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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Londoner Brief

Stellung der Volksparleien -- Fiasko der Konservativen -- Eine politische Bombe --
Das Referendum -- Vorschlag der Regierungspartei -- Das herrschende Regierungs-
system -- Ein freieres England

Die Krönung ist vorüber. Auf bunte Feste folgt das Erwachen zu Ernst
und Pflicht. Mit besonderer Spannung sieht das englische Volk der Entwickelung
der konstitutionellen Frage entgegen, ans welche die letzten Ergebnisse in der
politischen Arena des Landes von bedeutsamem Einfluß werden müssen.

Die Stellung der beiden großen englischen Volksparteien zu¬
einander hatte nach Beendigung der Novemberwahlen keine ins Auge
fallende Änderung erfahren. Und doch, mit wieviel mehr Zuversicht und
Festigkeit konnte die aufs neue ins Amt berufene Regierungspartei dieses
Mal aus ihre kühnen Ziele lossteuern! Handelt es sich doch um nichts
Geringeres als zu entscheiden: Sollen die Lords, die repräsentierenden Häupter
der oberen Zehntausend, weiter die Macht besitzen, die Stimme des Volkes, wie
sie durch dessen erwählte Vertreter deutlich und unverkennbar zum Ausdruck
gebracht wird, zum Schweigen zu bringen?

Die Wahlen haben hieraus die Antwort gegeben, doch nicht ohne harten
und bitteren Kampf auf beiden Seiten. So wie die Regierung alles daran¬
setzte, sich das Vertrauen des Volkes zu erhalten, hat die Opposition keine Mittel
gescheut, ihr die Majorität streitig zu machen. Das Fehlschlagen dieser Versuche
hat jedoch nicht nur die Stellung der Liberalen ungemein befestigt, sondern im
feindlichen Lager eine Uneinigkeit hervorgerufen, welche das Prestige der Kon¬
servativen als Unionistenpartei sür lange Zeit beeinträchtigen dürfte. Der
Schlachtruf der Liberalen war kurz und bestimmt. Er lautete: Tod dem Veto.
Ihr Angriff war spontan, während die Haltung des Gegners sich von Anbeginn
durch eine Unentschiedenst kennzeichnete, die auf den Ausgang des Kampfes
nicht ohne Folgen bleiben konnte. In der Tat mußte der Feind stets neue
taktische Maßregeln ergreifen, um sich im Felde behaupten zu können. Wie
bei den letzten Wahlen Deutschland gegen die Politik der Liberalen ausgespielt
wurde, so sollte dieses Mal Amerika der Sündenbock sein. Man denke sich:
Mr. Redmond, der Führer der irischen Partei, hatte es nicht verschmäht, amerika¬
nische Dollars entgegenzunehmen, um mit Hilfe dieses Mammons den Liberalen
zu Sieg und Triumph zu verhelfen und so dem amerikanischen Geschäftsgeist
die Erhaltung des Freihandels in England zu sichern. Die lächerliche Entstellung
der wahren Sachlage und ihrer Bedeutung konnte leicht genug durchschaut
werden, denn wer waren jene Verachtungswürdigen, welche jenseits des
großen Ozeans ein Interesse daran hatten, den Jrländer mit Geldmitteln
zu versorgen? Keine andern als seine in Amerika reich gewordenen Lands¬
genossen, fortgetrieben durch Mißwirtschaft in der Heimat, welche englische
Administration nicht verbessern konnte, leitende Persönlichkeiten in der Kolonie
Kanada, welche den nach Selbstherrschaft strebenden Jrländern mitfühlendes


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Londoner Brief

Stellung der Volksparleien — Fiasko der Konservativen — Eine politische Bombe —
Das Referendum — Vorschlag der Regierungspartei — Das herrschende Regierungs-
system — Ein freieres England

Die Krönung ist vorüber. Auf bunte Feste folgt das Erwachen zu Ernst
und Pflicht. Mit besonderer Spannung sieht das englische Volk der Entwickelung
der konstitutionellen Frage entgegen, ans welche die letzten Ergebnisse in der
politischen Arena des Landes von bedeutsamem Einfluß werden müssen.

Die Stellung der beiden großen englischen Volksparteien zu¬
einander hatte nach Beendigung der Novemberwahlen keine ins Auge
fallende Änderung erfahren. Und doch, mit wieviel mehr Zuversicht und
Festigkeit konnte die aufs neue ins Amt berufene Regierungspartei dieses
Mal aus ihre kühnen Ziele lossteuern! Handelt es sich doch um nichts
Geringeres als zu entscheiden: Sollen die Lords, die repräsentierenden Häupter
der oberen Zehntausend, weiter die Macht besitzen, die Stimme des Volkes, wie
sie durch dessen erwählte Vertreter deutlich und unverkennbar zum Ausdruck
gebracht wird, zum Schweigen zu bringen?

Die Wahlen haben hieraus die Antwort gegeben, doch nicht ohne harten
und bitteren Kampf auf beiden Seiten. So wie die Regierung alles daran¬
setzte, sich das Vertrauen des Volkes zu erhalten, hat die Opposition keine Mittel
gescheut, ihr die Majorität streitig zu machen. Das Fehlschlagen dieser Versuche
hat jedoch nicht nur die Stellung der Liberalen ungemein befestigt, sondern im
feindlichen Lager eine Uneinigkeit hervorgerufen, welche das Prestige der Kon¬
servativen als Unionistenpartei sür lange Zeit beeinträchtigen dürfte. Der
Schlachtruf der Liberalen war kurz und bestimmt. Er lautete: Tod dem Veto.
Ihr Angriff war spontan, während die Haltung des Gegners sich von Anbeginn
durch eine Unentschiedenst kennzeichnete, die auf den Ausgang des Kampfes
nicht ohne Folgen bleiben konnte. In der Tat mußte der Feind stets neue
taktische Maßregeln ergreifen, um sich im Felde behaupten zu können. Wie
bei den letzten Wahlen Deutschland gegen die Politik der Liberalen ausgespielt
wurde, so sollte dieses Mal Amerika der Sündenbock sein. Man denke sich:
Mr. Redmond, der Führer der irischen Partei, hatte es nicht verschmäht, amerika¬
nische Dollars entgegenzunehmen, um mit Hilfe dieses Mammons den Liberalen
zu Sieg und Triumph zu verhelfen und so dem amerikanischen Geschäftsgeist
die Erhaltung des Freihandels in England zu sichern. Die lächerliche Entstellung
der wahren Sachlage und ihrer Bedeutung konnte leicht genug durchschaut
werden, denn wer waren jene Verachtungswürdigen, welche jenseits des
großen Ozeans ein Interesse daran hatten, den Jrländer mit Geldmitteln
zu versorgen? Keine andern als seine in Amerika reich gewordenen Lands¬
genossen, fortgetrieben durch Mißwirtschaft in der Heimat, welche englische
Administration nicht verbessern konnte, leitende Persönlichkeiten in der Kolonie
Kanada, welche den nach Selbstherrschaft strebenden Jrländern mitfühlendes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/150>, abgerufen am 29.12.2024.