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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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sind die je 43 gelten an der inneren Seite
durch Ziffern (S, 10 usw.) geteilt. Ausführ¬
licher war von Stifter in den Grenzboten 1906,
K, Br, Bd. S4 S, 470 bis 480 die Rede.

Paul Verkäme, Vers.

Herausgegeben von
Georges N, Tournour. Leipzig 1910, Ernst
Rowohlt.

Die Franzosen befinden sich in einer sonder¬
baren Stellung zu Verlaine. Wenn sie sich
einer Kunst hingeben sollen, die offensichtlich aus
keiner der großzügigen Eigenschaften ihres
nationalen Temperamentes herstammt wie die
Kunst Corneilles oder Victor Hugos; wenn
sie ihre Sprache in einer Art angewendet sehen,
die ihren Überlieferungen, ja allein, was bei
Überlieferungen immer mit Natur zusammen¬
hängt, widerspricht; wenn sie ferner mit dein
Erfolg bon Verlaines Kunst das Eindringen
der barbarischen Kunst Richard Wagners Hand
in Hand gehen sehen, und diese ganze Ent¬
wicklung ungefähr von der Zeit der deutschen
Siege datieren können, so sind das Dinge,
die einen denkenden französischen Patrioten
in Erregung bringen können. Die Stellung
der Deutschen zu Verlaines Gedichten nun,
sofern es überhaupt eine gibt, wird natürlich
nicht so unbedingt sein, aber dafür entbehrt
sie nicht eines starken grotesken Einschlags.
Man muß nämlich wissen, wie diese Kunst
heraufgekommen ist: dieses französische In¬
dividuum Paul Verlaine war durch über¬
mäßigen Genuß von Alkohol bereits etwas
fadenscheinig geworden; die jüngsten und
grünsten Kräfte waren als erste versehrt und
zerfressen worden, und durch die schwammig
durchlöcherte Gegenwart Verlaines begannen
schon die deutschen Vorfahren durchzublicken;
was frühere Geschlechter weitergegeben haben,
was von ihnen fortgewirkt hatte, um dieses
eine Individuum zu bilden, das war noch
übrig. Der feste Stamm, der Kern eines
Stammes, der sich noch fort erhielt, die Kon¬
tinuität der Familie. . . und diese deutschen
Vorfahren sind es, die aus dem trunkenen
Munde des Verkommenen zu reden beginnen.
Und halb lallend, halb weinend spricht er
französisch die Verse des Caspar Hauserz seine

[Spaltenumbruch]

Träume zeigen ihm den deutschen Ritter, der
ihn mit blankem gesunden Gebiß anlacht; in
seiner Herzensnot schreit er inbrünstig zu Gott
und der heiligen Jungfrau, wie sie in gotischen
Kathedralen verehrt wurden, und im Ge¬
fängnis hört er grauenhaft in sich die Frage
aus dein Munde derer, die an ihm gebaut
haben, herüberklingen: Was hat du mit deiner
Jugend getan?

Also auch auf diese Weise kann die Mensch¬
heit zu deutschen Gedichten kommen.

Nun ist es aber auch schon klar, daß alle
möglichen anderen Gedichte eherübersetztwerden
können als die von Paul Verlaine. Denn sie
in die deutsche Sprache bringen, heißt nichts
anderes als den einen Reiz, der ihnen inne-
wohnt, stärker betonen: das heißt einen Ein¬
griff in die künstlerische Existenz eines solchen
Gedichtwesens machen. Mögen manche von
diesen so oft versuchten Übersetzungen auch
noch so glänzende Leistungen deutschor Sprach¬
fertigkeit und Sprachbiegsamkeit bedeuten,
mögen sie den Gemütston noch so rein bringen,
das Schwebende und schaukelnde gerade hierin
ist eben Kreuzungsprodukt. Kreuzungen ent¬
wickeln ihren allereigensten Reiz, der keinem
von den beiden Faktoren, die sich vereinigt
haben, innewohnt. Kreuzungen sind förder¬
lich für Entfaltung von Schönheit und Ori¬
ginalität, zeigen ihren eigenen Teint, behalten
ihren eigenen traumhaft schillernden Klang.
Hierin ruht ihr Verführerisches, auch die Ver¬
führung, sich ihrer in einer anderen Sprache
zu bemächtigen, sie zu verpflanzen, zärtlich zu
hegen. Sie gedeihen nicht, sie sind nicht zu
erlösen. Die Berlaineschen Gedichte müssen
ins Französische verzaubert bleiben.

[Ende Spaltensatz]

Da ist es in tieferem Sinne kein Zufall
und keine Willkür, sondern Gerechtigkeit, wenn
in Deutschland eine schöne französische Aus¬
gabe von Verlaines Gedichten die häßlichen,
mit verbrauchten Typen gedruckten französischen
Editionen zu verdrängen sucht. Mit beson¬
derer Freude an schönen Lettern und schönem
Satzbild schlagen wir diesen schlichtprächtigen,
anständigen Band auf, in seiner trefflichen
Auswahl erneuern wir alten vertrauten Um¬
Dr. Max Meil- gang.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

sind die je 43 gelten an der inneren Seite
durch Ziffern (S, 10 usw.) geteilt. Ausführ¬
licher war von Stifter in den Grenzboten 1906,
K, Br, Bd. S4 S, 470 bis 480 die Rede.

Paul Verkäme, Vers.

Herausgegeben von
Georges N, Tournour. Leipzig 1910, Ernst
Rowohlt.

Die Franzosen befinden sich in einer sonder¬
baren Stellung zu Verlaine. Wenn sie sich
einer Kunst hingeben sollen, die offensichtlich aus
keiner der großzügigen Eigenschaften ihres
nationalen Temperamentes herstammt wie die
Kunst Corneilles oder Victor Hugos; wenn
sie ihre Sprache in einer Art angewendet sehen,
die ihren Überlieferungen, ja allein, was bei
Überlieferungen immer mit Natur zusammen¬
hängt, widerspricht; wenn sie ferner mit dein
Erfolg bon Verlaines Kunst das Eindringen
der barbarischen Kunst Richard Wagners Hand
in Hand gehen sehen, und diese ganze Ent¬
wicklung ungefähr von der Zeit der deutschen
Siege datieren können, so sind das Dinge,
die einen denkenden französischen Patrioten
in Erregung bringen können. Die Stellung
der Deutschen zu Verlaines Gedichten nun,
sofern es überhaupt eine gibt, wird natürlich
nicht so unbedingt sein, aber dafür entbehrt
sie nicht eines starken grotesken Einschlags.
Man muß nämlich wissen, wie diese Kunst
heraufgekommen ist: dieses französische In¬
dividuum Paul Verlaine war durch über¬
mäßigen Genuß von Alkohol bereits etwas
fadenscheinig geworden; die jüngsten und
grünsten Kräfte waren als erste versehrt und
zerfressen worden, und durch die schwammig
durchlöcherte Gegenwart Verlaines begannen
schon die deutschen Vorfahren durchzublicken;
was frühere Geschlechter weitergegeben haben,
was von ihnen fortgewirkt hatte, um dieses
eine Individuum zu bilden, das war noch
übrig. Der feste Stamm, der Kern eines
Stammes, der sich noch fort erhielt, die Kon¬
tinuität der Familie. . . und diese deutschen
Vorfahren sind es, die aus dem trunkenen
Munde des Verkommenen zu reden beginnen.
Und halb lallend, halb weinend spricht er
französisch die Verse des Caspar Hauserz seine

[Spaltenumbruch]

Träume zeigen ihm den deutschen Ritter, der
ihn mit blankem gesunden Gebiß anlacht; in
seiner Herzensnot schreit er inbrünstig zu Gott
und der heiligen Jungfrau, wie sie in gotischen
Kathedralen verehrt wurden, und im Ge¬
fängnis hört er grauenhaft in sich die Frage
aus dein Munde derer, die an ihm gebaut
haben, herüberklingen: Was hat du mit deiner
Jugend getan?

Also auch auf diese Weise kann die Mensch¬
heit zu deutschen Gedichten kommen.

Nun ist es aber auch schon klar, daß alle
möglichen anderen Gedichte eherübersetztwerden
können als die von Paul Verlaine. Denn sie
in die deutsche Sprache bringen, heißt nichts
anderes als den einen Reiz, der ihnen inne-
wohnt, stärker betonen: das heißt einen Ein¬
griff in die künstlerische Existenz eines solchen
Gedichtwesens machen. Mögen manche von
diesen so oft versuchten Übersetzungen auch
noch so glänzende Leistungen deutschor Sprach¬
fertigkeit und Sprachbiegsamkeit bedeuten,
mögen sie den Gemütston noch so rein bringen,
das Schwebende und schaukelnde gerade hierin
ist eben Kreuzungsprodukt. Kreuzungen ent¬
wickeln ihren allereigensten Reiz, der keinem
von den beiden Faktoren, die sich vereinigt
haben, innewohnt. Kreuzungen sind förder¬
lich für Entfaltung von Schönheit und Ori¬
ginalität, zeigen ihren eigenen Teint, behalten
ihren eigenen traumhaft schillernden Klang.
Hierin ruht ihr Verführerisches, auch die Ver¬
führung, sich ihrer in einer anderen Sprache
zu bemächtigen, sie zu verpflanzen, zärtlich zu
hegen. Sie gedeihen nicht, sie sind nicht zu
erlösen. Die Berlaineschen Gedichte müssen
ins Französische verzaubert bleiben.

[Ende Spaltensatz]

Da ist es in tieferem Sinne kein Zufall
und keine Willkür, sondern Gerechtigkeit, wenn
in Deutschland eine schöne französische Aus¬
gabe von Verlaines Gedichten die häßlichen,
mit verbrauchten Typen gedruckten französischen
Editionen zu verdrängen sucht. Mit beson¬
derer Freude an schönen Lettern und schönem
Satzbild schlagen wir diesen schlichtprächtigen,
anständigen Band auf, in seiner trefflichen
Auswahl erneuern wir alten vertrauten Um¬
Dr. Max Meil- gang.




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[0457] Maßgebliches und Unmaßgebliches sind die je 43 gelten an der inneren Seite durch Ziffern (S, 10 usw.) geteilt. Ausführ¬ licher war von Stifter in den Grenzboten 1906, K, Br, Bd. S4 S, 470 bis 480 die Rede. Paul Verkäme, Vers. Herausgegeben von Georges N, Tournour. Leipzig 1910, Ernst Rowohlt. Die Franzosen befinden sich in einer sonder¬ baren Stellung zu Verlaine. Wenn sie sich einer Kunst hingeben sollen, die offensichtlich aus keiner der großzügigen Eigenschaften ihres nationalen Temperamentes herstammt wie die Kunst Corneilles oder Victor Hugos; wenn sie ihre Sprache in einer Art angewendet sehen, die ihren Überlieferungen, ja allein, was bei Überlieferungen immer mit Natur zusammen¬ hängt, widerspricht; wenn sie ferner mit dein Erfolg bon Verlaines Kunst das Eindringen der barbarischen Kunst Richard Wagners Hand in Hand gehen sehen, und diese ganze Ent¬ wicklung ungefähr von der Zeit der deutschen Siege datieren können, so sind das Dinge, die einen denkenden französischen Patrioten in Erregung bringen können. Die Stellung der Deutschen zu Verlaines Gedichten nun, sofern es überhaupt eine gibt, wird natürlich nicht so unbedingt sein, aber dafür entbehrt sie nicht eines starken grotesken Einschlags. Man muß nämlich wissen, wie diese Kunst heraufgekommen ist: dieses französische In¬ dividuum Paul Verlaine war durch über¬ mäßigen Genuß von Alkohol bereits etwas fadenscheinig geworden; die jüngsten und grünsten Kräfte waren als erste versehrt und zerfressen worden, und durch die schwammig durchlöcherte Gegenwart Verlaines begannen schon die deutschen Vorfahren durchzublicken; was frühere Geschlechter weitergegeben haben, was von ihnen fortgewirkt hatte, um dieses eine Individuum zu bilden, das war noch übrig. Der feste Stamm, der Kern eines Stammes, der sich noch fort erhielt, die Kon¬ tinuität der Familie. . . und diese deutschen Vorfahren sind es, die aus dem trunkenen Munde des Verkommenen zu reden beginnen. Und halb lallend, halb weinend spricht er französisch die Verse des Caspar Hauserz seine Träume zeigen ihm den deutschen Ritter, der ihn mit blankem gesunden Gebiß anlacht; in seiner Herzensnot schreit er inbrünstig zu Gott und der heiligen Jungfrau, wie sie in gotischen Kathedralen verehrt wurden, und im Ge¬ fängnis hört er grauenhaft in sich die Frage aus dein Munde derer, die an ihm gebaut haben, herüberklingen: Was hat du mit deiner Jugend getan? Also auch auf diese Weise kann die Mensch¬ heit zu deutschen Gedichten kommen. Nun ist es aber auch schon klar, daß alle möglichen anderen Gedichte eherübersetztwerden können als die von Paul Verlaine. Denn sie in die deutsche Sprache bringen, heißt nichts anderes als den einen Reiz, der ihnen inne- wohnt, stärker betonen: das heißt einen Ein¬ griff in die künstlerische Existenz eines solchen Gedichtwesens machen. Mögen manche von diesen so oft versuchten Übersetzungen auch noch so glänzende Leistungen deutschor Sprach¬ fertigkeit und Sprachbiegsamkeit bedeuten, mögen sie den Gemütston noch so rein bringen, das Schwebende und schaukelnde gerade hierin ist eben Kreuzungsprodukt. Kreuzungen ent¬ wickeln ihren allereigensten Reiz, der keinem von den beiden Faktoren, die sich vereinigt haben, innewohnt. Kreuzungen sind förder¬ lich für Entfaltung von Schönheit und Ori¬ ginalität, zeigen ihren eigenen Teint, behalten ihren eigenen traumhaft schillernden Klang. Hierin ruht ihr Verführerisches, auch die Ver¬ führung, sich ihrer in einer anderen Sprache zu bemächtigen, sie zu verpflanzen, zärtlich zu hegen. Sie gedeihen nicht, sie sind nicht zu erlösen. Die Berlaineschen Gedichte müssen ins Französische verzaubert bleiben. Da ist es in tieferem Sinne kein Zufall und keine Willkür, sondern Gerechtigkeit, wenn in Deutschland eine schöne französische Aus¬ gabe von Verlaines Gedichten die häßlichen, mit verbrauchten Typen gedruckten französischen Editionen zu verdrängen sucht. Mit beson¬ derer Freude an schönen Lettern und schönem Satzbild schlagen wir diesen schlichtprächtigen, anständigen Band auf, in seiner trefflichen Auswahl erneuern wir alten vertrauten Um¬ Dr. Max Meil- gang.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/457>, abgerufen am 27.12.2024.