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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Aus dem sogenannten "Lande der Freiheit"
von or. Arthur Rochs
Das Erbteil der Puritaner

! is ich vor zwei Jahren nach 25 jährigem Aufenthalte in den Ver¬
einigten Staaten von Amerika der lieben alten deutschen Heimat
zum ersten Male wieder einen Besuch abstattete, da führte mich
mein Weg natürlich auch nach Berlin. Hatte sich doch die deutsche
Reichshauptstadt in der Zwischenzeit so wunderbar entfaltet, und
war doch dort seitdem so erstaunlich viel Neues, Schönes und
Großartiges entstanden, was ich unbedingt sehen mußte. Bei der Besichtigung
all dieses Neuen und Großartigen geriet ich unter anderem auch in den neuen
Dom um Lustgarten.

War ich nun schon erstaunt, in diesem Prunkbau etwas so völlig vom
herkömmlichen Kirchenbau, besonders dem protestantischen Kirchenbau. Ab¬
weichendes anzutreffen, so verblüffte mich geradezu die hier zur Tat gewordene
Idee der Aufstellung protestantischer Säulenheiligen. Wenn ich es vermocht
hätte, mich mit dieser Idee zu befreunden, so hätte ich wohl gegen die Auf¬
stellung der Standbilder Luthers, Melanchthons und Zwinglis kaum etwas
einzuwenden vermocht, wohl aber selbst dann noch gegen die Aufstellung der
vierten Statue, derjenigen Kalvins!

Über fünfundzwanzig Jahre lang habe ich Gelegenheit gehabt, den Einfluß
wahrzunehmen, den der Geist dieses finsteren Eiferers gegen alle heitere Lebens¬
freude und gegen allen Frohsinn noch heute in den Vereinigten Staaten ausübt und
zwar in einer Weise ausübt, daß ich nicht zaudere, die übliche Bezeichnung der
großen und herrlichen Republik auf der westliche" Halbkugel als des "freiesten
Landes der Erde" für unberechtigt und unbegründet zu erklären.

Ich konnte mich im Berliner Dom daher der Überzeugung nicht verschließen,
daß der finstere Genfer Reformator gleichsam aus Versehen in diese Gesellschaft
geraten war und daß er wahrscheinlich selbst sehr heftig dagegen protestiert
haben würde, in diesem farbenfrohen Prachtbau inmitten der lebensfroher, so
weltlich gesinnten Hauptstadt des neuen deutschen Reiches Aufstellung gefunden
zu haben!

Aber es scheint fast, als ob mich meine amerikanischen Erfahrungen vor¬
eingenommen gemacht Hütten gegen den berühmten Picarden Jean Chauvin,
denn als im vorigen Juli sein Geburtstag zum vierhundertsten Male wieder¬
kehrte, da hat man es ja im ganzen protestantischen Deutschland für angebracht
gehalten, diesen Tag festlich zu begehen.


Grenzboten I 1910 46


Aus dem sogenannten „Lande der Freiheit"
von or. Arthur Rochs
Das Erbteil der Puritaner

! is ich vor zwei Jahren nach 25 jährigem Aufenthalte in den Ver¬
einigten Staaten von Amerika der lieben alten deutschen Heimat
zum ersten Male wieder einen Besuch abstattete, da führte mich
mein Weg natürlich auch nach Berlin. Hatte sich doch die deutsche
Reichshauptstadt in der Zwischenzeit so wunderbar entfaltet, und
war doch dort seitdem so erstaunlich viel Neues, Schönes und
Großartiges entstanden, was ich unbedingt sehen mußte. Bei der Besichtigung
all dieses Neuen und Großartigen geriet ich unter anderem auch in den neuen
Dom um Lustgarten.

War ich nun schon erstaunt, in diesem Prunkbau etwas so völlig vom
herkömmlichen Kirchenbau, besonders dem protestantischen Kirchenbau. Ab¬
weichendes anzutreffen, so verblüffte mich geradezu die hier zur Tat gewordene
Idee der Aufstellung protestantischer Säulenheiligen. Wenn ich es vermocht
hätte, mich mit dieser Idee zu befreunden, so hätte ich wohl gegen die Auf¬
stellung der Standbilder Luthers, Melanchthons und Zwinglis kaum etwas
einzuwenden vermocht, wohl aber selbst dann noch gegen die Aufstellung der
vierten Statue, derjenigen Kalvins!

Über fünfundzwanzig Jahre lang habe ich Gelegenheit gehabt, den Einfluß
wahrzunehmen, den der Geist dieses finsteren Eiferers gegen alle heitere Lebens¬
freude und gegen allen Frohsinn noch heute in den Vereinigten Staaten ausübt und
zwar in einer Weise ausübt, daß ich nicht zaudere, die übliche Bezeichnung der
großen und herrlichen Republik auf der westliche« Halbkugel als des „freiesten
Landes der Erde" für unberechtigt und unbegründet zu erklären.

Ich konnte mich im Berliner Dom daher der Überzeugung nicht verschließen,
daß der finstere Genfer Reformator gleichsam aus Versehen in diese Gesellschaft
geraten war und daß er wahrscheinlich selbst sehr heftig dagegen protestiert
haben würde, in diesem farbenfrohen Prachtbau inmitten der lebensfroher, so
weltlich gesinnten Hauptstadt des neuen deutschen Reiches Aufstellung gefunden
zu haben!

Aber es scheint fast, als ob mich meine amerikanischen Erfahrungen vor¬
eingenommen gemacht Hütten gegen den berühmten Picarden Jean Chauvin,
denn als im vorigen Juli sein Geburtstag zum vierhundertsten Male wieder¬
kehrte, da hat man es ja im ganzen protestantischen Deutschland für angebracht
gehalten, diesen Tag festlich zu begehen.


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[0373] [Abbildung] Aus dem sogenannten „Lande der Freiheit" von or. Arthur Rochs Das Erbteil der Puritaner ! is ich vor zwei Jahren nach 25 jährigem Aufenthalte in den Ver¬ einigten Staaten von Amerika der lieben alten deutschen Heimat zum ersten Male wieder einen Besuch abstattete, da führte mich mein Weg natürlich auch nach Berlin. Hatte sich doch die deutsche Reichshauptstadt in der Zwischenzeit so wunderbar entfaltet, und war doch dort seitdem so erstaunlich viel Neues, Schönes und Großartiges entstanden, was ich unbedingt sehen mußte. Bei der Besichtigung all dieses Neuen und Großartigen geriet ich unter anderem auch in den neuen Dom um Lustgarten. War ich nun schon erstaunt, in diesem Prunkbau etwas so völlig vom herkömmlichen Kirchenbau, besonders dem protestantischen Kirchenbau. Ab¬ weichendes anzutreffen, so verblüffte mich geradezu die hier zur Tat gewordene Idee der Aufstellung protestantischer Säulenheiligen. Wenn ich es vermocht hätte, mich mit dieser Idee zu befreunden, so hätte ich wohl gegen die Auf¬ stellung der Standbilder Luthers, Melanchthons und Zwinglis kaum etwas einzuwenden vermocht, wohl aber selbst dann noch gegen die Aufstellung der vierten Statue, derjenigen Kalvins! Über fünfundzwanzig Jahre lang habe ich Gelegenheit gehabt, den Einfluß wahrzunehmen, den der Geist dieses finsteren Eiferers gegen alle heitere Lebens¬ freude und gegen allen Frohsinn noch heute in den Vereinigten Staaten ausübt und zwar in einer Weise ausübt, daß ich nicht zaudere, die übliche Bezeichnung der großen und herrlichen Republik auf der westliche« Halbkugel als des „freiesten Landes der Erde" für unberechtigt und unbegründet zu erklären. Ich konnte mich im Berliner Dom daher der Überzeugung nicht verschließen, daß der finstere Genfer Reformator gleichsam aus Versehen in diese Gesellschaft geraten war und daß er wahrscheinlich selbst sehr heftig dagegen protestiert haben würde, in diesem farbenfrohen Prachtbau inmitten der lebensfroher, so weltlich gesinnten Hauptstadt des neuen deutschen Reiches Aufstellung gefunden zu haben! Aber es scheint fast, als ob mich meine amerikanischen Erfahrungen vor¬ eingenommen gemacht Hütten gegen den berühmten Picarden Jean Chauvin, denn als im vorigen Juli sein Geburtstag zum vierhundertsten Male wieder¬ kehrte, da hat man es ja im ganzen protestantischen Deutschland für angebracht gehalten, diesen Tag festlich zu begehen. Grenzboten I 1910 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/373>, abgerufen am 21.12.2024.