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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Innere und auswärtige Politik

Wiederaufnahme der Verhandlungen über Marokko -- Länge der Verhandlungen --
Notwendigkeit der Geheimhaltung -- Spanische Forderungen -- Italien besinnt sich --
Deutsche Anfrage in London

Herr Cambon ist am Donnerstag in Berlin eingetroffen. Er hat Herrn
v. Kiderlen sofort nach seiner Rückkehr seine Karte geschickt, mit der Bitte die
Verhandlungen wegen Marokko erst Montag wieder aufzunehmen, da er sich
trotz schneller Überwindung der akuten Krankheit noch recht angegriffen fühle.
Es handelt sich tatsächlich um keine Diplomatenkrankheit, wie hier und da
gemutmaßt wurde, und es liegt sür sie auch kein Grund mehr vor, nachdem
ein Versuch, die Besprechungen in Paris zu verschleppen, dank Herrn Cambons
unzweideutig zum Ausdruck gebrachten Entschluß, sich nicht zum Agenten
Englands herabsetzen zu lassen, gescheitert ist. Am Montag wird der Staats¬
sekretär des Auswärtigen Amts vermutlich die Instruktionen kennen lernen, die
Herr Cambon mitgebracht hat, und somit dürften vor Ablauf der eben
beginnenden Woche Einzelheiten über den Stand der Verhandlungen kaum
bekannt werden -- vorausgesetzt natürlich, daß nicht wieder an der Seine halbe
Indiskretionen begangen werden. Wir haben indessen Grund zu der Annahme,
daß auch die französische Diplomatie in der früher beliebten Art, mit halben
Indiskretionen in der Presse zu arbeiten, ein Haar gefunden hat. Das Ziel
dieser Manöver, die deutschen Unterhändler aus dem Bau zu locken oder einen
der wenigen deutschen Journalisten, die Gelegenheit haben, den Verhandlungen
etwas näher zu stehen, zu einer Entgleisung zu veranlassen, wurde nicht erreicht.

Bei einiger Unbefangenheit in: Urteil muß man auch zugeben, daß das
deutsche System der absoluten Geheimhaltung der Verhandlungen sich bisher
als das bessere erwiesen hat, wenn auch gewisse Interessengruppen und die
Sensationspresse sich zurückgesetzt fühlen. Gilt es doch nicht nur Einzelwünsche
zu befriedigen, sondern dem Gesamtwohl zu dienen und vor allen Dingen das
nationale Wirtschaftsleben vor Erschütterungen zu bewahren, wie sie leicht im
Gefolge diplomatischer Verhandlungen auftreten können.

Wenn man bedenkt, wie viele Interessen bei einer Frage wie der
marokkanischen zusammentreffen, wieviel Berufene und Unberufene und Elemente




Reichsspiegel
Innere und auswärtige Politik

Wiederaufnahme der Verhandlungen über Marokko — Länge der Verhandlungen —
Notwendigkeit der Geheimhaltung — Spanische Forderungen — Italien besinnt sich —
Deutsche Anfrage in London

Herr Cambon ist am Donnerstag in Berlin eingetroffen. Er hat Herrn
v. Kiderlen sofort nach seiner Rückkehr seine Karte geschickt, mit der Bitte die
Verhandlungen wegen Marokko erst Montag wieder aufzunehmen, da er sich
trotz schneller Überwindung der akuten Krankheit noch recht angegriffen fühle.
Es handelt sich tatsächlich um keine Diplomatenkrankheit, wie hier und da
gemutmaßt wurde, und es liegt sür sie auch kein Grund mehr vor, nachdem
ein Versuch, die Besprechungen in Paris zu verschleppen, dank Herrn Cambons
unzweideutig zum Ausdruck gebrachten Entschluß, sich nicht zum Agenten
Englands herabsetzen zu lassen, gescheitert ist. Am Montag wird der Staats¬
sekretär des Auswärtigen Amts vermutlich die Instruktionen kennen lernen, die
Herr Cambon mitgebracht hat, und somit dürften vor Ablauf der eben
beginnenden Woche Einzelheiten über den Stand der Verhandlungen kaum
bekannt werden — vorausgesetzt natürlich, daß nicht wieder an der Seine halbe
Indiskretionen begangen werden. Wir haben indessen Grund zu der Annahme,
daß auch die französische Diplomatie in der früher beliebten Art, mit halben
Indiskretionen in der Presse zu arbeiten, ein Haar gefunden hat. Das Ziel
dieser Manöver, die deutschen Unterhändler aus dem Bau zu locken oder einen
der wenigen deutschen Journalisten, die Gelegenheit haben, den Verhandlungen
etwas näher zu stehen, zu einer Entgleisung zu veranlassen, wurde nicht erreicht.

Bei einiger Unbefangenheit in: Urteil muß man auch zugeben, daß das
deutsche System der absoluten Geheimhaltung der Verhandlungen sich bisher
als das bessere erwiesen hat, wenn auch gewisse Interessengruppen und die
Sensationspresse sich zurückgesetzt fühlen. Gilt es doch nicht nur Einzelwünsche
zu befriedigen, sondern dem Gesamtwohl zu dienen und vor allen Dingen das
nationale Wirtschaftsleben vor Erschütterungen zu bewahren, wie sie leicht im
Gefolge diplomatischer Verhandlungen auftreten können.

Wenn man bedenkt, wie viele Interessen bei einer Frage wie der
marokkanischen zusammentreffen, wieviel Berufene und Unberufene und Elemente


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/488>, abgerufen am 29.12.2024.