Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches in anderthalb Jahren bewältigt, so daß Paulsen in die Sekunda kam. Dabeihatte Lari Zentsch Auf der Journalistentribüne des Reichstages wird eine literarische Maßgebliches und Unmaßgebliches in anderthalb Jahren bewältigt, so daß Paulsen in die Sekunda kam. Dabeihatte Lari Zentsch Auf der Journalistentribüne des Reichstages wird eine literarische <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0057" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315054"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_158" prev="#ID_157"> in anderthalb Jahren bewältigt, so daß Paulsen in die Sekunda kam. Dabeihatte<lb/> er zu Hause kein Arbeitsstübchen, sondern mußte die häuslichen Arbeiten in der<lb/> Wohnstube machen, wo an den Winterabenden ein halbes Dutzend Frauenspersonen<lb/> mit einander plauderten, und im Sommer wurde er mitunter, wenns not tat,<lb/> zur Erdarbeit herangezogen. „Der rasche Gang am scharfen Zügel", meinte er, sei das<lb/> seiner Natur Gemäße gewesen. Seine persönliche Erfahrung hat ihn überzeugt, daß<lb/> übertriebene Nachsicht im allgemeinen mehr schadet als übertriebene Strenge, und<lb/> er führt billigend die Bemerkung von John Stuart Mill an: „ein Schüler, von dein<lb/> etwas verlangt wird, was er nicht oder noch nicht leisten kann, wird nie alles leisten,<lb/> wozu er fähig ist." (Alle drei Regeln kann man gelten lassen, wenn es sich um<lb/> Schüler handelt, deren Begabung fürs Studium unzweifelhaft ist; auf unsere<lb/> heutigen Gymnasien sind sie nicht anwendbar, weil diese zu besuchen alle Söhne der<lb/> höheren und Mittelklassen gezwungen werden, auch solche, die zu nichts als zur<lb/> Pferdepflege oder zum Holzhacken taugen.) Auf dem Gymnasium in Altoim<lb/> absolvierte er die beiden Sekunden in einem Jahre, verlor das Unterprimanerjahr<lb/> in einem wüsten Kneipenleben, bestand aber die Abiturientenprüfung, in die sich<lb/> reilich kein Schulrat störend einmischte, ganz gut und wurde für „völlig reif" erklärt.<lb/> Die in Erlangen, Bonn, Berlin und Kiel verlebte Studentenzeit, in der auch der<lb/> Militärdienst erledigt wurde, gibt Anlaß zu hübschen Charakterschilderungen berühmter<lb/> und unberühmter Professoren. Mit der Habilitation schließt das Buch. Unter<lb/> den gelegentlichen Bemerkungen über Politik ist das von der dänischen Zeit Gesagte<lb/> sehr beachtenswert. Die schleswigschen Friesen waren gute Deutsche und zugleich<lb/> loyale Untertanen des Dänenkönigs; sie waren das zweite, weil kein Mensch sie<lb/> hinderte, das erste zu sein. Sie erfreuten sich ihrer uralten Selbstverwaltung, bekamen<lb/> dänische Beamten und Soldaten selten, die dänischen Farben gar nicht zu sehen, und<lb/> patriotische Kundgebungen wurden ihnen nicht zugemutet; eine Königsgeburtstags¬<lb/> feier oder sonstige patriotische Feste gab es weder in der Schule noch sonstwo.<lb/> Dänische Prediger hielten bei Vakanzen in deutschen Gemeinden deutsche Predigten,<lb/> „unsere alten deutschen Prediger waren aber gewiß nicht in der Lage, durch dänisch<lb/> gehaltene Predigten den Liebesdienst zu erwidern." (Die dänischen Pastoren haben<lb/> natürlich nicht deutsch gelernt, um deutschen Gemeinden Liebesdienste erweisen zu<lb/> können. Die Angehörigen eines kleinen und schwachen Kulturvolkes werden durch<lb/> ihr eignes Interesse bewogen, sich die Sprache des benachbarten größeren und<lb/> mächtigeren anzueignen, ein Interesse, das äußerlich, nur äußerlich, verleugnet zu<lb/> werden pflegt, sobald sie zu dem, was sie aus freien Stücken gern tun würden,<lb/> gezwungen werden. Für die Angehörigen des größeren Volkes ergeben sich Be¬<lb/> weggründe zur Erlernung der Sprache eines kleinen Volkes nur aus besondern<lb/> Umständen; ein solcher Umstand ist heute der Geschmack an der dänisch-norwegischen<lb/> Literatur, der nach Paniscus Jugendjahren bei uns Mode geworden ist.)</p><lb/> <note type="byline"> Lari Zentsch</note><lb/> </div> <div n="2"> <head> Auf der Journalistentribüne</head> <p xml:id="ID_159" next="#ID_160"> des Reichstages wird eine literarische<lb/> Spezialität gepflegt, die unter dem Namen des Stimmungsbildes bekannt ist. Es gibt<lb/> eine kleine Anzahl von politischen Schriftstellern, die dieses Genre zu großer Feinheit<lb/> und Vollendung entwickelt haben. Niemand wird, um ein Beispiel zu nennen,<lb/> die Stimmungsbilder der Frankfurter Zeitung ohne Vergnügen lesen. Sie erhalten<lb/> ihren Wert aus einer genauen Kenntnis der Personen und Vorgänge und lassen<lb/> den politisch interessierten Kopf erkennen. Daneben macht sich aber der Mangel<lb/> an politischer Bildung und Erziehung breit. Der Reichstagsjournalist sollte<lb/> Politiker sein, er ist aber zu häufig Feuilletonist, manchmal auch nur Reporter.<lb/> Das bedeutet für die Berichterstattung aus dem Reichstage vielfach eine</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0057]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
in anderthalb Jahren bewältigt, so daß Paulsen in die Sekunda kam. Dabeihatte
er zu Hause kein Arbeitsstübchen, sondern mußte die häuslichen Arbeiten in der
Wohnstube machen, wo an den Winterabenden ein halbes Dutzend Frauenspersonen
mit einander plauderten, und im Sommer wurde er mitunter, wenns not tat,
zur Erdarbeit herangezogen. „Der rasche Gang am scharfen Zügel", meinte er, sei das
seiner Natur Gemäße gewesen. Seine persönliche Erfahrung hat ihn überzeugt, daß
übertriebene Nachsicht im allgemeinen mehr schadet als übertriebene Strenge, und
er führt billigend die Bemerkung von John Stuart Mill an: „ein Schüler, von dein
etwas verlangt wird, was er nicht oder noch nicht leisten kann, wird nie alles leisten,
wozu er fähig ist." (Alle drei Regeln kann man gelten lassen, wenn es sich um
Schüler handelt, deren Begabung fürs Studium unzweifelhaft ist; auf unsere
heutigen Gymnasien sind sie nicht anwendbar, weil diese zu besuchen alle Söhne der
höheren und Mittelklassen gezwungen werden, auch solche, die zu nichts als zur
Pferdepflege oder zum Holzhacken taugen.) Auf dem Gymnasium in Altoim
absolvierte er die beiden Sekunden in einem Jahre, verlor das Unterprimanerjahr
in einem wüsten Kneipenleben, bestand aber die Abiturientenprüfung, in die sich
reilich kein Schulrat störend einmischte, ganz gut und wurde für „völlig reif" erklärt.
Die in Erlangen, Bonn, Berlin und Kiel verlebte Studentenzeit, in der auch der
Militärdienst erledigt wurde, gibt Anlaß zu hübschen Charakterschilderungen berühmter
und unberühmter Professoren. Mit der Habilitation schließt das Buch. Unter
den gelegentlichen Bemerkungen über Politik ist das von der dänischen Zeit Gesagte
sehr beachtenswert. Die schleswigschen Friesen waren gute Deutsche und zugleich
loyale Untertanen des Dänenkönigs; sie waren das zweite, weil kein Mensch sie
hinderte, das erste zu sein. Sie erfreuten sich ihrer uralten Selbstverwaltung, bekamen
dänische Beamten und Soldaten selten, die dänischen Farben gar nicht zu sehen, und
patriotische Kundgebungen wurden ihnen nicht zugemutet; eine Königsgeburtstags¬
feier oder sonstige patriotische Feste gab es weder in der Schule noch sonstwo.
Dänische Prediger hielten bei Vakanzen in deutschen Gemeinden deutsche Predigten,
„unsere alten deutschen Prediger waren aber gewiß nicht in der Lage, durch dänisch
gehaltene Predigten den Liebesdienst zu erwidern." (Die dänischen Pastoren haben
natürlich nicht deutsch gelernt, um deutschen Gemeinden Liebesdienste erweisen zu
können. Die Angehörigen eines kleinen und schwachen Kulturvolkes werden durch
ihr eignes Interesse bewogen, sich die Sprache des benachbarten größeren und
mächtigeren anzueignen, ein Interesse, das äußerlich, nur äußerlich, verleugnet zu
werden pflegt, sobald sie zu dem, was sie aus freien Stücken gern tun würden,
gezwungen werden. Für die Angehörigen des größeren Volkes ergeben sich Be¬
weggründe zur Erlernung der Sprache eines kleinen Volkes nur aus besondern
Umständen; ein solcher Umstand ist heute der Geschmack an der dänisch-norwegischen
Literatur, der nach Paniscus Jugendjahren bei uns Mode geworden ist.)
Lari Zentsch
Auf der Journalistentribüne des Reichstages wird eine literarische
Spezialität gepflegt, die unter dem Namen des Stimmungsbildes bekannt ist. Es gibt
eine kleine Anzahl von politischen Schriftstellern, die dieses Genre zu großer Feinheit
und Vollendung entwickelt haben. Niemand wird, um ein Beispiel zu nennen,
die Stimmungsbilder der Frankfurter Zeitung ohne Vergnügen lesen. Sie erhalten
ihren Wert aus einer genauen Kenntnis der Personen und Vorgänge und lassen
den politisch interessierten Kopf erkennen. Daneben macht sich aber der Mangel
an politischer Bildung und Erziehung breit. Der Reichstagsjournalist sollte
Politiker sein, er ist aber zu häufig Feuilletonist, manchmal auch nur Reporter.
Das bedeutet für die Berichterstattung aus dem Reichstage vielfach eine
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