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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Kritische Beiträge

Aritische Beiträge zum Vorentwurf eines neuen
deutschen Strafgesetzbuches
von Amtsrichter Dr. Lrnst Sontag-Rattowitz 0)-s.

Ml linnet und Erde befolgt ruhiges, festes Gesetz, -- doch über des
Menschen Leben, dem köstlichsten Schatz, herrscht ein schwankendes
Los." Soweit dieses Los durch menschliche Satzungen ein dunkles
wird, greift wohl heutzutage keine Satzung so tief in das Schicksal
^ des einzelnen ein wie die Normen des Strafrechts und der
Vollzug der strafgerichtlichen Urteile, die über Leben, Freiheit, Ehre und Ver¬
mögen unter Umständen bis zur Vernichtung des Individuums verfügen.

Kein Rechtsgebiet hat darum einen solchen Anspruch auf das Interesse der
weitesten Volkskreise wie das Strafrecht. Wenn daher jetzt an die Reform
unseres geltenden Strafgesetzbuches herangegangen wird, so haben neben den
Juristen auch die gebildeten Laien Recht wie Pflicht, den Gang dieser Reform
zu verfolgen. Wie sie das geltende Recht in so vielen Punkten der schärfsten
Kritik unterzogen haben, so mögen sie sich über das künftige Recht unterrichten
lassen, solange sich dieses noch im Werdestadium befindet, also Kritik und
Wünsche noch gehört werden können.

Von diesen Vorarbeiten liegt jetzt die zweite, der "Vorentwurf zu einem
neuen Strafgesetzbuch" nebst zwei Bänden Begründung, vor. (Berlin 1909,
I. Guttentags Verlag.) Für das große und verantwortliche Werk, dem deutschen
Volke ein neues Strafrecht zu schaffen, werden, das muß anerkannt werden, die
Grundlagen in geschicktester Weise gelegt. Die erste Vorarbeit war die "Ver¬
gleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts" in sechzehn
Bänden, an welcher einige vierzig deutsche Hochschullehrer mitgearbeitet haben,
und deren Drucklegung durch die Opferwilligkeit des Otto Liebmannschen Verlages
in Berlin ermöglicht wurde. Auf diesem wissenschaftlichen Material hat eine
von dem Herrn Staatssekretär des Reichsjustizamts beauftragte Kommission von
wenigen Praktikern unter den: Vorsitze des Direktors im preußischen Justiz¬
ministerium, Wirklichen Geheimen Rats Dr. Lucas weiter gebaut. Als Ergebnis
ihrer Arbeit stellt sich der Vorentwurf zu einem Strafgesetzbuche mit 310 Para¬
graphen und eine wissenschaftliche Begründung von 800 Seiten dar.

Im nachstehenden soll aus der Fülle dieses Materials nur einiges heraus¬
gegriffen werden, welches auf das besondere Interesse weiterer Kreise Anspruch
hat. Aus dem allgemeinen Teile des Strafgesetzbuches soll geprüft werden, wie
weit der Vorentwurf den Forderungen der modernen Strafrcchtsschule nach
Einführung der bedingten Verurteilung, nach den sogenannten sichernden Ma߬
nahmen, welche sich nicht mehr aus dem Vergeltungsgedanken rechtfertigen lassen,
sondern mehr auf Vorbeugung gerichtet sind, nach erfolgreicherer Bekämpfung
des rückfälligen Verbrechertums usw. gerecht wird. Aus dein besonderen Teile


Kritische Beiträge

Aritische Beiträge zum Vorentwurf eines neuen
deutschen Strafgesetzbuches
von Amtsrichter Dr. Lrnst Sontag-Rattowitz 0)-s.

Ml linnet und Erde befolgt ruhiges, festes Gesetz, — doch über des
Menschen Leben, dem köstlichsten Schatz, herrscht ein schwankendes
Los." Soweit dieses Los durch menschliche Satzungen ein dunkles
wird, greift wohl heutzutage keine Satzung so tief in das Schicksal
^ des einzelnen ein wie die Normen des Strafrechts und der
Vollzug der strafgerichtlichen Urteile, die über Leben, Freiheit, Ehre und Ver¬
mögen unter Umständen bis zur Vernichtung des Individuums verfügen.

Kein Rechtsgebiet hat darum einen solchen Anspruch auf das Interesse der
weitesten Volkskreise wie das Strafrecht. Wenn daher jetzt an die Reform
unseres geltenden Strafgesetzbuches herangegangen wird, so haben neben den
Juristen auch die gebildeten Laien Recht wie Pflicht, den Gang dieser Reform
zu verfolgen. Wie sie das geltende Recht in so vielen Punkten der schärfsten
Kritik unterzogen haben, so mögen sie sich über das künftige Recht unterrichten
lassen, solange sich dieses noch im Werdestadium befindet, also Kritik und
Wünsche noch gehört werden können.

Von diesen Vorarbeiten liegt jetzt die zweite, der „Vorentwurf zu einem
neuen Strafgesetzbuch" nebst zwei Bänden Begründung, vor. (Berlin 1909,
I. Guttentags Verlag.) Für das große und verantwortliche Werk, dem deutschen
Volke ein neues Strafrecht zu schaffen, werden, das muß anerkannt werden, die
Grundlagen in geschicktester Weise gelegt. Die erste Vorarbeit war die „Ver¬
gleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts" in sechzehn
Bänden, an welcher einige vierzig deutsche Hochschullehrer mitgearbeitet haben,
und deren Drucklegung durch die Opferwilligkeit des Otto Liebmannschen Verlages
in Berlin ermöglicht wurde. Auf diesem wissenschaftlichen Material hat eine
von dem Herrn Staatssekretär des Reichsjustizamts beauftragte Kommission von
wenigen Praktikern unter den: Vorsitze des Direktors im preußischen Justiz¬
ministerium, Wirklichen Geheimen Rats Dr. Lucas weiter gebaut. Als Ergebnis
ihrer Arbeit stellt sich der Vorentwurf zu einem Strafgesetzbuche mit 310 Para¬
graphen und eine wissenschaftliche Begründung von 800 Seiten dar.

Im nachstehenden soll aus der Fülle dieses Materials nur einiges heraus¬
gegriffen werden, welches auf das besondere Interesse weiterer Kreise Anspruch
hat. Aus dem allgemeinen Teile des Strafgesetzbuches soll geprüft werden, wie
weit der Vorentwurf den Forderungen der modernen Strafrcchtsschule nach
Einführung der bedingten Verurteilung, nach den sogenannten sichernden Ma߬
nahmen, welche sich nicht mehr aus dem Vergeltungsgedanken rechtfertigen lassen,
sondern mehr auf Vorbeugung gerichtet sind, nach erfolgreicherer Bekämpfung
des rückfälligen Verbrechertums usw. gerecht wird. Aus dein besonderen Teile


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/30>, abgerufen am 29.06.2024.