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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches "ut Unmaßgebliches

Notwendig wäre eine große Bibliographie der katholischen Literatur auf
biographischer Grundlage, etwa von 1700 an. (Die nur der theologischen Literatur
dienende gediegene Arbeit von Dietrich Gla, leider ohne das biographische
Material, wurde infolge Ablebens des Verfassers nicht fortgesetzt.) Leider herrscht
für eine solche Arbeit, welche doch die Grundlage einer neueren katholischen
Literaturgeschichte wäre, in den maßgebenden Kreisen nur geringes Verständnis.


Die sexuelle Krisis. Von Grete Meisel-Heß. Eugen Dietrichs,
Jena 1909.

Teils erfreut, teils belustigt, teils empört habe ich das Buch gelesen, dessen
Studium Freunden wie Gegnern der Frauenbewegung wohl empfohlen werden
kann. Sehr fleißig, wenn auch etwas weitschweifig gearbeitet, beleuchtet es auf
eigenartige Weise ein heikles Gebiet. Man kann der Verfasserin den edlen Mut
der Begeisterung nicht absprechen und muß sich vor dem hohen sittlichen Ernst
beugen, mit dem sie die geschlechtlichen Fragen berührt. Oft findet sie mit gesundem
Menschenverstand ein tüchtiges Wort und sagt Dinge, von denen die landläufige
Moral behauptet, man dürfe sie höchstens denken, aber dann irrt sie wieder --
meines Erachtens -- in den wichtigsten, grundlegenden Momenten. Deutschlands
gesunde Geburtsziffern strafen das Wort "sexuelle Krisis" Lügen. Die ungeheure
Zahl der unehelichen Geburten zeigt, daß auch die freie Liebe -- als deren
Anhängerin Frau Grete Meisel-Heß sich gibt -- nicht gerade im Verschwinden
begriffen ist. Die.Krisis liegt wohl eher darin, daß eine beträchtliche Anzahl von
Frauen aus dem Mittelstand, und darunter recht gebildete Elemente, keine Lebens¬
befriedigung mehr finden, weil die veränderten sozialen Bedingungen ihnen das
ersprießliche Arbeitsgebiet in den Familien genommen haben. Die Frau will sich
vor allem nützlich, ja sogar unentbehrlich fühlen. Es ist ein Fehler, anzunehmen,
daß diese Unentbehrlichkeit unbedingt auf geschlechtlichem Gebiet liegen muß. Die
gesellschaftlich anerkannte freie Liebe würde also die eigentliche Krisis keineswegs
bessern. In dem Wunsch, den freien Zustand der Liebe nicht etwa nur gesetzlich,
sondern vor allem gesellschaftlich anerkannt zu sehen, liegt die originelle und
interessante Seite des Buchs. Nun, in den obersten wie in den untersten Schichten
war diese Anschauung schon manchmal und mancherorts verbreitet, die Verfasserin
spielt selbst darauf an, wenn sie von galanter Liebe und verschiedenen Vvlks-
gebräuchen erzählt. Sie dem Mittelstand begreiflich machen zu wollen, scheint
mir aussichtlos, denn, aus der Konvention geboren, kann er in seinein Dasein die
Konvention nicht entbehren. Er steht und fällt mit ihr. Daran können auch
jene Damen nichts ändern, die mit Trauer erkennen, daß trotz allen opfervoller,
hingebenden Bemühungen der "Marktwert des Mannes" -- wie Fran Meisel-Heß
sich mit seltener Offenheit ausdrückt -- den Marktwert der Frau immer noch
übersteigt. Trotz dem starken Widerspruch, den ich dein Buch entgegenbringe, hat
mich aber seine Lektüre gefesselt und mir von neuem Achtung eingeflößt vor der
Alexander von Gleichen-Rnßwurm Mutigen Arbeit der Modernen Frau.




Maßgebliches »ut Unmaßgebliches

Notwendig wäre eine große Bibliographie der katholischen Literatur auf
biographischer Grundlage, etwa von 1700 an. (Die nur der theologischen Literatur
dienende gediegene Arbeit von Dietrich Gla, leider ohne das biographische
Material, wurde infolge Ablebens des Verfassers nicht fortgesetzt.) Leider herrscht
für eine solche Arbeit, welche doch die Grundlage einer neueren katholischen
Literaturgeschichte wäre, in den maßgebenden Kreisen nur geringes Verständnis.


Die sexuelle Krisis. Von Grete Meisel-Heß. Eugen Dietrichs,
Jena 1909.

Teils erfreut, teils belustigt, teils empört habe ich das Buch gelesen, dessen
Studium Freunden wie Gegnern der Frauenbewegung wohl empfohlen werden
kann. Sehr fleißig, wenn auch etwas weitschweifig gearbeitet, beleuchtet es auf
eigenartige Weise ein heikles Gebiet. Man kann der Verfasserin den edlen Mut
der Begeisterung nicht absprechen und muß sich vor dem hohen sittlichen Ernst
beugen, mit dem sie die geschlechtlichen Fragen berührt. Oft findet sie mit gesundem
Menschenverstand ein tüchtiges Wort und sagt Dinge, von denen die landläufige
Moral behauptet, man dürfe sie höchstens denken, aber dann irrt sie wieder —
meines Erachtens — in den wichtigsten, grundlegenden Momenten. Deutschlands
gesunde Geburtsziffern strafen das Wort „sexuelle Krisis" Lügen. Die ungeheure
Zahl der unehelichen Geburten zeigt, daß auch die freie Liebe — als deren
Anhängerin Frau Grete Meisel-Heß sich gibt — nicht gerade im Verschwinden
begriffen ist. Die.Krisis liegt wohl eher darin, daß eine beträchtliche Anzahl von
Frauen aus dem Mittelstand, und darunter recht gebildete Elemente, keine Lebens¬
befriedigung mehr finden, weil die veränderten sozialen Bedingungen ihnen das
ersprießliche Arbeitsgebiet in den Familien genommen haben. Die Frau will sich
vor allem nützlich, ja sogar unentbehrlich fühlen. Es ist ein Fehler, anzunehmen,
daß diese Unentbehrlichkeit unbedingt auf geschlechtlichem Gebiet liegen muß. Die
gesellschaftlich anerkannte freie Liebe würde also die eigentliche Krisis keineswegs
bessern. In dem Wunsch, den freien Zustand der Liebe nicht etwa nur gesetzlich,
sondern vor allem gesellschaftlich anerkannt zu sehen, liegt die originelle und
interessante Seite des Buchs. Nun, in den obersten wie in den untersten Schichten
war diese Anschauung schon manchmal und mancherorts verbreitet, die Verfasserin
spielt selbst darauf an, wenn sie von galanter Liebe und verschiedenen Vvlks-
gebräuchen erzählt. Sie dem Mittelstand begreiflich machen zu wollen, scheint
mir aussichtlos, denn, aus der Konvention geboren, kann er in seinein Dasein die
Konvention nicht entbehren. Er steht und fällt mit ihr. Daran können auch
jene Damen nichts ändern, die mit Trauer erkennen, daß trotz allen opfervoller,
hingebenden Bemühungen der „Marktwert des Mannes" — wie Fran Meisel-Heß
sich mit seltener Offenheit ausdrückt — den Marktwert der Frau immer noch
übersteigt. Trotz dem starken Widerspruch, den ich dein Buch entgegenbringe, hat
mich aber seine Lektüre gefesselt und mir von neuem Achtung eingeflößt vor der
Alexander von Gleichen-Rnßwurm Mutigen Arbeit der Modernen Frau.




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[0199] Maßgebliches »ut Unmaßgebliches Notwendig wäre eine große Bibliographie der katholischen Literatur auf biographischer Grundlage, etwa von 1700 an. (Die nur der theologischen Literatur dienende gediegene Arbeit von Dietrich Gla, leider ohne das biographische Material, wurde infolge Ablebens des Verfassers nicht fortgesetzt.) Leider herrscht für eine solche Arbeit, welche doch die Grundlage einer neueren katholischen Literaturgeschichte wäre, in den maßgebenden Kreisen nur geringes Verständnis. Die sexuelle Krisis. Von Grete Meisel-Heß. Eugen Dietrichs, Jena 1909. Teils erfreut, teils belustigt, teils empört habe ich das Buch gelesen, dessen Studium Freunden wie Gegnern der Frauenbewegung wohl empfohlen werden kann. Sehr fleißig, wenn auch etwas weitschweifig gearbeitet, beleuchtet es auf eigenartige Weise ein heikles Gebiet. Man kann der Verfasserin den edlen Mut der Begeisterung nicht absprechen und muß sich vor dem hohen sittlichen Ernst beugen, mit dem sie die geschlechtlichen Fragen berührt. Oft findet sie mit gesundem Menschenverstand ein tüchtiges Wort und sagt Dinge, von denen die landläufige Moral behauptet, man dürfe sie höchstens denken, aber dann irrt sie wieder — meines Erachtens — in den wichtigsten, grundlegenden Momenten. Deutschlands gesunde Geburtsziffern strafen das Wort „sexuelle Krisis" Lügen. Die ungeheure Zahl der unehelichen Geburten zeigt, daß auch die freie Liebe — als deren Anhängerin Frau Grete Meisel-Heß sich gibt — nicht gerade im Verschwinden begriffen ist. Die.Krisis liegt wohl eher darin, daß eine beträchtliche Anzahl von Frauen aus dem Mittelstand, und darunter recht gebildete Elemente, keine Lebens¬ befriedigung mehr finden, weil die veränderten sozialen Bedingungen ihnen das ersprießliche Arbeitsgebiet in den Familien genommen haben. Die Frau will sich vor allem nützlich, ja sogar unentbehrlich fühlen. Es ist ein Fehler, anzunehmen, daß diese Unentbehrlichkeit unbedingt auf geschlechtlichem Gebiet liegen muß. Die gesellschaftlich anerkannte freie Liebe würde also die eigentliche Krisis keineswegs bessern. In dem Wunsch, den freien Zustand der Liebe nicht etwa nur gesetzlich, sondern vor allem gesellschaftlich anerkannt zu sehen, liegt die originelle und interessante Seite des Buchs. Nun, in den obersten wie in den untersten Schichten war diese Anschauung schon manchmal und mancherorts verbreitet, die Verfasserin spielt selbst darauf an, wenn sie von galanter Liebe und verschiedenen Vvlks- gebräuchen erzählt. Sie dem Mittelstand begreiflich machen zu wollen, scheint mir aussichtlos, denn, aus der Konvention geboren, kann er in seinein Dasein die Konvention nicht entbehren. Er steht und fällt mit ihr. Daran können auch jene Damen nichts ändern, die mit Trauer erkennen, daß trotz allen opfervoller, hingebenden Bemühungen der „Marktwert des Mannes" — wie Fran Meisel-Heß sich mit seltener Offenheit ausdrückt — den Marktwert der Frau immer noch übersteigt. Trotz dem starken Widerspruch, den ich dein Buch entgegenbringe, hat mich aber seine Lektüre gefesselt und mir von neuem Achtung eingeflößt vor der Alexander von Gleichen-Rnßwurm Mutigen Arbeit der Modernen Frau.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/199>, abgerufen am 29.06.2024.