Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.Ibsen-Schriften Ibsen-Schriften vktor Eugen Heinrich Schmitt hat voriges Jahr bei Fritz Eckardt Ibsen-Schriften Ibsen-Schriften vktor Eugen Heinrich Schmitt hat voriges Jahr bei Fritz Eckardt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0200" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315839"/> <fw type="header" place="top"> Ibsen-Schriften</fw><lb/> </div> </div> <div n="1"> <head> Ibsen-Schriften</head><lb/> <p xml:id="ID_1129" next="#ID_1130"> vktor Eugen Heinrich Schmitt hat voriges Jahr bei Fritz Eckardt<lb/> in Leipzig ein Buch: „Ibsen als Prophet" herausgegeben. Die<lb/> meisten Leser haben wahrscheinlich vergessen, was seinerzeit in den<lb/> „Grenzboten" von der merkwürdigen Persönlichkeit des Autors mit¬<lb/> geteilt worden ist. Als Geschichtsschreiber in einem ungarischen Neste<lb/> hat er, sechsunddreißig Jahre alt, sich an eine von der Berliner philosophischen<lb/> Gesellschaft 1887 gestellte Preisaufgabe gewagt und eine Arbeit über Hegels<lb/> Dialektik geliefert, die als beste anerkannt wurde. Die ungarische Regierung<lb/> schickte den genialen Autodidakten auf deutsche Universitäten, aber die akademische<lb/> Laufbahn mochte er nach seiner Rückkehr in die Heimat nicht einschlagen, weil er<lb/> voraussah, daß ihn seine Ansicht vom Staate in Konflikte verwickeln würde. Er<lb/> nahm nur eine Bibliothekarstelle an und gab auch diese auf, als ihm zugemutet<lb/> wurde, auf die schriftstellerische Verbreitung seiner Ideen zu verzichten. Sein<lb/> Eintreten für die gedrückten ungarischen Landarbeiter zog ihm mehrere Prozesse zu.<lb/> In seinem Werke über die Gnosis entwickelt er seine Philosophie im Zusammen¬<lb/> hange. Er bekennt sich zur Lehre der alten Gnostiker. Vom Pleroma (wörtlich:<lb/> Ausfüllung, d. h. Gesamtheit der göttlichen Lebensfülle), diesem göttlichen All und<lb/> Nichts, das alle Möglichkeiten in sich enthält, gehen Wellenströme aus. Die feinsten<lb/> Wellen erzeugen das Geistesleben, die gröberen die sinnlichen Vorstellungen, die<lb/> gröbsten die Sinnendinge. In Jesus ist der Logos erschienen, von dein die reinen,<lb/> allbezwingenden Licht- und Liebeswellen ausgehn, und die Urchristen und ihre<lb/> echten Söhne, die Gnostiker, haben dieses Licht- und Liebesleben in der Menschheit<lb/> zu verbreiten angefangen. Zu dessen Unterdrückung hat sich die Hierarchie mit dem<lb/> „Fürsten dieser Welt" verbündet und beide haben durch ihre abscheulichen,<lb/> mörderischen, teuflischen Gewalttaten die Menschheit in die Tierheit zurückgestoßen.<lb/> Zweihundertmal ungefähr nennt er sowohl die gewöhnlichen Christen wie die<lb/> ungläubigen Materialisten Tiermenschen. Darüber habe ich bemerkt: „Schmitt<lb/> sollte diese Tiermenschen, für die er ja übrigens opferwillig eingetreten ist, nicht<lb/> gar so sehr verachten, denn wenn die alle Pneumatiker würden, dann hätte das<lb/> aus lauter Pneumatikern bestehende „dritte Reich" nichts zu essen, nichts zum<lb/> Heizen, weder Kleidung noch Wohnung, und auf dieser Erde wenigstens würde<lb/> der Lichtstoff des Pleroma kaum fortfahren zu schwingen, wenn die gröberen Wellen<lb/> ihren Dienst einstellen Und da doch auch die Tiermenschen noch nicht wirkliche<lb/> Tiere sind, so wird eine kirchlich-staatliche Organisation, die ihnen ihr bescheidenes<lb/> Teil angemessener Seelennahrung reicht, kaum zu entbehren sein." In einem<lb/> spätern Buche „Der Idealstaat" hat Schmitt eine Geschichte der Utopien geschrieben<lb/> und die verschiedenen Staatsideale kritisiert, wobei der Liberalismus und der<lb/> Kommunismus beinahe ebenso schlecht wegkommen wie der bestehende Staat und<lb/> die Kirche. „Und nachdem", schrieb ich am Schlüsse der Anzeige, „der Verfasser das<lb/> Utopische aller Utopien ganz vortrefflich nachgewiesen hat, bereitet er uns die<lb/> reinste Heiterkeit durch die cillerlustigste aller Utopien. Die Vernunfterkenntnis wird<lb/> uns ins Paradies führen — durch das mathematische Denken. Wenn wir ihn<lb/> recht verstehn, soll uns die Jnfinitesimalrechnnng erlösen. Vielleicht erfahren wir<lb/> aus dein versprochenen zweiten Bande der „Gnosis" genauer, wie er sich die Sache</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0200]
Ibsen-Schriften
Ibsen-Schriften
vktor Eugen Heinrich Schmitt hat voriges Jahr bei Fritz Eckardt
in Leipzig ein Buch: „Ibsen als Prophet" herausgegeben. Die
meisten Leser haben wahrscheinlich vergessen, was seinerzeit in den
„Grenzboten" von der merkwürdigen Persönlichkeit des Autors mit¬
geteilt worden ist. Als Geschichtsschreiber in einem ungarischen Neste
hat er, sechsunddreißig Jahre alt, sich an eine von der Berliner philosophischen
Gesellschaft 1887 gestellte Preisaufgabe gewagt und eine Arbeit über Hegels
Dialektik geliefert, die als beste anerkannt wurde. Die ungarische Regierung
schickte den genialen Autodidakten auf deutsche Universitäten, aber die akademische
Laufbahn mochte er nach seiner Rückkehr in die Heimat nicht einschlagen, weil er
voraussah, daß ihn seine Ansicht vom Staate in Konflikte verwickeln würde. Er
nahm nur eine Bibliothekarstelle an und gab auch diese auf, als ihm zugemutet
wurde, auf die schriftstellerische Verbreitung seiner Ideen zu verzichten. Sein
Eintreten für die gedrückten ungarischen Landarbeiter zog ihm mehrere Prozesse zu.
In seinem Werke über die Gnosis entwickelt er seine Philosophie im Zusammen¬
hange. Er bekennt sich zur Lehre der alten Gnostiker. Vom Pleroma (wörtlich:
Ausfüllung, d. h. Gesamtheit der göttlichen Lebensfülle), diesem göttlichen All und
Nichts, das alle Möglichkeiten in sich enthält, gehen Wellenströme aus. Die feinsten
Wellen erzeugen das Geistesleben, die gröberen die sinnlichen Vorstellungen, die
gröbsten die Sinnendinge. In Jesus ist der Logos erschienen, von dein die reinen,
allbezwingenden Licht- und Liebeswellen ausgehn, und die Urchristen und ihre
echten Söhne, die Gnostiker, haben dieses Licht- und Liebesleben in der Menschheit
zu verbreiten angefangen. Zu dessen Unterdrückung hat sich die Hierarchie mit dem
„Fürsten dieser Welt" verbündet und beide haben durch ihre abscheulichen,
mörderischen, teuflischen Gewalttaten die Menschheit in die Tierheit zurückgestoßen.
Zweihundertmal ungefähr nennt er sowohl die gewöhnlichen Christen wie die
ungläubigen Materialisten Tiermenschen. Darüber habe ich bemerkt: „Schmitt
sollte diese Tiermenschen, für die er ja übrigens opferwillig eingetreten ist, nicht
gar so sehr verachten, denn wenn die alle Pneumatiker würden, dann hätte das
aus lauter Pneumatikern bestehende „dritte Reich" nichts zu essen, nichts zum
Heizen, weder Kleidung noch Wohnung, und auf dieser Erde wenigstens würde
der Lichtstoff des Pleroma kaum fortfahren zu schwingen, wenn die gröberen Wellen
ihren Dienst einstellen Und da doch auch die Tiermenschen noch nicht wirkliche
Tiere sind, so wird eine kirchlich-staatliche Organisation, die ihnen ihr bescheidenes
Teil angemessener Seelennahrung reicht, kaum zu entbehren sein." In einem
spätern Buche „Der Idealstaat" hat Schmitt eine Geschichte der Utopien geschrieben
und die verschiedenen Staatsideale kritisiert, wobei der Liberalismus und der
Kommunismus beinahe ebenso schlecht wegkommen wie der bestehende Staat und
die Kirche. „Und nachdem", schrieb ich am Schlüsse der Anzeige, „der Verfasser das
Utopische aller Utopien ganz vortrefflich nachgewiesen hat, bereitet er uns die
reinste Heiterkeit durch die cillerlustigste aller Utopien. Die Vernunfterkenntnis wird
uns ins Paradies führen — durch das mathematische Denken. Wenn wir ihn
recht verstehn, soll uns die Jnfinitesimalrechnnng erlösen. Vielleicht erfahren wir
aus dein versprochenen zweiten Bande der „Gnosis" genauer, wie er sich die Sache
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