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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

faden Aufkläricht eines abgestandenen und überwundenen Liberalismus kredenzt.
Widerwärtig ist ihm Ernst Moritz? Ein dummer Franzosenhetzer?

Das schrieb nicht Ernst Moritz Arndt, das schrieb -- Heinrich von Kleist.
Den "Herrlichen" nannte ihn Liliencron. Den "Widerwärtigsten" müßte ihn
Herr Ernst nennen, denn nie ließ sich Ernst Moritz zu so furchtbarer Kühnheit
des Hasses hinreißen. Lassen wir jeden Parteistandpunkt, lassen wir selbst das
Vaterland. Und wäre Ernst Moritz Anarchist gewesen oder hätte selbst zur
"Demokratischen Vereinigung" gehört, welche unsägliche Lächerlichkeit, den kleinen
Otto Ernst dem großen glutdurchloderten Dichter und Künstler in die Beine fallen
zu sehenI Dem Mann mit dem Zorn der freien Rede, dem aus Feuer der Geist
geschaffen ward, der die Lust der Lieder und der Waffen liebte, der Trauben süßes
Sonnenblut, dem Mann der großen Herzensherrlichkeit und des frischen, kühnen
Windes im Leben, dem Künstler, der das Höchste sein eigen nannte: "ein ganz
Adolf petrenz von einer Empfindung volles Herz!"


Der belgische Eulenspiegel.

Unter so vielen gleichgültigen oder über¬
flüssigen Importen, wie sie der deutsche Büchermarkt Jahr für Jahr, ja Monat
für Monat, aufweist, ragt mit menschlichem und künstlerischem Vollgehalt das
Werk eines uns bisher ganz unbekannten belgischen Dichters hervor: "Tyll Ulen-
spiegel und Lamm Goedzak. Legende von ihren heroischen, lustigen und ruhm¬
reichen Abenteuern im Lande Flandern und andern Orts." Friedrich von Oppeln-
Bronikowski hat das Werk vortrefflich verdeutscht und bei Eugen Diederichs in
Jena herausgegeben. Der Dichter dieses Eulenspiegel, Charles de Costers,
wurde 1827 auf deutscher Erde, in München, als Sohn des Intendanten beim
päpstlichen Nuntius geboren und ist 1879 in bitterm Elend in Brüssel gestorben;
sein Hauptwerk ist eben dies von Oppeln-Bronikowski übersetzte. Es mutet merk¬
würdig an, daß das Original dieses Buches ftanzösisch sein -- soll wir können es
uns schlechterdings nicht anders als in einem deutschen Dialekt, etwa flämisch,
geschrieben vorstellen, so ganz ist es erfüllt von barockem deutschen Humor, von deutsch¬
protestantischer Religiosität, auch von deutscher Derbheit und Schalkheit. Costers
hat seinen Ulenspiegel und dessen speisenseligen Freund Lamm Goedzak in die
Kämpfe der Niederlande gegen Philipp den Zweiten und Alba hineinversetzt,
Ulenspiegels Vater wird ein Brandopfer der Inquisition, und der Jüngling, der
voller Streiche steckte, wendet seine Schalkheit nun, lodernd im Feuer gerechten
Ingrimms, gegen die Unterdrücker des Vaterlands. "Maas Asche brennt aus meiner
Brust" -- das wird sein Wappenspruch. Dem aus dem Vollen lebenden Flamen
wird immer wieder der fürchterliche, vom Haß bis ins Unmenschliche verzerrte,
dabei aber ganz lebendig geschilderte Spanierkönig mit seiner widernatürlichen
Grausamkeit gegenübergestellt; alle Helden der Zeit, von Wilhelm dein Schweiger
abwärts, schreiten durch das Buch und kommen mit dem tapfern, verschlagenen
Ulenspiegel in Verbindung. Szenen von dem materiellen Reiz Teniersscher oder
Ostadescher Gemälde wechseln mit fürchterlichen, ins Dämonische gesteigerten


Maßgebliches und Unmaßgebliches

faden Aufkläricht eines abgestandenen und überwundenen Liberalismus kredenzt.
Widerwärtig ist ihm Ernst Moritz? Ein dummer Franzosenhetzer?

Das schrieb nicht Ernst Moritz Arndt, das schrieb — Heinrich von Kleist.
Den „Herrlichen" nannte ihn Liliencron. Den „Widerwärtigsten" müßte ihn
Herr Ernst nennen, denn nie ließ sich Ernst Moritz zu so furchtbarer Kühnheit
des Hasses hinreißen. Lassen wir jeden Parteistandpunkt, lassen wir selbst das
Vaterland. Und wäre Ernst Moritz Anarchist gewesen oder hätte selbst zur
„Demokratischen Vereinigung" gehört, welche unsägliche Lächerlichkeit, den kleinen
Otto Ernst dem großen glutdurchloderten Dichter und Künstler in die Beine fallen
zu sehenI Dem Mann mit dem Zorn der freien Rede, dem aus Feuer der Geist
geschaffen ward, der die Lust der Lieder und der Waffen liebte, der Trauben süßes
Sonnenblut, dem Mann der großen Herzensherrlichkeit und des frischen, kühnen
Windes im Leben, dem Künstler, der das Höchste sein eigen nannte: „ein ganz
Adolf petrenz von einer Empfindung volles Herz!"


Der belgische Eulenspiegel.

Unter so vielen gleichgültigen oder über¬
flüssigen Importen, wie sie der deutsche Büchermarkt Jahr für Jahr, ja Monat
für Monat, aufweist, ragt mit menschlichem und künstlerischem Vollgehalt das
Werk eines uns bisher ganz unbekannten belgischen Dichters hervor: „Tyll Ulen-
spiegel und Lamm Goedzak. Legende von ihren heroischen, lustigen und ruhm¬
reichen Abenteuern im Lande Flandern und andern Orts." Friedrich von Oppeln-
Bronikowski hat das Werk vortrefflich verdeutscht und bei Eugen Diederichs in
Jena herausgegeben. Der Dichter dieses Eulenspiegel, Charles de Costers,
wurde 1827 auf deutscher Erde, in München, als Sohn des Intendanten beim
päpstlichen Nuntius geboren und ist 1879 in bitterm Elend in Brüssel gestorben;
sein Hauptwerk ist eben dies von Oppeln-Bronikowski übersetzte. Es mutet merk¬
würdig an, daß das Original dieses Buches ftanzösisch sein — soll wir können es
uns schlechterdings nicht anders als in einem deutschen Dialekt, etwa flämisch,
geschrieben vorstellen, so ganz ist es erfüllt von barockem deutschen Humor, von deutsch¬
protestantischer Religiosität, auch von deutscher Derbheit und Schalkheit. Costers
hat seinen Ulenspiegel und dessen speisenseligen Freund Lamm Goedzak in die
Kämpfe der Niederlande gegen Philipp den Zweiten und Alba hineinversetzt,
Ulenspiegels Vater wird ein Brandopfer der Inquisition, und der Jüngling, der
voller Streiche steckte, wendet seine Schalkheit nun, lodernd im Feuer gerechten
Ingrimms, gegen die Unterdrücker des Vaterlands. „Maas Asche brennt aus meiner
Brust" — das wird sein Wappenspruch. Dem aus dem Vollen lebenden Flamen
wird immer wieder der fürchterliche, vom Haß bis ins Unmenschliche verzerrte,
dabei aber ganz lebendig geschilderte Spanierkönig mit seiner widernatürlichen
Grausamkeit gegenübergestellt; alle Helden der Zeit, von Wilhelm dein Schweiger
abwärts, schreiten durch das Buch und kommen mit dem tapfern, verschlagenen
Ulenspiegel in Verbindung. Szenen von dem materiellen Reiz Teniersscher oder
Ostadescher Gemälde wechseln mit fürchterlichen, ins Dämonische gesteigerten


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[0344] Maßgebliches und Unmaßgebliches faden Aufkläricht eines abgestandenen und überwundenen Liberalismus kredenzt. Widerwärtig ist ihm Ernst Moritz? Ein dummer Franzosenhetzer? Das schrieb nicht Ernst Moritz Arndt, das schrieb — Heinrich von Kleist. Den „Herrlichen" nannte ihn Liliencron. Den „Widerwärtigsten" müßte ihn Herr Ernst nennen, denn nie ließ sich Ernst Moritz zu so furchtbarer Kühnheit des Hasses hinreißen. Lassen wir jeden Parteistandpunkt, lassen wir selbst das Vaterland. Und wäre Ernst Moritz Anarchist gewesen oder hätte selbst zur „Demokratischen Vereinigung" gehört, welche unsägliche Lächerlichkeit, den kleinen Otto Ernst dem großen glutdurchloderten Dichter und Künstler in die Beine fallen zu sehenI Dem Mann mit dem Zorn der freien Rede, dem aus Feuer der Geist geschaffen ward, der die Lust der Lieder und der Waffen liebte, der Trauben süßes Sonnenblut, dem Mann der großen Herzensherrlichkeit und des frischen, kühnen Windes im Leben, dem Künstler, der das Höchste sein eigen nannte: „ein ganz Adolf petrenz von einer Empfindung volles Herz!" Der belgische Eulenspiegel. Unter so vielen gleichgültigen oder über¬ flüssigen Importen, wie sie der deutsche Büchermarkt Jahr für Jahr, ja Monat für Monat, aufweist, ragt mit menschlichem und künstlerischem Vollgehalt das Werk eines uns bisher ganz unbekannten belgischen Dichters hervor: „Tyll Ulen- spiegel und Lamm Goedzak. Legende von ihren heroischen, lustigen und ruhm¬ reichen Abenteuern im Lande Flandern und andern Orts." Friedrich von Oppeln- Bronikowski hat das Werk vortrefflich verdeutscht und bei Eugen Diederichs in Jena herausgegeben. Der Dichter dieses Eulenspiegel, Charles de Costers, wurde 1827 auf deutscher Erde, in München, als Sohn des Intendanten beim päpstlichen Nuntius geboren und ist 1879 in bitterm Elend in Brüssel gestorben; sein Hauptwerk ist eben dies von Oppeln-Bronikowski übersetzte. Es mutet merk¬ würdig an, daß das Original dieses Buches ftanzösisch sein — soll wir können es uns schlechterdings nicht anders als in einem deutschen Dialekt, etwa flämisch, geschrieben vorstellen, so ganz ist es erfüllt von barockem deutschen Humor, von deutsch¬ protestantischer Religiosität, auch von deutscher Derbheit und Schalkheit. Costers hat seinen Ulenspiegel und dessen speisenseligen Freund Lamm Goedzak in die Kämpfe der Niederlande gegen Philipp den Zweiten und Alba hineinversetzt, Ulenspiegels Vater wird ein Brandopfer der Inquisition, und der Jüngling, der voller Streiche steckte, wendet seine Schalkheit nun, lodernd im Feuer gerechten Ingrimms, gegen die Unterdrücker des Vaterlands. „Maas Asche brennt aus meiner Brust" — das wird sein Wappenspruch. Dem aus dem Vollen lebenden Flamen wird immer wieder der fürchterliche, vom Haß bis ins Unmenschliche verzerrte, dabei aber ganz lebendig geschilderte Spanierkönig mit seiner widernatürlichen Grausamkeit gegenübergestellt; alle Helden der Zeit, von Wilhelm dein Schweiger abwärts, schreiten durch das Buch und kommen mit dem tapfern, verschlagenen Ulenspiegel in Verbindung. Szenen von dem materiellen Reiz Teniersscher oder Ostadescher Gemälde wechseln mit fürchterlichen, ins Dämonische gesteigerten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/344>, abgerufen am 21.12.2024.