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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Kritische Beiträge

sollen einzelne Delikte herausgegriffen werden, die um ihrer Tragweite willen
oder der Art ihrer Ahndung besonderen Anlaß, zur Kritik bieten.

I.

Bei der scharfen Fehde, welche seit länger als einem Jahrzehnt zwischen
der alten klassischen Strafrechtsschule, deren Hauptvertreter Birkmeyer-München
ist, und der modernen Straftechtsschule, repräsentiert vor allem durch Liszt-Berlin,
tobt, durfte man darauf gespannt sein, auf welche Seite sich die Redakteure
eines neuen Strafgesetzbuches schlagen würden. Die Verfasser des Vorentwurfs
haben diese Schwierigkeit meines Erachtens in der glücklichsten Weise durch ein
Kompromiß gelöst. Ein Gesetzbuch braucht uicht das Ergebnis einer einzigen
Theorie zu sein, im Gegenteil, es läuft dabei Gefahr, zu starr und zu einseitig
zu werden, und so haben die Verfasser sich grundsätzlich auf den Standpunkt der
klassischen Rechtsschule gestellt, jedoch der modernen Schule so viel Zugeständnisse
gemacht, wie es das Bedürfnis der Zeit und die öffentliche Meinung fordern.

Ein solches Zugeständnis liegt vor allen: in der Einführung der bedingten
Verurteilung, welche der Vorentwurf logischer "bedingte Strafaussetzung" nennt,
da die Verurteilung unbedingt erfolgt und nur die Strafvollstreckung unter der
Bedingung des Wohlverhaltens ausgesetzt wird. Der Grundgedanke dieser
Maßregel ist bisher schon fast in allen Bundesstaaten des Reiches in der Form
der verwaltungsrechtlichen "bedingten Begnadigung" verwirklicht gewesen. Es
ist durchaus konsequent, diese Maßregel, wenn sie sich nach Ansicht der herr¬
schenden Meinung bewährt hat, der Gnade des Monarchen, welche immer ein
außerordentlicher Akt bleiben soll, zu entziehen und die Strafaussetzung in den
Rahmen des ordentlichen Prozesses einzufügen, sie also dem Strafrichter zu
übertragen. Dieser wird auch nach der eigenen Anschauung, die er von der
Persönlichkeit des Angeklagten und Verurteilten gewonnen hat, am besten über
seine Würdigkeit befinden können. Es wird übrigens mit dieser Maßregel auch an
älteste deutsch-rechtliche Traditionen angeknüpft, nach welchen der Richter ebenso¬
wohl nach "Recht" wie nach "Gnade" entscheiden durfte. Erst die Rezeption
des Römischen Rechts hat die Gnade dem Richter entwunden, um sie dem
Fürsten zu übertragen.

Die weite Fassung aber, welche der Vorentwurf dem bedingten Strafaufschub
gegeben hat, erscheint nicht ohne Bedenken. Voraussetzung ihrer Zulässigkeit ist,
uach §38 V.E., daß der Verurteilte noch nicht wegen eines Verbrechens oder
Vergehens mit Freiheitsstrafe vorbestraft ist. Danach steht also nichts in: Wege,
daß Personen, die mit Geldstrafe vorbestraft sind, und, diese ist doch unter
anderem bei Körperverletzung, Betrug, Unterschlagung zulässig, beim zweiten oder
dritten Delikt noch.eine bedingte Strafaussetzung erlangen können. Weiter ist
die Strafaussetzung bei Gefängnisstrafen bis zu sechs Monaten zulässig.
Berücksichtigt man die leider immer weiter um sich greifende Milde der Straf¬
gerichte, die mit den, Eindringen des Laienelements in die Strafkammern natürlich
noch ärger werden wird, so wird eine Strafe von fünf oder sechs Monaten


Kritische Beiträge

sollen einzelne Delikte herausgegriffen werden, die um ihrer Tragweite willen
oder der Art ihrer Ahndung besonderen Anlaß, zur Kritik bieten.

I.

Bei der scharfen Fehde, welche seit länger als einem Jahrzehnt zwischen
der alten klassischen Strafrechtsschule, deren Hauptvertreter Birkmeyer-München
ist, und der modernen Straftechtsschule, repräsentiert vor allem durch Liszt-Berlin,
tobt, durfte man darauf gespannt sein, auf welche Seite sich die Redakteure
eines neuen Strafgesetzbuches schlagen würden. Die Verfasser des Vorentwurfs
haben diese Schwierigkeit meines Erachtens in der glücklichsten Weise durch ein
Kompromiß gelöst. Ein Gesetzbuch braucht uicht das Ergebnis einer einzigen
Theorie zu sein, im Gegenteil, es läuft dabei Gefahr, zu starr und zu einseitig
zu werden, und so haben die Verfasser sich grundsätzlich auf den Standpunkt der
klassischen Rechtsschule gestellt, jedoch der modernen Schule so viel Zugeständnisse
gemacht, wie es das Bedürfnis der Zeit und die öffentliche Meinung fordern.

Ein solches Zugeständnis liegt vor allen: in der Einführung der bedingten
Verurteilung, welche der Vorentwurf logischer „bedingte Strafaussetzung" nennt,
da die Verurteilung unbedingt erfolgt und nur die Strafvollstreckung unter der
Bedingung des Wohlverhaltens ausgesetzt wird. Der Grundgedanke dieser
Maßregel ist bisher schon fast in allen Bundesstaaten des Reiches in der Form
der verwaltungsrechtlichen „bedingten Begnadigung" verwirklicht gewesen. Es
ist durchaus konsequent, diese Maßregel, wenn sie sich nach Ansicht der herr¬
schenden Meinung bewährt hat, der Gnade des Monarchen, welche immer ein
außerordentlicher Akt bleiben soll, zu entziehen und die Strafaussetzung in den
Rahmen des ordentlichen Prozesses einzufügen, sie also dem Strafrichter zu
übertragen. Dieser wird auch nach der eigenen Anschauung, die er von der
Persönlichkeit des Angeklagten und Verurteilten gewonnen hat, am besten über
seine Würdigkeit befinden können. Es wird übrigens mit dieser Maßregel auch an
älteste deutsch-rechtliche Traditionen angeknüpft, nach welchen der Richter ebenso¬
wohl nach „Recht" wie nach „Gnade" entscheiden durfte. Erst die Rezeption
des Römischen Rechts hat die Gnade dem Richter entwunden, um sie dem
Fürsten zu übertragen.

Die weite Fassung aber, welche der Vorentwurf dem bedingten Strafaufschub
gegeben hat, erscheint nicht ohne Bedenken. Voraussetzung ihrer Zulässigkeit ist,
uach §38 V.E., daß der Verurteilte noch nicht wegen eines Verbrechens oder
Vergehens mit Freiheitsstrafe vorbestraft ist. Danach steht also nichts in: Wege,
daß Personen, die mit Geldstrafe vorbestraft sind, und, diese ist doch unter
anderem bei Körperverletzung, Betrug, Unterschlagung zulässig, beim zweiten oder
dritten Delikt noch.eine bedingte Strafaussetzung erlangen können. Weiter ist
die Strafaussetzung bei Gefängnisstrafen bis zu sechs Monaten zulässig.
Berücksichtigt man die leider immer weiter um sich greifende Milde der Straf¬
gerichte, die mit den, Eindringen des Laienelements in die Strafkammern natürlich
noch ärger werden wird, so wird eine Strafe von fünf oder sechs Monaten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/31>, abgerufen am 29.06.2024.