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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Der Außenarchitekt

Alexander von Gleichen-Rnszwnrm, Geselligkeit,

Sitten und Gebräuche
der europäischen Welt 1789 bis 1900. 473 S. Stuttgart 1910. Verlag Julius
Hoffmann. (Broschiert 8,80 M., Leinenband 10 M.)

Alexander von Gleichen-Rußwurm, der Urenkel Schillers, unternimmt
es in diesem Werke, ein bisher ziemlich stark vernachlässigtes Gebiet der Kultur¬
geschichte zu behandeln: die Entwicklung der gesellschaftlichen Sitten und Gebräuche
von der französischen Revolution an bis auf unsere Tage. Ein derartiges
Buch ist von um so größerem Interesse in einer Zeit, in der ein Suchen und
Tasten nach neuen Formen des gesellschaftlichen Verkehrs deutlich in die
Erscheinung tritt und sich vor allem bei der intellektuellen Jugend ein Sehnen nach
dem Zauber geistvoller Geselligkeit und herzerquickender Plauderei fühlbar macht.
Gleichen-Rußwurm, bekannt als feiner philosophischer Kopf, erscheint auch seiner
Persönlichkeit nach vor anderen geeignet für derartige Studien zu einer Geschichte
der Welt -- nämlich des Geistes vornehmer Geselligkeit -- und ihrer Wechsel¬
wirkung mit deu übrigen Erscheinungen des Lebens. Das Buch ist von der ersten
bis zur letzten Seite äußerst anziehend und unterhaltsam. Der Verfasser reiht
nicht die geschichtlichen Tatsachen vertrocknet und aufgeklebt wie Herbariumspflauzen
nebeneinander, sondern gibt Beispiele, die sich tatsächlich im Leben abgespielt haben,
zeichnet Augenblicksbilder und läßt die Personen, von denen er spricht, lebendig
vor uns auferstehen. In 24 Kapiteln führt er uns durch die Salons Frankreichs
und Deutschlands, Italiens und Englands und bringt uns den Wechsel der
Geselligkeitsformen deutlich zum Bewußtsein. Er zeigt uns, wie sich zunächst in
der Zeit von 1789 bis zum Wiener Kongreß die Geselligkeit des achtzehnten
Jahrhunderts allmählich im Zeichen der Politik wandelt, wie dann vom Wiener
Kongreß bis zur Revolution von 1848 das Nationalgefühl allerorten auch in den
Salons mächtig erstarkt und die Weltanschauung der Romantik mehr und mehr
zur Herrschaft gelaugt, wie vou 1848 bis zum Berliner Kongreß Altruismus und
Snobismus vorherrschen und schließlich in den letzten Jahrzehnten soziale Sehnsucht
die Brücke zwischen Höhe und Tiefe zu schlagen sucht. Von der unterhaltenden
Vielseitigkeit, dem liebenswürdigen Geiste und der schönen Sprache des vortrefflichen
Buches kann hier kaum ein Begriff gegeben werden. Wir unsrerseits wünschten,
daß der Verfasser seine Studien auch auf frühere Jahrhunderte ausdehnen und
diesem "letzten" Bande seiner Geschichte der Geselligkeit bald die ersten folgen
l Georg Jahr assen möchte.




Der Außenarchitekt

j ußenarchitekt -- was ist das?"

Nun, es gibt Innenarchitekten. Also muß es doch Wohl auch
I Außenarchitekten geben. Wie der Innenarchitekt die Einrichtung des
Hauses besorgt, besorgt der Außenarchitekt den Bau des Hauses. Der
eine macht das Ding von außen, der andere dasselbe Ding von innen.
'

"So lakonisch, wie du das da sagst, klingt es nicht ganz so töricht. Aber
worauf willst du hinaus? Willst du erklären oder spötteln?"


Der Außenarchitekt

Alexander von Gleichen-Rnszwnrm, Geselligkeit,

Sitten und Gebräuche
der europäischen Welt 1789 bis 1900. 473 S. Stuttgart 1910. Verlag Julius
Hoffmann. (Broschiert 8,80 M., Leinenband 10 M.)

Alexander von Gleichen-Rußwurm, der Urenkel Schillers, unternimmt
es in diesem Werke, ein bisher ziemlich stark vernachlässigtes Gebiet der Kultur¬
geschichte zu behandeln: die Entwicklung der gesellschaftlichen Sitten und Gebräuche
von der französischen Revolution an bis auf unsere Tage. Ein derartiges
Buch ist von um so größerem Interesse in einer Zeit, in der ein Suchen und
Tasten nach neuen Formen des gesellschaftlichen Verkehrs deutlich in die
Erscheinung tritt und sich vor allem bei der intellektuellen Jugend ein Sehnen nach
dem Zauber geistvoller Geselligkeit und herzerquickender Plauderei fühlbar macht.
Gleichen-Rußwurm, bekannt als feiner philosophischer Kopf, erscheint auch seiner
Persönlichkeit nach vor anderen geeignet für derartige Studien zu einer Geschichte
der Welt — nämlich des Geistes vornehmer Geselligkeit — und ihrer Wechsel¬
wirkung mit deu übrigen Erscheinungen des Lebens. Das Buch ist von der ersten
bis zur letzten Seite äußerst anziehend und unterhaltsam. Der Verfasser reiht
nicht die geschichtlichen Tatsachen vertrocknet und aufgeklebt wie Herbariumspflauzen
nebeneinander, sondern gibt Beispiele, die sich tatsächlich im Leben abgespielt haben,
zeichnet Augenblicksbilder und läßt die Personen, von denen er spricht, lebendig
vor uns auferstehen. In 24 Kapiteln führt er uns durch die Salons Frankreichs
und Deutschlands, Italiens und Englands und bringt uns den Wechsel der
Geselligkeitsformen deutlich zum Bewußtsein. Er zeigt uns, wie sich zunächst in
der Zeit von 1789 bis zum Wiener Kongreß die Geselligkeit des achtzehnten
Jahrhunderts allmählich im Zeichen der Politik wandelt, wie dann vom Wiener
Kongreß bis zur Revolution von 1848 das Nationalgefühl allerorten auch in den
Salons mächtig erstarkt und die Weltanschauung der Romantik mehr und mehr
zur Herrschaft gelaugt, wie vou 1848 bis zum Berliner Kongreß Altruismus und
Snobismus vorherrschen und schließlich in den letzten Jahrzehnten soziale Sehnsucht
die Brücke zwischen Höhe und Tiefe zu schlagen sucht. Von der unterhaltenden
Vielseitigkeit, dem liebenswürdigen Geiste und der schönen Sprache des vortrefflichen
Buches kann hier kaum ein Begriff gegeben werden. Wir unsrerseits wünschten,
daß der Verfasser seine Studien auch auf frühere Jahrhunderte ausdehnen und
diesem „letzten" Bande seiner Geschichte der Geselligkeit bald die ersten folgen
l Georg Jahr assen möchte.




Der Außenarchitekt

j ußenarchitekt — was ist das?"

Nun, es gibt Innenarchitekten. Also muß es doch Wohl auch
I Außenarchitekten geben. Wie der Innenarchitekt die Einrichtung des
Hauses besorgt, besorgt der Außenarchitekt den Bau des Hauses. Der
eine macht das Ding von außen, der andere dasselbe Ding von innen.
'

„So lakonisch, wie du das da sagst, klingt es nicht ganz so töricht. Aber
worauf willst du hinaus? Willst du erklären oder spötteln?"


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[0393] Der Außenarchitekt Alexander von Gleichen-Rnszwnrm, Geselligkeit, Sitten und Gebräuche der europäischen Welt 1789 bis 1900. 473 S. Stuttgart 1910. Verlag Julius Hoffmann. (Broschiert 8,80 M., Leinenband 10 M.) Alexander von Gleichen-Rußwurm, der Urenkel Schillers, unternimmt es in diesem Werke, ein bisher ziemlich stark vernachlässigtes Gebiet der Kultur¬ geschichte zu behandeln: die Entwicklung der gesellschaftlichen Sitten und Gebräuche von der französischen Revolution an bis auf unsere Tage. Ein derartiges Buch ist von um so größerem Interesse in einer Zeit, in der ein Suchen und Tasten nach neuen Formen des gesellschaftlichen Verkehrs deutlich in die Erscheinung tritt und sich vor allem bei der intellektuellen Jugend ein Sehnen nach dem Zauber geistvoller Geselligkeit und herzerquickender Plauderei fühlbar macht. Gleichen-Rußwurm, bekannt als feiner philosophischer Kopf, erscheint auch seiner Persönlichkeit nach vor anderen geeignet für derartige Studien zu einer Geschichte der Welt — nämlich des Geistes vornehmer Geselligkeit — und ihrer Wechsel¬ wirkung mit deu übrigen Erscheinungen des Lebens. Das Buch ist von der ersten bis zur letzten Seite äußerst anziehend und unterhaltsam. Der Verfasser reiht nicht die geschichtlichen Tatsachen vertrocknet und aufgeklebt wie Herbariumspflauzen nebeneinander, sondern gibt Beispiele, die sich tatsächlich im Leben abgespielt haben, zeichnet Augenblicksbilder und läßt die Personen, von denen er spricht, lebendig vor uns auferstehen. In 24 Kapiteln führt er uns durch die Salons Frankreichs und Deutschlands, Italiens und Englands und bringt uns den Wechsel der Geselligkeitsformen deutlich zum Bewußtsein. Er zeigt uns, wie sich zunächst in der Zeit von 1789 bis zum Wiener Kongreß die Geselligkeit des achtzehnten Jahrhunderts allmählich im Zeichen der Politik wandelt, wie dann vom Wiener Kongreß bis zur Revolution von 1848 das Nationalgefühl allerorten auch in den Salons mächtig erstarkt und die Weltanschauung der Romantik mehr und mehr zur Herrschaft gelaugt, wie vou 1848 bis zum Berliner Kongreß Altruismus und Snobismus vorherrschen und schließlich in den letzten Jahrzehnten soziale Sehnsucht die Brücke zwischen Höhe und Tiefe zu schlagen sucht. Von der unterhaltenden Vielseitigkeit, dem liebenswürdigen Geiste und der schönen Sprache des vortrefflichen Buches kann hier kaum ein Begriff gegeben werden. Wir unsrerseits wünschten, daß der Verfasser seine Studien auch auf frühere Jahrhunderte ausdehnen und diesem „letzten" Bande seiner Geschichte der Geselligkeit bald die ersten folgen l Georg Jahr assen möchte. Der Außenarchitekt j ußenarchitekt — was ist das?" Nun, es gibt Innenarchitekten. Also muß es doch Wohl auch I Außenarchitekten geben. Wie der Innenarchitekt die Einrichtung des Hauses besorgt, besorgt der Außenarchitekt den Bau des Hauses. Der eine macht das Ding von außen, der andere dasselbe Ding von innen. ' „So lakonisch, wie du das da sagst, klingt es nicht ganz so töricht. Aber worauf willst du hinaus? Willst du erklären oder spötteln?"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/393>, abgerufen am 23.07.2024.