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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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verderbliche Boxerpolitik nicht mitmachen wollte. Vielmehr veranlaßte er, der
zu jener Zeit in Wutschang war, seinen Kollegen Lin Kur-pi in Nanking dazu,
mit ihm zusammen eine unbedingte Neutralität zu wahren. Da sich auch
Unan Sebib-kai als damaliger Gouverneur der Provinz Schankung ihnen an¬
schloß, so war damit dem Umsichgreifen der Bewegung nach Mittel- und Süd¬
china ein wirksamer Riegel vorgeschoben. Hierdurch haben die drei genannten
hohen Mandarinen in wahrhaft staatsmännischer Weise ihrem Lande, das sonst
in unabsehbare Wirren gestürzt worden wäre, einen unschätzbaren Dienst ge¬
leistet. Allerdings kann man nachträglich vielleicht sagen, die Notwendigkeit
hätte doch auf der Hand gelegen, den wahnsinnigen telegraphischen Befehl aus
Peking, alle Fremden im ganzen Reiche zu töten, nicht zu befolgen. Man muß
jedoch dabei bedenken, daß damals zwei besonnene Großwürdenträger in der
Hauptstadt auf ausdrücklichen Befehl der Kaiserin-Witwe, die mitunter so un¬
menschlich grausam sein konnte wie eine Tigerin, die gräßliche Strafe zu
erdulden hatten, bei lebendigem Leibe zersägt zu werden! Und weshalb?
Nur weil sie sich erkühnt hatten, den Wortlaut der betreffenden Depesche auf
eigene Faust zu ändern, indem sie "schützen" statt "töten" telegraphieren ließen.
Zieht man dies genügend in Betracht, dann wird man zu der Überzeugung
kommen, daß die Entscheidung für Tschang Tfchih-tung doch nicht ganz leicht
war, selbst wenn man die ziemlich große Unabhängigkeit der Satrapen in deu
Provinzen, die sich in diesem Fall als ein großes Glück erwies, nicht außer
acht läßt. Deshalb Ehre seinein Andenken!




walt Whitman
von Eberhard Büchner

le tief wir heute in Ästhetizismus und Formalismus versunken
sind, kommt uns erst dann klar zum Bewußtsein, wenn einmal
ein Starker, Großer, Eigener unter uns tritt, der in glückseliger
Unbekümmertheit um alles, was Tradition und Sitte heißt, nur
ein Gesetz kennt, das Gesetz, das in ihm selbst ruht. Die Formen,
die wir, ehe er zu uns trat, verehrten, scheinen dann gerade gut genug, vou
ihm zerbrochen zu werden und blitzartig erkennen wir, wie kläglich unsere auf
Kosten des Wesens betriebene Formvergötterung gewesen. Jede Form ist ein¬
mal von starker Eigenart, von einer selbstbewußten Persönlichkeit hingestellt
worden; aber ohnmächtige Schwäche, unfähig sich eine eigene Ausdrucksform zu
schaffen, bemächtigte sich ihrer, und so konnte es geschehen, daß sie unbesehen,


walt whitinan

verderbliche Boxerpolitik nicht mitmachen wollte. Vielmehr veranlaßte er, der
zu jener Zeit in Wutschang war, seinen Kollegen Lin Kur-pi in Nanking dazu,
mit ihm zusammen eine unbedingte Neutralität zu wahren. Da sich auch
Unan Sebib-kai als damaliger Gouverneur der Provinz Schankung ihnen an¬
schloß, so war damit dem Umsichgreifen der Bewegung nach Mittel- und Süd¬
china ein wirksamer Riegel vorgeschoben. Hierdurch haben die drei genannten
hohen Mandarinen in wahrhaft staatsmännischer Weise ihrem Lande, das sonst
in unabsehbare Wirren gestürzt worden wäre, einen unschätzbaren Dienst ge¬
leistet. Allerdings kann man nachträglich vielleicht sagen, die Notwendigkeit
hätte doch auf der Hand gelegen, den wahnsinnigen telegraphischen Befehl aus
Peking, alle Fremden im ganzen Reiche zu töten, nicht zu befolgen. Man muß
jedoch dabei bedenken, daß damals zwei besonnene Großwürdenträger in der
Hauptstadt auf ausdrücklichen Befehl der Kaiserin-Witwe, die mitunter so un¬
menschlich grausam sein konnte wie eine Tigerin, die gräßliche Strafe zu
erdulden hatten, bei lebendigem Leibe zersägt zu werden! Und weshalb?
Nur weil sie sich erkühnt hatten, den Wortlaut der betreffenden Depesche auf
eigene Faust zu ändern, indem sie „schützen" statt „töten" telegraphieren ließen.
Zieht man dies genügend in Betracht, dann wird man zu der Überzeugung
kommen, daß die Entscheidung für Tschang Tfchih-tung doch nicht ganz leicht
war, selbst wenn man die ziemlich große Unabhängigkeit der Satrapen in deu
Provinzen, die sich in diesem Fall als ein großes Glück erwies, nicht außer
acht läßt. Deshalb Ehre seinein Andenken!




walt Whitman
von Eberhard Büchner

le tief wir heute in Ästhetizismus und Formalismus versunken
sind, kommt uns erst dann klar zum Bewußtsein, wenn einmal
ein Starker, Großer, Eigener unter uns tritt, der in glückseliger
Unbekümmertheit um alles, was Tradition und Sitte heißt, nur
ein Gesetz kennt, das Gesetz, das in ihm selbst ruht. Die Formen,
die wir, ehe er zu uns trat, verehrten, scheinen dann gerade gut genug, vou
ihm zerbrochen zu werden und blitzartig erkennen wir, wie kläglich unsere auf
Kosten des Wesens betriebene Formvergötterung gewesen. Jede Form ist ein¬
mal von starker Eigenart, von einer selbstbewußten Persönlichkeit hingestellt
worden; aber ohnmächtige Schwäche, unfähig sich eine eigene Ausdrucksform zu
schaffen, bemächtigte sich ihrer, und so konnte es geschehen, daß sie unbesehen,


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[0304] walt whitinan verderbliche Boxerpolitik nicht mitmachen wollte. Vielmehr veranlaßte er, der zu jener Zeit in Wutschang war, seinen Kollegen Lin Kur-pi in Nanking dazu, mit ihm zusammen eine unbedingte Neutralität zu wahren. Da sich auch Unan Sebib-kai als damaliger Gouverneur der Provinz Schankung ihnen an¬ schloß, so war damit dem Umsichgreifen der Bewegung nach Mittel- und Süd¬ china ein wirksamer Riegel vorgeschoben. Hierdurch haben die drei genannten hohen Mandarinen in wahrhaft staatsmännischer Weise ihrem Lande, das sonst in unabsehbare Wirren gestürzt worden wäre, einen unschätzbaren Dienst ge¬ leistet. Allerdings kann man nachträglich vielleicht sagen, die Notwendigkeit hätte doch auf der Hand gelegen, den wahnsinnigen telegraphischen Befehl aus Peking, alle Fremden im ganzen Reiche zu töten, nicht zu befolgen. Man muß jedoch dabei bedenken, daß damals zwei besonnene Großwürdenträger in der Hauptstadt auf ausdrücklichen Befehl der Kaiserin-Witwe, die mitunter so un¬ menschlich grausam sein konnte wie eine Tigerin, die gräßliche Strafe zu erdulden hatten, bei lebendigem Leibe zersägt zu werden! Und weshalb? Nur weil sie sich erkühnt hatten, den Wortlaut der betreffenden Depesche auf eigene Faust zu ändern, indem sie „schützen" statt „töten" telegraphieren ließen. Zieht man dies genügend in Betracht, dann wird man zu der Überzeugung kommen, daß die Entscheidung für Tschang Tfchih-tung doch nicht ganz leicht war, selbst wenn man die ziemlich große Unabhängigkeit der Satrapen in deu Provinzen, die sich in diesem Fall als ein großes Glück erwies, nicht außer acht läßt. Deshalb Ehre seinein Andenken! walt Whitman von Eberhard Büchner le tief wir heute in Ästhetizismus und Formalismus versunken sind, kommt uns erst dann klar zum Bewußtsein, wenn einmal ein Starker, Großer, Eigener unter uns tritt, der in glückseliger Unbekümmertheit um alles, was Tradition und Sitte heißt, nur ein Gesetz kennt, das Gesetz, das in ihm selbst ruht. Die Formen, die wir, ehe er zu uns trat, verehrten, scheinen dann gerade gut genug, vou ihm zerbrochen zu werden und blitzartig erkennen wir, wie kläglich unsere auf Kosten des Wesens betriebene Formvergötterung gewesen. Jede Form ist ein¬ mal von starker Eigenart, von einer selbstbewußten Persönlichkeit hingestellt worden; aber ohnmächtige Schwäche, unfähig sich eine eigene Ausdrucksform zu schaffen, bemächtigte sich ihrer, und so konnte es geschehen, daß sie unbesehen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/304>, abgerufen am 23.07.2024.