Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Dürers geboten. Knnstgcschichtlich hat der
Nachweis Prof. Haendckes besonders den Wert,
daß durch diese Identifizierung der Stadt
Klausen mit dem bis dahin als Idealbild
betrachteten Stadtbilde auf Dürers Stich der
zweite unanfechtbare dokumentarische Beweis
für die erste Reise des Nürnberger Künstlers
nach Italien geliefert wurde. Er ergänzte
den anderen Nachweis, den Haendcke durch
einen Hinweis ans die Form der Zinnen der
von Dürer gezeichneten Burgen geboten hatte.
Alle anderen Dürerforscher hatten sich mit
Indizienbeweisen für die knnsthistorisch so be¬
deutungsvolle erste italienische Reise Dürers
begnügen müssen; durch die beiden Forschungs¬
resultate Haendckes wurde Dürer zum "Ge¬
ständnis" gezwungen, auch zum Bekenntnis
des Zeitpunktes. Die Entstehungszeit des
"großen Glückes" laßt sich nämlich durch
KaiserMaximilians "SchweizerKriegc" (1499)
--be. ziemlich genau feststellen.

Golgatha.

Die Männer von Tapiau
erhalten eine Botschaft von dem Sohn der
Stadt Lvvis Corinth, der auszog aus dieser
Stadt und ein Jünger wurde am Evangelium
der Kunst. Und diese Botschaft ist das Bild
Golgatha. ES ist ein Triptychon in
schlichtem breiten goldenen Holzrahmen. Das
Hauptbild gibt nichts als den leidenden Gott
am Kreuz, unter ihm die Schädelstäite und
hinter ihm der zerrissene Vorhang des
Himmels. Eine mächtige braune litauische
Riesengestalt. Die Malerei dieses leidenden
Riesen, dessen Glieder sich schwerfällig in blut¬
unterlaufenen Schmerzen am Kreuz verzerren,
ist von einer mittelalterlichen Kraft, die sich mit
der Technik des zwanzigsten Jahrhunderts ver¬
eint. Es jammert und stöhnt die Schuld der
Welt in dieser braunen Schädelstätte, hinter der
sich die Elemente der Luft blau und violett und
rot um ihrem eignen Aufruhr entzünden.
Wer Corinth kennt, weiß, daß er so immer
auf das Leidenschaftliche ans ist, das sich mit
brutalem Wnhrhcitsfanatismus in seinen
Bildern offenbart. Aber hier ist es ihm doch
gelungen, über dieser materiellen Beherrschung
des menschlichen Körpers einen Gedanken zu
errichten. In seinem großen wilden Leiden
spricht dieser Leib des Menschen und Gottes¬
sohnes Worte des christlichen Mysteriums zu

[Spaltenumbruch]

uns. Die großenknochigen Züge seines Gesichtes
sprechenvon einer übermenschlichen Ergebenheit
in Schmerz und Tod, von einem schweigenden
Begreifen dieser Verwüstung alles Irdischen
zum Lobe einer Religion, die hinter dein
Leib eine zweite geistige Welt, hinter
den Reichen dieser Erde das dritte Reich
des Christentums glaubend und wissend
vom Himmel hcrabholt. Gerade das Riesen¬
hafte dieses Körperlichen führt uns zum
Übermaß aller Nöte und irdischen Gefahren,
führt uus zum Trost der Erfüllung des
Gesetzes. Corinths Golgatha ist ganz er¬
füllt von einer Gralsstimmung, wie sie
Stucken zu gleicher Zeit in Worte zu gießen
vermochte: "Das Land ward zur Wüste,
und die heilige Lanze begann wie ein Mensch
in hinten, und des Grates Lichtmesser rann
zu kranken Finten."

Doch anch das Epische hat der Maler
gebändigt. Errichtet er in diesem Mittelbild
die wild schmerzende Wahrheit des siderischen
Gottestodes, läßt er hier die mystischen
Ströme aller Geistesnot den Leib des Hei¬
lands schändlich überrieseln, so erzählt er in
den Seitentafeln, wie dieses erloschene Gottes¬
liebe sich nun im erlösten Menschen ansiedelt.
Er wählte den Apostel Paulus und den
Evangelisten Matthaeus. Wieder können
die Männer von Tapian sagen, dieser Paulus
mit dem Schwert im Arm und der Bibel ist
uus nicht fremd; Wir haben in unserer
Gegend manchen solchen Handwerker, der
mit verglasten Augen sein Evangelien" den
Männern der Heimat ins Herz schreit. Die
Einfalt und visionäre Kraft dieser Figur im
grünen Mantel vor einer kalten Mauer ist von
überwältigenderSchönheit. Die große Gebärde
ans den Lettern desBuchcsistvourührendcrEr-
griffenheit, umso mehr, als rechts mit wcitaus-
holcnderPathetischer Gebärde der Evangelist in
einemwciten, dunkelblauen Mantcldie Geschichte
Jesu aufzeichnet, die ihm ein geflügelter
Engel im violetten Gewände diktiert. Alter
und Jugend dieses Evangelisten und seines
Engels, das Gelb des Hintergrundes, die
zwingende Kraft ihrer so verschiedenen Er-
griffenheitcn, alles redet eine klare, deut¬
liche Sprache, eine mächtige Harmonie ein
und desselben Gedankens, der im Mittelbild
als Gesicht, als Gralsgefäß religiöser Strad-

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Dürers geboten. Knnstgcschichtlich hat der
Nachweis Prof. Haendckes besonders den Wert,
daß durch diese Identifizierung der Stadt
Klausen mit dem bis dahin als Idealbild
betrachteten Stadtbilde auf Dürers Stich der
zweite unanfechtbare dokumentarische Beweis
für die erste Reise des Nürnberger Künstlers
nach Italien geliefert wurde. Er ergänzte
den anderen Nachweis, den Haendcke durch
einen Hinweis ans die Form der Zinnen der
von Dürer gezeichneten Burgen geboten hatte.
Alle anderen Dürerforscher hatten sich mit
Indizienbeweisen für die knnsthistorisch so be¬
deutungsvolle erste italienische Reise Dürers
begnügen müssen; durch die beiden Forschungs¬
resultate Haendckes wurde Dürer zum „Ge¬
ständnis" gezwungen, auch zum Bekenntnis
des Zeitpunktes. Die Entstehungszeit des
„großen Glückes" laßt sich nämlich durch
KaiserMaximilians „SchweizerKriegc" (1499)
—be. ziemlich genau feststellen.

Golgatha.

Die Männer von Tapiau
erhalten eine Botschaft von dem Sohn der
Stadt Lvvis Corinth, der auszog aus dieser
Stadt und ein Jünger wurde am Evangelium
der Kunst. Und diese Botschaft ist das Bild
Golgatha. ES ist ein Triptychon in
schlichtem breiten goldenen Holzrahmen. Das
Hauptbild gibt nichts als den leidenden Gott
am Kreuz, unter ihm die Schädelstäite und
hinter ihm der zerrissene Vorhang des
Himmels. Eine mächtige braune litauische
Riesengestalt. Die Malerei dieses leidenden
Riesen, dessen Glieder sich schwerfällig in blut¬
unterlaufenen Schmerzen am Kreuz verzerren,
ist von einer mittelalterlichen Kraft, die sich mit
der Technik des zwanzigsten Jahrhunderts ver¬
eint. Es jammert und stöhnt die Schuld der
Welt in dieser braunen Schädelstätte, hinter der
sich die Elemente der Luft blau und violett und
rot um ihrem eignen Aufruhr entzünden.
Wer Corinth kennt, weiß, daß er so immer
auf das Leidenschaftliche ans ist, das sich mit
brutalem Wnhrhcitsfanatismus in seinen
Bildern offenbart. Aber hier ist es ihm doch
gelungen, über dieser materiellen Beherrschung
des menschlichen Körpers einen Gedanken zu
errichten. In seinem großen wilden Leiden
spricht dieser Leib des Menschen und Gottes¬
sohnes Worte des christlichen Mysteriums zu

[Spaltenumbruch]

uns. Die großenknochigen Züge seines Gesichtes
sprechenvon einer übermenschlichen Ergebenheit
in Schmerz und Tod, von einem schweigenden
Begreifen dieser Verwüstung alles Irdischen
zum Lobe einer Religion, die hinter dein
Leib eine zweite geistige Welt, hinter
den Reichen dieser Erde das dritte Reich
des Christentums glaubend und wissend
vom Himmel hcrabholt. Gerade das Riesen¬
hafte dieses Körperlichen führt uns zum
Übermaß aller Nöte und irdischen Gefahren,
führt uus zum Trost der Erfüllung des
Gesetzes. Corinths Golgatha ist ganz er¬
füllt von einer Gralsstimmung, wie sie
Stucken zu gleicher Zeit in Worte zu gießen
vermochte: „Das Land ward zur Wüste,
und die heilige Lanze begann wie ein Mensch
in hinten, und des Grates Lichtmesser rann
zu kranken Finten."

Doch anch das Epische hat der Maler
gebändigt. Errichtet er in diesem Mittelbild
die wild schmerzende Wahrheit des siderischen
Gottestodes, läßt er hier die mystischen
Ströme aller Geistesnot den Leib des Hei¬
lands schändlich überrieseln, so erzählt er in
den Seitentafeln, wie dieses erloschene Gottes¬
liebe sich nun im erlösten Menschen ansiedelt.
Er wählte den Apostel Paulus und den
Evangelisten Matthaeus. Wieder können
die Männer von Tapian sagen, dieser Paulus
mit dem Schwert im Arm und der Bibel ist
uus nicht fremd; Wir haben in unserer
Gegend manchen solchen Handwerker, der
mit verglasten Augen sein Evangelien» den
Männern der Heimat ins Herz schreit. Die
Einfalt und visionäre Kraft dieser Figur im
grünen Mantel vor einer kalten Mauer ist von
überwältigenderSchönheit. Die große Gebärde
ans den Lettern desBuchcsistvourührendcrEr-
griffenheit, umso mehr, als rechts mit wcitaus-
holcnderPathetischer Gebärde der Evangelist in
einemwciten, dunkelblauen Mantcldie Geschichte
Jesu aufzeichnet, die ihm ein geflügelter
Engel im violetten Gewände diktiert. Alter
und Jugend dieses Evangelisten und seines
Engels, das Gelb des Hintergrundes, die
zwingende Kraft ihrer so verschiedenen Er-
griffenheitcn, alles redet eine klare, deut¬
liche Sprache, eine mächtige Harmonie ein
und desselben Gedankens, der im Mittelbild
als Gesicht, als Gralsgefäß religiöser Strad-

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0209" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317822"/>
              <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
              <cb type="start"/>
              <p xml:id="ID_1049" prev="#ID_1048"> Dürers geboten. Knnstgcschichtlich hat der<lb/>
Nachweis Prof. Haendckes besonders den Wert,<lb/>
daß durch diese Identifizierung der Stadt<lb/>
Klausen mit dem bis dahin als Idealbild<lb/>
betrachteten Stadtbilde auf Dürers Stich der<lb/>
zweite unanfechtbare dokumentarische Beweis<lb/>
für die erste Reise des Nürnberger Künstlers<lb/>
nach Italien geliefert wurde. Er ergänzte<lb/>
den anderen Nachweis, den Haendcke durch<lb/>
einen Hinweis ans die Form der Zinnen der<lb/>
von Dürer gezeichneten Burgen geboten hatte.<lb/>
Alle anderen Dürerforscher hatten sich mit<lb/>
Indizienbeweisen für die knnsthistorisch so be¬<lb/>
deutungsvolle erste italienische Reise Dürers<lb/>
begnügen müssen; durch die beiden Forschungs¬<lb/>
resultate Haendckes wurde Dürer zum &#x201E;Ge¬<lb/>
ständnis" gezwungen, auch zum Bekenntnis<lb/>
des Zeitpunktes. Die Entstehungszeit des<lb/>
&#x201E;großen Glückes" laßt sich nämlich durch<lb/>
KaiserMaximilians &#x201E;SchweizerKriegc" (1499)<lb/><note type="byline"> &#x2014;be.</note> ziemlich genau feststellen. </p>
            </div>
            <div n="3">
              <head> Golgatha. </head>
              <p xml:id="ID_1050" next="#ID_1051"> Die Männer von Tapiau<lb/>
erhalten eine Botschaft von dem Sohn der<lb/>
Stadt Lvvis Corinth, der auszog aus dieser<lb/>
Stadt und ein Jünger wurde am Evangelium<lb/>
der Kunst.  Und diese Botschaft ist das Bild<lb/>
Golgatha.  ES  ist  ein  Triptychon in<lb/>
schlichtem breiten goldenen Holzrahmen. Das<lb/>
Hauptbild gibt nichts als den leidenden Gott<lb/>
am Kreuz, unter ihm die Schädelstäite und<lb/>
hinter ihm der  zerrissene Vorhang des<lb/>
Himmels.  Eine mächtige braune litauische<lb/>
Riesengestalt.  Die Malerei dieses leidenden<lb/>
Riesen, dessen Glieder sich schwerfällig in blut¬<lb/>
unterlaufenen Schmerzen am Kreuz verzerren,<lb/>
ist von einer mittelalterlichen Kraft, die sich mit<lb/>
der Technik des zwanzigsten Jahrhunderts ver¬<lb/>
eint. Es jammert und stöhnt die Schuld der<lb/>
Welt in dieser braunen Schädelstätte, hinter der<lb/>
sich die Elemente der Luft blau und violett und<lb/>
rot um ihrem eignen Aufruhr entzünden.<lb/>
Wer Corinth kennt, weiß, daß er so immer<lb/>
auf das Leidenschaftliche ans ist, das sich mit<lb/>
brutalem  Wnhrhcitsfanatismus in seinen<lb/>
Bildern offenbart. Aber hier ist es ihm doch<lb/>
gelungen, über dieser materiellen Beherrschung<lb/>
des menschlichen Körpers einen Gedanken zu<lb/>
errichten.  In seinem großen wilden Leiden<lb/>
spricht dieser Leib des Menschen und Gottes¬<lb/>
sohnes Worte des christlichen Mysteriums zu</p>
              <cb/><lb/>
              <p xml:id="ID_1051" prev="#ID_1050"> uns. Die großenknochigen Züge seines Gesichtes<lb/>
sprechenvon einer übermenschlichen Ergebenheit<lb/>
in Schmerz und Tod, von einem schweigenden<lb/>
Begreifen dieser Verwüstung alles Irdischen<lb/>
zum Lobe einer Religion, die hinter dein<lb/>
Leib eine zweite geistige Welt, hinter<lb/>
den Reichen dieser Erde das dritte Reich<lb/>
des Christentums glaubend und wissend<lb/>
vom Himmel hcrabholt. Gerade das Riesen¬<lb/>
hafte dieses Körperlichen führt uns zum<lb/>
Übermaß aller Nöte und irdischen Gefahren,<lb/>
führt uus zum Trost der Erfüllung des<lb/>
Gesetzes. Corinths Golgatha ist ganz er¬<lb/>
füllt von einer Gralsstimmung, wie sie<lb/>
Stucken zu gleicher Zeit in Worte zu gießen<lb/>
vermochte: &#x201E;Das Land ward zur Wüste,<lb/>
und die heilige Lanze begann wie ein Mensch<lb/>
in hinten, und des Grates Lichtmesser rann<lb/>
zu kranken Finten."</p>
              <p xml:id="ID_1052" next="#ID_1053"> Doch anch das Epische hat der Maler<lb/>
gebändigt. Errichtet er in diesem Mittelbild<lb/>
die wild schmerzende Wahrheit des siderischen<lb/>
Gottestodes, läßt er hier die mystischen<lb/>
Ströme aller Geistesnot den Leib des Hei¬<lb/>
lands schändlich überrieseln, so erzählt er in<lb/>
den Seitentafeln, wie dieses erloschene Gottes¬<lb/>
liebe sich nun im erlösten Menschen ansiedelt.<lb/>
Er wählte den Apostel Paulus und den<lb/>
Evangelisten Matthaeus.  Wieder können<lb/>
die Männer von Tapian sagen, dieser Paulus<lb/>
mit dem Schwert im Arm und der Bibel ist<lb/>
uus nicht fremd;  Wir haben in unserer<lb/>
Gegend manchen solchen Handwerker, der<lb/>
mit verglasten Augen sein Evangelien» den<lb/>
Männern der Heimat ins Herz schreit. Die<lb/>
Einfalt und visionäre Kraft dieser Figur im<lb/>
grünen Mantel vor einer kalten Mauer ist von<lb/>
überwältigenderSchönheit. Die große Gebärde<lb/>
ans den Lettern desBuchcsistvourührendcrEr-<lb/>
griffenheit, umso mehr, als rechts mit wcitaus-<lb/>
holcnderPathetischer Gebärde der Evangelist in<lb/>
einemwciten, dunkelblauen Mantcldie Geschichte<lb/>
Jesu aufzeichnet,  die ihm ein geflügelter<lb/>
Engel im violetten Gewände diktiert. Alter<lb/>
und Jugend dieses Evangelisten und seines<lb/>
Engels, das Gelb des Hintergrundes, die<lb/>
zwingende Kraft ihrer so verschiedenen Er-<lb/>
griffenheitcn, alles redet eine klare, deut¬<lb/>
liche Sprache, eine mächtige Harmonie ein<lb/>
und desselben Gedankens, der im Mittelbild<lb/>
als Gesicht, als Gralsgefäß religiöser Strad-</p>
              <cb type="end"/><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0209] Maßgebliches und Unmaßgebliches Dürers geboten. Knnstgcschichtlich hat der Nachweis Prof. Haendckes besonders den Wert, daß durch diese Identifizierung der Stadt Klausen mit dem bis dahin als Idealbild betrachteten Stadtbilde auf Dürers Stich der zweite unanfechtbare dokumentarische Beweis für die erste Reise des Nürnberger Künstlers nach Italien geliefert wurde. Er ergänzte den anderen Nachweis, den Haendcke durch einen Hinweis ans die Form der Zinnen der von Dürer gezeichneten Burgen geboten hatte. Alle anderen Dürerforscher hatten sich mit Indizienbeweisen für die knnsthistorisch so be¬ deutungsvolle erste italienische Reise Dürers begnügen müssen; durch die beiden Forschungs¬ resultate Haendckes wurde Dürer zum „Ge¬ ständnis" gezwungen, auch zum Bekenntnis des Zeitpunktes. Die Entstehungszeit des „großen Glückes" laßt sich nämlich durch KaiserMaximilians „SchweizerKriegc" (1499) —be. ziemlich genau feststellen. Golgatha. Die Männer von Tapiau erhalten eine Botschaft von dem Sohn der Stadt Lvvis Corinth, der auszog aus dieser Stadt und ein Jünger wurde am Evangelium der Kunst. Und diese Botschaft ist das Bild Golgatha. ES ist ein Triptychon in schlichtem breiten goldenen Holzrahmen. Das Hauptbild gibt nichts als den leidenden Gott am Kreuz, unter ihm die Schädelstäite und hinter ihm der zerrissene Vorhang des Himmels. Eine mächtige braune litauische Riesengestalt. Die Malerei dieses leidenden Riesen, dessen Glieder sich schwerfällig in blut¬ unterlaufenen Schmerzen am Kreuz verzerren, ist von einer mittelalterlichen Kraft, die sich mit der Technik des zwanzigsten Jahrhunderts ver¬ eint. Es jammert und stöhnt die Schuld der Welt in dieser braunen Schädelstätte, hinter der sich die Elemente der Luft blau und violett und rot um ihrem eignen Aufruhr entzünden. Wer Corinth kennt, weiß, daß er so immer auf das Leidenschaftliche ans ist, das sich mit brutalem Wnhrhcitsfanatismus in seinen Bildern offenbart. Aber hier ist es ihm doch gelungen, über dieser materiellen Beherrschung des menschlichen Körpers einen Gedanken zu errichten. In seinem großen wilden Leiden spricht dieser Leib des Menschen und Gottes¬ sohnes Worte des christlichen Mysteriums zu uns. Die großenknochigen Züge seines Gesichtes sprechenvon einer übermenschlichen Ergebenheit in Schmerz und Tod, von einem schweigenden Begreifen dieser Verwüstung alles Irdischen zum Lobe einer Religion, die hinter dein Leib eine zweite geistige Welt, hinter den Reichen dieser Erde das dritte Reich des Christentums glaubend und wissend vom Himmel hcrabholt. Gerade das Riesen¬ hafte dieses Körperlichen führt uns zum Übermaß aller Nöte und irdischen Gefahren, führt uus zum Trost der Erfüllung des Gesetzes. Corinths Golgatha ist ganz er¬ füllt von einer Gralsstimmung, wie sie Stucken zu gleicher Zeit in Worte zu gießen vermochte: „Das Land ward zur Wüste, und die heilige Lanze begann wie ein Mensch in hinten, und des Grates Lichtmesser rann zu kranken Finten." Doch anch das Epische hat der Maler gebändigt. Errichtet er in diesem Mittelbild die wild schmerzende Wahrheit des siderischen Gottestodes, läßt er hier die mystischen Ströme aller Geistesnot den Leib des Hei¬ lands schändlich überrieseln, so erzählt er in den Seitentafeln, wie dieses erloschene Gottes¬ liebe sich nun im erlösten Menschen ansiedelt. Er wählte den Apostel Paulus und den Evangelisten Matthaeus. Wieder können die Männer von Tapian sagen, dieser Paulus mit dem Schwert im Arm und der Bibel ist uus nicht fremd; Wir haben in unserer Gegend manchen solchen Handwerker, der mit verglasten Augen sein Evangelien» den Männern der Heimat ins Herz schreit. Die Einfalt und visionäre Kraft dieser Figur im grünen Mantel vor einer kalten Mauer ist von überwältigenderSchönheit. Die große Gebärde ans den Lettern desBuchcsistvourührendcrEr- griffenheit, umso mehr, als rechts mit wcitaus- holcnderPathetischer Gebärde der Evangelist in einemwciten, dunkelblauen Mantcldie Geschichte Jesu aufzeichnet, die ihm ein geflügelter Engel im violetten Gewände diktiert. Alter und Jugend dieses Evangelisten und seines Engels, das Gelb des Hintergrundes, die zwingende Kraft ihrer so verschiedenen Er- griffenheitcn, alles redet eine klare, deut¬ liche Sprache, eine mächtige Harmonie ein und desselben Gedankens, der im Mittelbild als Gesicht, als Gralsgefäß religiöser Strad-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/209
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/209>, abgerufen am 27.12.2024.