagesfragen Gulliver am Oeresund. Mit unserer näch¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] genommen. Es würde ein schlimmes Symptom Da ein halber Trost besser ist als gar keiner, Testaments liegt vor, nur daß die liberale Tagesfragen Gulliver am Oeresund. Mit unserer näch¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0580" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319527"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_2768" prev="#ID_2767"> genommen. Es würde ein schlimmes Symptom<lb/> für den deutschen Linksliberalismus bedeuten,<lb/> wenn die Langatmigkeiten dieses nervösen<lb/> Buches ohne innere Gestalt auch nur von<lb/> weitem den Ideen entsprächen, die seine Ver¬<lb/> treter beseelten. Überall fehlt es an Freiheit,<lb/> aber das Volk — es ist hier das „gute, tugend¬<lb/> hafte Volk" gemeint — weiß, wie sie zu er¬<lb/> ringen und für ewige Zeiten rein zu erhalten<lb/> ist. Man darf sich auf dem Wege dahin nur<lb/> nicht etwa einfallen lassen, am Wesen und<lb/> Wollen der „nützlichen" Sozialdemokratie An¬<lb/> stoß zu nehmen. Ihr „Terrorismus" ist nach<lb/> Michaelis nicht viel mehr als eine Erfindung<lb/> der Reaktionäre. „Hat sich das deutsche Volk<lb/> erst einmal seine Freiheit vom Absolutismus<lb/> und Bureaukratismus erkämpft, dann wird es<lb/> sich auch schon künftige Freiheitsbeschränkungen<lb/> vom Leibe zu halten wissen." Damit Punktum!<lb/> Nirgends gelangt der Verfasser über diese leere<lb/> Verheißung hinaus, die ihn gleichzeitig gegen<lb/> jede realkritische Bewertung der tatsächlich<lb/> herrschenden Zustände verblendet. Er wollte<lb/> es anders haben. —Dem Grade von Gedanken¬<lb/> tiefe, womit sich Michaelis zufrieden gab, gesellt<lb/> sich Passend eine Diktion bei, die gerade vor<lb/> denjenigen Schwierigkeiten nicht zurückschreckt,<lb/> deren Überwindung ihr bisher mißlang. Viel¬<lb/> leicht kommen nicht alle diese unterhaltenden<lb/> Stilblüten auf des Verfassers alleinige Rech¬<lb/> nung. Die Einheit seines Buches beruht er¬<lb/> sichtlich hier und da auch auf technischen Binde¬<lb/> mitteln.</p> <p xml:id="ID_2769" next="#ID_2770"> Da ein halber Trost besser ist als gar keiner,<lb/> so kann angesichts dieser beiden Veröffent¬<lb/> lichungen wieder einmal hervorgehoben werden,<lb/> daß sie ein im Grunde noch nicht befriedigend<lb/> gelöstes Problem berührten. In keinem abend¬<lb/> ländischen Kulturstaate ist bisher eine liberale<lb/> Partei aufgetreten, die im Verlauf ihres Poli¬<lb/> tischen Wirkens nicht eine Reihe von ganz<lb/> kräftigen Sünden gegen den Geist des Libe¬<lb/> ralismus selbst begangen hätte. Oft ließ es<lb/> sich gar nicht vermeiden, wie denn auch die<lb/> Konservativen aller Länder häufig genug durch¬<lb/> aus liberale Maßnahmen und Gesetze teils<lb/> bewußt, teils widerwillig vertreten haben. Der<lb/> Widerschein von solchen Vorgängen hat die<lb/> Parteiprogramme beeinflußt. Eine gewisse Ähn¬<lb/> lichkeit mit dem abgewandelten Verhältnis der<lb/> späteren christlichenKirchen zur Lehre des Neuen</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_2770" prev="#ID_2769"> Testaments liegt vor, nur daß die liberale<lb/> Urkunde nicht mehr besteht, seit I. I. Rousseaus<lb/> Schriften die kanonische Geltung entzogen wor¬<lb/> den ist. Manchmal möchte man die Skala von<lb/> Enttäuschungen, die auch die Politisch siegreichen<lb/> Liberalen jedesmal betroffen hat, ans eine un¬<lb/> genügend ausgebildete Pflichtenlehre des Libe¬<lb/> ralismus zurückführen. Er scheint das Pflicht¬<lb/> gefühl beim Gegner allzu scharf, das eigene<lb/> mit sehr weitgehender Duldsamkeit abzumessen:<lb/> bei Parteiabstiminungcn und dergleichen nicht,<lb/> Wohl aber bei individueller Betätigung der<lb/><note type="byline"> L. N.</note> geforderten Weltanschauung. </p> </div> <div n="2"> <head> Tagesfragen</head> <div n="3"> <head> Gulliver am Oeresund. </head> <p xml:id="ID_2771" next="#ID_2772"> Mit unserer näch¬<lb/> sten Nachbarnation gegen Mitternacht werden<lb/> die meisten deutschen Besucher Kopenhagens<lb/> und seines umliegenden Gebietanhangs nicht<lb/> so recht fertig. Auf den frostigen ersten Emp¬<lb/> fang, sei es durch einen dänischen Hoteldiener<lb/> oder durch Leute von Honoratiorenrang, wird<lb/> man nachgerade schon daheim vorbereitet.<lb/> Es bestätigt sich auch meist, daß die Bewohner<lb/> von „Gaule Danmark" wärmer würden, so¬<lb/> wie sie erst über unseren Persönlichen Ge¬<lb/> sittungsgrad beruhigt seien. Das kann als<lb/> ein feiner Zug gelten, und sobald man den<lb/> angenehm gedämpften Puls des öffentlichen<lb/> Verkehrs mitfühlen, die gemäßigte Demo¬<lb/> kratie der uns nächstliegenden Einrichtungen<lb/> mit ihrem Stich ins Gemeinnützige schätzen<lb/> gelernt hat, geraten sanguinisch veranlagte<lb/> Naturen leicht in einen gewissen Enthusiasmus<lb/> hinein. Die neuartige, gute und reichliche<lb/> Verpflegung, die sorgsame Zurückhaltung auch<lb/> der unteren Klassen bei allem, was nach<lb/> ErwerbSgier aussehen könnte, Idyllen der<lb/> Landschaft und der Bewohner bewirken, daß<lb/> der harmlose Pilger entzückt und voll Be¬<lb/> dauern über das frühe Ende aller schönen<lb/> Dingo nach Hause dampft. Er gehört der<lb/> Mehrheit an. Eine achtsamer veranlagte<lb/> Minderheit hingegen hat unfreundliche Blicke,<lb/> ohne Anlaß dazu, aufgefangen und vermerkt,<lb/> dem Inhalt gewisser Konversationen dieser<lb/> fremden Zunge divinatorisch mißtraut; sie<lb/> entdeckte, daß die dänische Gelassenheit nie<lb/> zur Freundlichkeit oder gar zu freiwilligem<lb/> Entgegenkommen ausartet. Vielmehr stecke<lb/> etwas dahinter, was man in Deutschland</p> <cb type="end"/><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0580]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
genommen. Es würde ein schlimmes Symptom
für den deutschen Linksliberalismus bedeuten,
wenn die Langatmigkeiten dieses nervösen
Buches ohne innere Gestalt auch nur von
weitem den Ideen entsprächen, die seine Ver¬
treter beseelten. Überall fehlt es an Freiheit,
aber das Volk — es ist hier das „gute, tugend¬
hafte Volk" gemeint — weiß, wie sie zu er¬
ringen und für ewige Zeiten rein zu erhalten
ist. Man darf sich auf dem Wege dahin nur
nicht etwa einfallen lassen, am Wesen und
Wollen der „nützlichen" Sozialdemokratie An¬
stoß zu nehmen. Ihr „Terrorismus" ist nach
Michaelis nicht viel mehr als eine Erfindung
der Reaktionäre. „Hat sich das deutsche Volk
erst einmal seine Freiheit vom Absolutismus
und Bureaukratismus erkämpft, dann wird es
sich auch schon künftige Freiheitsbeschränkungen
vom Leibe zu halten wissen." Damit Punktum!
Nirgends gelangt der Verfasser über diese leere
Verheißung hinaus, die ihn gleichzeitig gegen
jede realkritische Bewertung der tatsächlich
herrschenden Zustände verblendet. Er wollte
es anders haben. —Dem Grade von Gedanken¬
tiefe, womit sich Michaelis zufrieden gab, gesellt
sich Passend eine Diktion bei, die gerade vor
denjenigen Schwierigkeiten nicht zurückschreckt,
deren Überwindung ihr bisher mißlang. Viel¬
leicht kommen nicht alle diese unterhaltenden
Stilblüten auf des Verfassers alleinige Rech¬
nung. Die Einheit seines Buches beruht er¬
sichtlich hier und da auch auf technischen Binde¬
mitteln.
Da ein halber Trost besser ist als gar keiner,
so kann angesichts dieser beiden Veröffent¬
lichungen wieder einmal hervorgehoben werden,
daß sie ein im Grunde noch nicht befriedigend
gelöstes Problem berührten. In keinem abend¬
ländischen Kulturstaate ist bisher eine liberale
Partei aufgetreten, die im Verlauf ihres Poli¬
tischen Wirkens nicht eine Reihe von ganz
kräftigen Sünden gegen den Geist des Libe¬
ralismus selbst begangen hätte. Oft ließ es
sich gar nicht vermeiden, wie denn auch die
Konservativen aller Länder häufig genug durch¬
aus liberale Maßnahmen und Gesetze teils
bewußt, teils widerwillig vertreten haben. Der
Widerschein von solchen Vorgängen hat die
Parteiprogramme beeinflußt. Eine gewisse Ähn¬
lichkeit mit dem abgewandelten Verhältnis der
späteren christlichenKirchen zur Lehre des Neuen
Testaments liegt vor, nur daß die liberale
Urkunde nicht mehr besteht, seit I. I. Rousseaus
Schriften die kanonische Geltung entzogen wor¬
den ist. Manchmal möchte man die Skala von
Enttäuschungen, die auch die Politisch siegreichen
Liberalen jedesmal betroffen hat, ans eine un¬
genügend ausgebildete Pflichtenlehre des Libe¬
ralismus zurückführen. Er scheint das Pflicht¬
gefühl beim Gegner allzu scharf, das eigene
mit sehr weitgehender Duldsamkeit abzumessen:
bei Parteiabstiminungcn und dergleichen nicht,
Wohl aber bei individueller Betätigung der
L. N. geforderten Weltanschauung.
Tagesfragen Gulliver am Oeresund. Mit unserer näch¬
sten Nachbarnation gegen Mitternacht werden
die meisten deutschen Besucher Kopenhagens
und seines umliegenden Gebietanhangs nicht
so recht fertig. Auf den frostigen ersten Emp¬
fang, sei es durch einen dänischen Hoteldiener
oder durch Leute von Honoratiorenrang, wird
man nachgerade schon daheim vorbereitet.
Es bestätigt sich auch meist, daß die Bewohner
von „Gaule Danmark" wärmer würden, so¬
wie sie erst über unseren Persönlichen Ge¬
sittungsgrad beruhigt seien. Das kann als
ein feiner Zug gelten, und sobald man den
angenehm gedämpften Puls des öffentlichen
Verkehrs mitfühlen, die gemäßigte Demo¬
kratie der uns nächstliegenden Einrichtungen
mit ihrem Stich ins Gemeinnützige schätzen
gelernt hat, geraten sanguinisch veranlagte
Naturen leicht in einen gewissen Enthusiasmus
hinein. Die neuartige, gute und reichliche
Verpflegung, die sorgsame Zurückhaltung auch
der unteren Klassen bei allem, was nach
ErwerbSgier aussehen könnte, Idyllen der
Landschaft und der Bewohner bewirken, daß
der harmlose Pilger entzückt und voll Be¬
dauern über das frühe Ende aller schönen
Dingo nach Hause dampft. Er gehört der
Mehrheit an. Eine achtsamer veranlagte
Minderheit hingegen hat unfreundliche Blicke,
ohne Anlaß dazu, aufgefangen und vermerkt,
dem Inhalt gewisser Konversationen dieser
fremden Zunge divinatorisch mißtraut; sie
entdeckte, daß die dänische Gelassenheit nie
zur Freundlichkeit oder gar zu freiwilligem
Entgegenkommen ausartet. Vielmehr stecke
etwas dahinter, was man in Deutschland
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