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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Die Aunst, Österreich zu regieren
Prof. Dr, Paul Samassa von

lie politische Entwicklung hat dem Absolutismus die Teilnahme
des Volkes an der Gesetzgebung, die Kontrolle der Verwaltung
durch ein Parlament entgegengestellt. In allen Verfassungsstaaten
^ macht sich die Tendenz geltend, die Grundlagen des Wahlrechts
immer mehr zu erweitern, die politischen Vertretungskörper zu
demokratisieren. Wir sehen noch kein Ende der demokratischen Flut; einige
Anzeichen deuten darauf hin, daß mit der Erweiterung des Wahlrechts ein Sinken
des Einflusses der Parlamente Hand in Hand geht. Die ideale Staatsverfassung
ist bis heute nicht gefunden; überdies schickt sich eines nicht für alle. Die demo¬
kratische Entwicklung des Wahlrechts hat Österreich mitgemacht, bis zu einen:
Punkt, wo eine Steigerung kaum mehr denkbar ist; das Problem verwickelt sich
aber hier dadurch, daß Österreich ein Völkerstaat ist, von verschiedenen Nationali¬
täten bewohnt, von denen keine die absolute Mehrheit bildet. Und das ergibt
natürlich auch ganz andre Perspektiven der künftigen Entwicklung. Man kann
in einem Nationalstaat demokratische Einrichtungen für ein großes Unglück halten,
man kann dagegen einwenden, daß sie Leute, die keinerlei Befähigung zur
Führung der Staatsgeschäfte haben, zu diesen berufen, daß die Herrschaft der
oberen sozialen Schichten durch die des Proletariats ersetzt wird, eine Klassenherrschaft
durch eine andre, viel schlimmere. Man könnte sich schließlich vorstellen, daß in
Deutschland, Frankreich oder England die Sozialdemokratie zur Herrschaft käme
und dem betreffenden Lande unendlichen Schaden in seiner internationalen
Machtstellung und kulturellen Entwicklung brächte. Wenn aber das Volk als
solches nicht bereits so entartet ist, daß es schließlich einer Fremdherrschaft zur
Beute fällt, so würde es doch immer aus eigener Kraft eine Abhilfe der ihn:
schädlichen Zustände schaffen können und über eine Diktatur oder auf andre


Grmzboton l 1911 M


Die Aunst, Österreich zu regieren
Prof. Dr, Paul Samassa von

lie politische Entwicklung hat dem Absolutismus die Teilnahme
des Volkes an der Gesetzgebung, die Kontrolle der Verwaltung
durch ein Parlament entgegengestellt. In allen Verfassungsstaaten
^ macht sich die Tendenz geltend, die Grundlagen des Wahlrechts
immer mehr zu erweitern, die politischen Vertretungskörper zu
demokratisieren. Wir sehen noch kein Ende der demokratischen Flut; einige
Anzeichen deuten darauf hin, daß mit der Erweiterung des Wahlrechts ein Sinken
des Einflusses der Parlamente Hand in Hand geht. Die ideale Staatsverfassung
ist bis heute nicht gefunden; überdies schickt sich eines nicht für alle. Die demo¬
kratische Entwicklung des Wahlrechts hat Österreich mitgemacht, bis zu einen:
Punkt, wo eine Steigerung kaum mehr denkbar ist; das Problem verwickelt sich
aber hier dadurch, daß Österreich ein Völkerstaat ist, von verschiedenen Nationali¬
täten bewohnt, von denen keine die absolute Mehrheit bildet. Und das ergibt
natürlich auch ganz andre Perspektiven der künftigen Entwicklung. Man kann
in einem Nationalstaat demokratische Einrichtungen für ein großes Unglück halten,
man kann dagegen einwenden, daß sie Leute, die keinerlei Befähigung zur
Führung der Staatsgeschäfte haben, zu diesen berufen, daß die Herrschaft der
oberen sozialen Schichten durch die des Proletariats ersetzt wird, eine Klassenherrschaft
durch eine andre, viel schlimmere. Man könnte sich schließlich vorstellen, daß in
Deutschland, Frankreich oder England die Sozialdemokratie zur Herrschaft käme
und dem betreffenden Lande unendlichen Schaden in seiner internationalen
Machtstellung und kulturellen Entwicklung brächte. Wenn aber das Volk als
solches nicht bereits so entartet ist, daß es schließlich einer Fremdherrschaft zur
Beute fällt, so würde es doch immer aus eigener Kraft eine Abhilfe der ihn:
schädlichen Zustände schaffen können und über eine Diktatur oder auf andre


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[0471] [Abbildung] Die Aunst, Österreich zu regieren Prof. Dr, Paul Samassa von lie politische Entwicklung hat dem Absolutismus die Teilnahme des Volkes an der Gesetzgebung, die Kontrolle der Verwaltung durch ein Parlament entgegengestellt. In allen Verfassungsstaaten ^ macht sich die Tendenz geltend, die Grundlagen des Wahlrechts immer mehr zu erweitern, die politischen Vertretungskörper zu demokratisieren. Wir sehen noch kein Ende der demokratischen Flut; einige Anzeichen deuten darauf hin, daß mit der Erweiterung des Wahlrechts ein Sinken des Einflusses der Parlamente Hand in Hand geht. Die ideale Staatsverfassung ist bis heute nicht gefunden; überdies schickt sich eines nicht für alle. Die demo¬ kratische Entwicklung des Wahlrechts hat Österreich mitgemacht, bis zu einen: Punkt, wo eine Steigerung kaum mehr denkbar ist; das Problem verwickelt sich aber hier dadurch, daß Österreich ein Völkerstaat ist, von verschiedenen Nationali¬ täten bewohnt, von denen keine die absolute Mehrheit bildet. Und das ergibt natürlich auch ganz andre Perspektiven der künftigen Entwicklung. Man kann in einem Nationalstaat demokratische Einrichtungen für ein großes Unglück halten, man kann dagegen einwenden, daß sie Leute, die keinerlei Befähigung zur Führung der Staatsgeschäfte haben, zu diesen berufen, daß die Herrschaft der oberen sozialen Schichten durch die des Proletariats ersetzt wird, eine Klassenherrschaft durch eine andre, viel schlimmere. Man könnte sich schließlich vorstellen, daß in Deutschland, Frankreich oder England die Sozialdemokratie zur Herrschaft käme und dem betreffenden Lande unendlichen Schaden in seiner internationalen Machtstellung und kulturellen Entwicklung brächte. Wenn aber das Volk als solches nicht bereits so entartet ist, daß es schließlich einer Fremdherrschaft zur Beute fällt, so würde es doch immer aus eigener Kraft eine Abhilfe der ihn: schädlichen Zustände schaffen können und über eine Diktatur oder auf andre Grmzboton l 1911 M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/471>, abgerufen am 27.12.2024.