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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Die Schriftltg.
Reichsspiegel
Innere Politik

Fortschritt? -- Der Fall Borichard -- Stresemcmns Bekenntnis zum Schutzzoll --
Rußlands Getreideproduktion -- Nationalliberale und Freisinnige.

Unter dem Begriff des Fortschritts darf man ein unaufhörliches Lösen
alter Verbindungen und Knüpfen neuer, einen unaufhörlichen Wechsel und immer
neuen Sieg des Stärkeren verstehen. Das stärkere Prinzip erzwingt sich Anerkennung
und läßt sich zum Besseren erheben, und die Götter von gestern müssen denen
von heute weichen. Die Menschen aber, gewohnt, seit Jahrtausenden Anlehnung
an irgendeine wenn auch nur eingebildete Macht zu suchen, taumeln meist
gedankenlos aus einem Extrem ins andere, es den Nachgeborenen überlassend,
die ordnungsmäßige Registratur des Umschwunges vorzunehmen und Gesetze zu
seiner Begründung zu erdenken. So merken die Zeitgenossen auch gar nicht,
wie sie unter liberaler Flagge auf konservative Postulate schwören und unter
konservativer den Anarchismus begünstigen. In Deutschland sind wir gerade
bei einem historischen Augenblick angekommen, der als Beginn einer neuen Ära
bezeichnet werden kann. Die Herren Registraturen der abgelaufenen Zeitspanne
sind an der Arbeit: die Soziologen stellen die Erschöpfung des marxistischen
Materialismus fest, an die Stelle der Kathedersozialisten treten die Priester des
Individualismus, und Deutschland, im Zeichen des Nationalstaates neu erstanden,
droht sich in einen Nationalitätenstaat zu wandeln. Die 1871 gebändigten
und unterworfenen Kräfte der Minderheit scheinen so weit erstarkt, daß sie
beginnen, der weiteren Entwicklung des Reichs die Richtung zu weisen. Unsere
Reichsregierung steht dem Wechsel scheinbar teilnahmslos zu. In den Fragen
der Ost- und Nordmark, die freilich formell nur den preußischen Minister¬
präsidenten berühren, verhält sie sich völlig schweigsam, und in der elsa߬
lothringischen Angelegenheit scheint sie mehr darauf Bedacht zu nehmen, irgend
etwas zustande zu bringen, als etwas Gutes. In ihrer Teilnahmlosigkeit
allen großen Fragen gegenüber hat sie obendrein noch das Glück, daß die Auf¬
merksamkeit der Bevölkerung abgelenkt wird durch die Wahlvorbereitungen,'
einzelne Nach- und Ersatzwahlen sowie durch allerhand Skandale und Skandälchen.
Das wohlhabende und zum Teil gebildete Publikum sucht und findet obendrein
noch Ablenkung im Theater. Max Reinhardts "Ödipus"-Aufführungen, des
Musikers Strauß "Rosenkavalier", Schönherrs "Glaube und Heimat" sind durch
eine großartige Aufführung des zweiten Teiles von "Faust", auch durch Reinhardt
meisterlich in Szene gesetzt, ergänzt worden.

Zu einem der größten öffentlichen Skandale hat sich der sogenannte Fall
Bernhard ausgewachsen. Wir haben unseren Lesern über den Verlauf der
unerquicklichen Angelegenheit bisher nicht berichtet, weil es außerordentlich schwer,
wenn nicht unmöglich war, ein richtiges, einwandfrei objektives Bild von der


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Fortschritt? — Der Fall Borichard — Stresemcmns Bekenntnis zum Schutzzoll —
Rußlands Getreideproduktion — Nationalliberale und Freisinnige.

Unter dem Begriff des Fortschritts darf man ein unaufhörliches Lösen
alter Verbindungen und Knüpfen neuer, einen unaufhörlichen Wechsel und immer
neuen Sieg des Stärkeren verstehen. Das stärkere Prinzip erzwingt sich Anerkennung
und läßt sich zum Besseren erheben, und die Götter von gestern müssen denen
von heute weichen. Die Menschen aber, gewohnt, seit Jahrtausenden Anlehnung
an irgendeine wenn auch nur eingebildete Macht zu suchen, taumeln meist
gedankenlos aus einem Extrem ins andere, es den Nachgeborenen überlassend,
die ordnungsmäßige Registratur des Umschwunges vorzunehmen und Gesetze zu
seiner Begründung zu erdenken. So merken die Zeitgenossen auch gar nicht,
wie sie unter liberaler Flagge auf konservative Postulate schwören und unter
konservativer den Anarchismus begünstigen. In Deutschland sind wir gerade
bei einem historischen Augenblick angekommen, der als Beginn einer neuen Ära
bezeichnet werden kann. Die Herren Registraturen der abgelaufenen Zeitspanne
sind an der Arbeit: die Soziologen stellen die Erschöpfung des marxistischen
Materialismus fest, an die Stelle der Kathedersozialisten treten die Priester des
Individualismus, und Deutschland, im Zeichen des Nationalstaates neu erstanden,
droht sich in einen Nationalitätenstaat zu wandeln. Die 1871 gebändigten
und unterworfenen Kräfte der Minderheit scheinen so weit erstarkt, daß sie
beginnen, der weiteren Entwicklung des Reichs die Richtung zu weisen. Unsere
Reichsregierung steht dem Wechsel scheinbar teilnahmslos zu. In den Fragen
der Ost- und Nordmark, die freilich formell nur den preußischen Minister¬
präsidenten berühren, verhält sie sich völlig schweigsam, und in der elsa߬
lothringischen Angelegenheit scheint sie mehr darauf Bedacht zu nehmen, irgend
etwas zustande zu bringen, als etwas Gutes. In ihrer Teilnahmlosigkeit
allen großen Fragen gegenüber hat sie obendrein noch das Glück, daß die Auf¬
merksamkeit der Bevölkerung abgelenkt wird durch die Wahlvorbereitungen,'
einzelne Nach- und Ersatzwahlen sowie durch allerhand Skandale und Skandälchen.
Das wohlhabende und zum Teil gebildete Publikum sucht und findet obendrein
noch Ablenkung im Theater. Max Reinhardts „Ödipus"-Aufführungen, des
Musikers Strauß „Rosenkavalier", Schönherrs „Glaube und Heimat" sind durch
eine großartige Aufführung des zweiten Teiles von „Faust", auch durch Reinhardt
meisterlich in Szene gesetzt, ergänzt worden.

Zu einem der größten öffentlichen Skandale hat sich der sogenannte Fall
Bernhard ausgewachsen. Wir haben unseren Lesern über den Verlauf der
unerquicklichen Angelegenheit bisher nicht berichtet, weil es außerordentlich schwer,
wenn nicht unmöglich war, ein richtiges, einwandfrei objektives Bild von der


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[0608] Reichsspiegel ,. Die Schriftltg. Reichsspiegel Innere Politik Fortschritt? — Der Fall Borichard — Stresemcmns Bekenntnis zum Schutzzoll — Rußlands Getreideproduktion — Nationalliberale und Freisinnige. Unter dem Begriff des Fortschritts darf man ein unaufhörliches Lösen alter Verbindungen und Knüpfen neuer, einen unaufhörlichen Wechsel und immer neuen Sieg des Stärkeren verstehen. Das stärkere Prinzip erzwingt sich Anerkennung und läßt sich zum Besseren erheben, und die Götter von gestern müssen denen von heute weichen. Die Menschen aber, gewohnt, seit Jahrtausenden Anlehnung an irgendeine wenn auch nur eingebildete Macht zu suchen, taumeln meist gedankenlos aus einem Extrem ins andere, es den Nachgeborenen überlassend, die ordnungsmäßige Registratur des Umschwunges vorzunehmen und Gesetze zu seiner Begründung zu erdenken. So merken die Zeitgenossen auch gar nicht, wie sie unter liberaler Flagge auf konservative Postulate schwören und unter konservativer den Anarchismus begünstigen. In Deutschland sind wir gerade bei einem historischen Augenblick angekommen, der als Beginn einer neuen Ära bezeichnet werden kann. Die Herren Registraturen der abgelaufenen Zeitspanne sind an der Arbeit: die Soziologen stellen die Erschöpfung des marxistischen Materialismus fest, an die Stelle der Kathedersozialisten treten die Priester des Individualismus, und Deutschland, im Zeichen des Nationalstaates neu erstanden, droht sich in einen Nationalitätenstaat zu wandeln. Die 1871 gebändigten und unterworfenen Kräfte der Minderheit scheinen so weit erstarkt, daß sie beginnen, der weiteren Entwicklung des Reichs die Richtung zu weisen. Unsere Reichsregierung steht dem Wechsel scheinbar teilnahmslos zu. In den Fragen der Ost- und Nordmark, die freilich formell nur den preußischen Minister¬ präsidenten berühren, verhält sie sich völlig schweigsam, und in der elsa߬ lothringischen Angelegenheit scheint sie mehr darauf Bedacht zu nehmen, irgend etwas zustande zu bringen, als etwas Gutes. In ihrer Teilnahmlosigkeit allen großen Fragen gegenüber hat sie obendrein noch das Glück, daß die Auf¬ merksamkeit der Bevölkerung abgelenkt wird durch die Wahlvorbereitungen,' einzelne Nach- und Ersatzwahlen sowie durch allerhand Skandale und Skandälchen. Das wohlhabende und zum Teil gebildete Publikum sucht und findet obendrein noch Ablenkung im Theater. Max Reinhardts „Ödipus"-Aufführungen, des Musikers Strauß „Rosenkavalier", Schönherrs „Glaube und Heimat" sind durch eine großartige Aufführung des zweiten Teiles von „Faust", auch durch Reinhardt meisterlich in Szene gesetzt, ergänzt worden. Zu einem der größten öffentlichen Skandale hat sich der sogenannte Fall Bernhard ausgewachsen. Wir haben unseren Lesern über den Verlauf der unerquicklichen Angelegenheit bisher nicht berichtet, weil es außerordentlich schwer, wenn nicht unmöglich war, ein richtiges, einwandfrei objektives Bild von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/608>, abgerufen am 24.07.2024.