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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

meine Augen. War es in meiner Kindheit,
in meiner aprilgrünen Kindheit, als ihr mich
mit diesem abgrundtiefen Blick demütig und
streng ansahe? Und jetzt stehe ich da und
warte, stehe und lausche mit scharfem Ohr, --
gebt Antwort I

Ich fühle euch, wie eine Wunde, mit dem
Herzen fühl' ich eure ganze Weite. Nur ein
Wort, nur ein einziges vernehmbares Wort, --
ihr lebt doch? Eure sehnsüchtigen Augen sehe
ich dort, -- dort am Ende der Welt. Nur
ein einziges Wort, -- ich höre. . . NeinI
Vor mir ist es öde und ihr schweigt, und eure
Trauer ist meine Trauer.

Ihr Leidensgefährten, meine Felder, meine
Heimat, -- ich bin an eure feuchte und warme
Brust gesunken und küsse euch, alles vergessend,
mit kindlicher Inbrunst*).

Naturwissenschaften

Der fossile Mensch. Unter diesem Titel
hat der o. Professor der Geologie und der
Paläontologie an der Berliner Universität
W. Brauen vor zehn Jahren in einem Vor¬
trage anläßlich des fünften internationalen
Zoologenkongresses eine der wichtigsten und
interessantesten Fragen der paläontologischen
Forschung behandelt. Unsere Kenntnis vom
fossilen Menschen ist in diesen zehn Jahren
durch zahlreiche glückliche, bezüglich ihres geo¬
logischen Alters sichergestellte Funde wesentlich
vermehrt worden. Wieder zeigt uns Geheim¬
rat Branca in einer gründlichen, lesenswerten
Veröffentlichung den gegenwärtigen Stand
dieser Kenntnis an. (W. Branca, "Der Stand
unserer Kenntnisse vom fossilen Menschen".
Veit u. Cie., Leipzig 1910. 8°. 112 S.)
Was an Positiven paläontologischen Daten
ermittelt worden ist, hat er mit Sorgfalt zu¬
sammengetragen und kritisch verwertet, doch

[Spaltenumbruch]

ist der Standpunkt, den er im Jahre 1901
dem Problem gegenüber gewonnen hatte, durch
die neuen Erfahrungen nur in sehr geringem
Maße verändert worden. Das neue Tat¬
sachenmaterial hat seinen damaligen Anschau¬
ungen in den wesentlichen Punkten Recht ge¬
geben.

Eines der Hauptergebnisse der Studien
Brancas ist der Nachweis, daß schon in der
Diluvialzeit zwei stark verschiedene Schädel¬
typen gleichzeitig nebeneinander in Europa
borkommen. Der eine, höhere Typus, dem
Schädel des heutigen Europäers sehr ähnlich,
ist mindestens durch sechs, sicher diluviale
Schädel repräsentiert. Ihm gehört wahr¬
scheinlich auch der altdilubiale Schädel von
Galley Hill an. Man nennt ihn den Typus von
Cro Magnon. Der zweite, minderwertige
Typus wird zumeist als Ncandertaltypus be¬
zeichnet, obwohl der Schädel aus der Höhle
des Neandertales selbst aus der Liste der sicher
diluvialen Menschenreste ausgeschieden werden
muß. Charakteristisch für die Neandertalrasse
war die fliehende Stirn und das niedrige
Schädeldach, daS Auftreten stark vorspringen¬
der Überaugenbrauenwulste, im Unterkiefer die
Massigkeit und Höhe des horizontalen sowohl
wie des aufsteigenden Astes, vielleicht auch der
Mangel einer spina menwlis, eines kleinen
Vorsprunges an der Innenseite der Fuge, im
Zusammenhang mit dein noch unentwickelten
Sprachvermögen. Dieser nach den Schädel¬
merkmalen tieferstehenden Rasse gehören die
Schädel von Krapina, le Moustier, Mauer bei
Heidelberg und la Chapelle aux Saints an.
Es gibt aber noch einen Zwittertypus, ver¬
treten durch drei diluviale Schädel, an denen
der Oberschabel die Merkmale der höheren
Rasse, der Unterkiefer jene der tieferstehenden
aufweist. Der Schädel des Necmdertaltypus
findet sich übrigens heute noch bei den Ur¬
einwohnern Australiens.

Die Schädel beider Rassen finden sich in
Europa gleichzeitig, auch würde der Versuch,
die höhere Cro Magnon-Rasse auf die tiefer¬
stehende Neandertalrasse zurückzuführen, noch
in anderer Beziehung erheblichen Schwierig¬
keiten begegnen.

Fossile Reste von tertiären Menschen kennen
wir noch immer nicht. Die angeblich tertiären
Menschenreste aus Südamerika können einer

[Ende Spaltensatz]
*) Wir entnehmen diesen Abschnitt einem
symbolischen Roman von S. Sergejew-ZenSki:
"Die Trauer der Felder", der den ungeheuern
Pessimismus verrät, von dem die dünne geistige
Oberschicht der Russen nach den Exaltationen
von 1S0S und 1906 ergriffen ist. Die Über¬
setzung stammt aus der Feder des Petersburger
Journalisten EdgarMesching, der sich als Über¬
setzer einer ganzen Reihe von zeitgenössischen
russischen Schriftstellern bereits bewährt hat.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

meine Augen. War es in meiner Kindheit,
in meiner aprilgrünen Kindheit, als ihr mich
mit diesem abgrundtiefen Blick demütig und
streng ansahe? Und jetzt stehe ich da und
warte, stehe und lausche mit scharfem Ohr, —
gebt Antwort I

Ich fühle euch, wie eine Wunde, mit dem
Herzen fühl' ich eure ganze Weite. Nur ein
Wort, nur ein einziges vernehmbares Wort, —
ihr lebt doch? Eure sehnsüchtigen Augen sehe
ich dort, — dort am Ende der Welt. Nur
ein einziges Wort, — ich höre. . . NeinI
Vor mir ist es öde und ihr schweigt, und eure
Trauer ist meine Trauer.

Ihr Leidensgefährten, meine Felder, meine
Heimat, — ich bin an eure feuchte und warme
Brust gesunken und küsse euch, alles vergessend,
mit kindlicher Inbrunst*).

Naturwissenschaften

Der fossile Mensch. Unter diesem Titel
hat der o. Professor der Geologie und der
Paläontologie an der Berliner Universität
W. Brauen vor zehn Jahren in einem Vor¬
trage anläßlich des fünften internationalen
Zoologenkongresses eine der wichtigsten und
interessantesten Fragen der paläontologischen
Forschung behandelt. Unsere Kenntnis vom
fossilen Menschen ist in diesen zehn Jahren
durch zahlreiche glückliche, bezüglich ihres geo¬
logischen Alters sichergestellte Funde wesentlich
vermehrt worden. Wieder zeigt uns Geheim¬
rat Branca in einer gründlichen, lesenswerten
Veröffentlichung den gegenwärtigen Stand
dieser Kenntnis an. (W. Branca, „Der Stand
unserer Kenntnisse vom fossilen Menschen".
Veit u. Cie., Leipzig 1910. 8°. 112 S.)
Was an Positiven paläontologischen Daten
ermittelt worden ist, hat er mit Sorgfalt zu¬
sammengetragen und kritisch verwertet, doch

[Spaltenumbruch]

ist der Standpunkt, den er im Jahre 1901
dem Problem gegenüber gewonnen hatte, durch
die neuen Erfahrungen nur in sehr geringem
Maße verändert worden. Das neue Tat¬
sachenmaterial hat seinen damaligen Anschau¬
ungen in den wesentlichen Punkten Recht ge¬
geben.

Eines der Hauptergebnisse der Studien
Brancas ist der Nachweis, daß schon in der
Diluvialzeit zwei stark verschiedene Schädel¬
typen gleichzeitig nebeneinander in Europa
borkommen. Der eine, höhere Typus, dem
Schädel des heutigen Europäers sehr ähnlich,
ist mindestens durch sechs, sicher diluviale
Schädel repräsentiert. Ihm gehört wahr¬
scheinlich auch der altdilubiale Schädel von
Galley Hill an. Man nennt ihn den Typus von
Cro Magnon. Der zweite, minderwertige
Typus wird zumeist als Ncandertaltypus be¬
zeichnet, obwohl der Schädel aus der Höhle
des Neandertales selbst aus der Liste der sicher
diluvialen Menschenreste ausgeschieden werden
muß. Charakteristisch für die Neandertalrasse
war die fliehende Stirn und das niedrige
Schädeldach, daS Auftreten stark vorspringen¬
der Überaugenbrauenwulste, im Unterkiefer die
Massigkeit und Höhe des horizontalen sowohl
wie des aufsteigenden Astes, vielleicht auch der
Mangel einer spina menwlis, eines kleinen
Vorsprunges an der Innenseite der Fuge, im
Zusammenhang mit dein noch unentwickelten
Sprachvermögen. Dieser nach den Schädel¬
merkmalen tieferstehenden Rasse gehören die
Schädel von Krapina, le Moustier, Mauer bei
Heidelberg und la Chapelle aux Saints an.
Es gibt aber noch einen Zwittertypus, ver¬
treten durch drei diluviale Schädel, an denen
der Oberschabel die Merkmale der höheren
Rasse, der Unterkiefer jene der tieferstehenden
aufweist. Der Schädel des Necmdertaltypus
findet sich übrigens heute noch bei den Ur¬
einwohnern Australiens.

Die Schädel beider Rassen finden sich in
Europa gleichzeitig, auch würde der Versuch,
die höhere Cro Magnon-Rasse auf die tiefer¬
stehende Neandertalrasse zurückzuführen, noch
in anderer Beziehung erheblichen Schwierig¬
keiten begegnen.

Fossile Reste von tertiären Menschen kennen
wir noch immer nicht. Die angeblich tertiären
Menschenreste aus Südamerika können einer

[Ende Spaltensatz]
*) Wir entnehmen diesen Abschnitt einem
symbolischen Roman von S. Sergejew-ZenSki:
„Die Trauer der Felder", der den ungeheuern
Pessimismus verrät, von dem die dünne geistige
Oberschicht der Russen nach den Exaltationen
von 1S0S und 1906 ergriffen ist. Die Über¬
setzung stammt aus der Feder des Petersburger
Journalisten EdgarMesching, der sich als Über¬
setzer einer ganzen Reihe von zeitgenössischen
russischen Schriftstellern bereits bewährt hat.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/486>, abgerufen am 29.12.2024.