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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Das Berliner Schauspielhaus
von "Lügen Zabel

me Weile schien es, als ob sich das herrliche Gebäude auf dem
Berliner Gendarmenmarkt, das früher der gesamten dramatischen
Kunst in Deutschland die Richtung vorzeichnete, in eine ungeheure
Attrape mit klassischen: Formenschwung verwandeln wollte. Der
unwürdige Zustand war eingetreten, daß selbst tonangebende
Kreise unserer Bevölkerung beim Anblick des Schillerdenkmals überlegen lächelten
und sich weder um die Dichtungen noch um die Künstler kümmerten, die dort
auf der Bühne erschienen. Jetzt spricht man wieder ernst und erwartungsvoll
vom Königlichen Schauspielhause in der Annahme, daß der Musengott auf dem
First des Hauptgebäudes sein Greifen-Zweigespann bedeutenden Zielen zulenken
könne. Immer wieder hat man sich dort seit Einführung der Theaterfreiheit
bei frischen Strömungen unseres Bühnenlebens überholen lassen und eine
Verjüngung an Haupt und Gliedern erst dann für notwendig gehalten, wenn
der Vorsprung freier und selbständiger Unternehmungen nur noch schwer ein¬
zuholen war. Das geschah zuerst in den Maitagen 1874, als die Meininger
in Berlin auftraten und den Zuschauern eine neue und farbenfrohe Kunst der
Inszenierung boten, die den Geist unserer klassischen Meisterwerke in ungeahnten
Bildern aufleuchten ließ. Dieselbe Erfahrung wiederholte sich im Herbst 1883,
als mit der Begründung des Deutschen Theaters zum ersten Male der Versuch
gemacht wurde, eine Kunststätte mit hohen künstlerischen Aufgaben ohne staatliche
Unterstützung zu schaffen. Fünf Jahre später wurden bei der Eröffnung des
Berliner und Lessingtheaters ähnliche Wege eingeschlagen, und zuletzt hat
Max Reinhardt mit dem Arbeitsfleiß seiner beiden Bühnen an dein Bau der
Überlieferung die morschen Stellen herausgefunden und junge Kräfte sich eifrig
regen lassen. Es dauerte immer lange, bis das Schauspielhaus die Not¬
wendigkeit einsah, bei der Durchführung des Spielplans seine Schritte zu be¬
schleunigen, um nicht bei der vorwärts drängenden Entwicklung durch einen
kräftigen Ruck beiseite geschoben zu werden.




Das Berliner Schauspielhaus
von «Lügen Zabel

me Weile schien es, als ob sich das herrliche Gebäude auf dem
Berliner Gendarmenmarkt, das früher der gesamten dramatischen
Kunst in Deutschland die Richtung vorzeichnete, in eine ungeheure
Attrape mit klassischen: Formenschwung verwandeln wollte. Der
unwürdige Zustand war eingetreten, daß selbst tonangebende
Kreise unserer Bevölkerung beim Anblick des Schillerdenkmals überlegen lächelten
und sich weder um die Dichtungen noch um die Künstler kümmerten, die dort
auf der Bühne erschienen. Jetzt spricht man wieder ernst und erwartungsvoll
vom Königlichen Schauspielhause in der Annahme, daß der Musengott auf dem
First des Hauptgebäudes sein Greifen-Zweigespann bedeutenden Zielen zulenken
könne. Immer wieder hat man sich dort seit Einführung der Theaterfreiheit
bei frischen Strömungen unseres Bühnenlebens überholen lassen und eine
Verjüngung an Haupt und Gliedern erst dann für notwendig gehalten, wenn
der Vorsprung freier und selbständiger Unternehmungen nur noch schwer ein¬
zuholen war. Das geschah zuerst in den Maitagen 1874, als die Meininger
in Berlin auftraten und den Zuschauern eine neue und farbenfrohe Kunst der
Inszenierung boten, die den Geist unserer klassischen Meisterwerke in ungeahnten
Bildern aufleuchten ließ. Dieselbe Erfahrung wiederholte sich im Herbst 1883,
als mit der Begründung des Deutschen Theaters zum ersten Male der Versuch
gemacht wurde, eine Kunststätte mit hohen künstlerischen Aufgaben ohne staatliche
Unterstützung zu schaffen. Fünf Jahre später wurden bei der Eröffnung des
Berliner und Lessingtheaters ähnliche Wege eingeschlagen, und zuletzt hat
Max Reinhardt mit dem Arbeitsfleiß seiner beiden Bühnen an dein Bau der
Überlieferung die morschen Stellen herausgefunden und junge Kräfte sich eifrig
regen lassen. Es dauerte immer lange, bis das Schauspielhaus die Not¬
wendigkeit einsah, bei der Durchführung des Spielplans seine Schritte zu be¬
schleunigen, um nicht bei der vorwärts drängenden Entwicklung durch einen
kräftigen Ruck beiseite geschoben zu werden.


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[0114] [Abbildung] Das Berliner Schauspielhaus von «Lügen Zabel me Weile schien es, als ob sich das herrliche Gebäude auf dem Berliner Gendarmenmarkt, das früher der gesamten dramatischen Kunst in Deutschland die Richtung vorzeichnete, in eine ungeheure Attrape mit klassischen: Formenschwung verwandeln wollte. Der unwürdige Zustand war eingetreten, daß selbst tonangebende Kreise unserer Bevölkerung beim Anblick des Schillerdenkmals überlegen lächelten und sich weder um die Dichtungen noch um die Künstler kümmerten, die dort auf der Bühne erschienen. Jetzt spricht man wieder ernst und erwartungsvoll vom Königlichen Schauspielhause in der Annahme, daß der Musengott auf dem First des Hauptgebäudes sein Greifen-Zweigespann bedeutenden Zielen zulenken könne. Immer wieder hat man sich dort seit Einführung der Theaterfreiheit bei frischen Strömungen unseres Bühnenlebens überholen lassen und eine Verjüngung an Haupt und Gliedern erst dann für notwendig gehalten, wenn der Vorsprung freier und selbständiger Unternehmungen nur noch schwer ein¬ zuholen war. Das geschah zuerst in den Maitagen 1874, als die Meininger in Berlin auftraten und den Zuschauern eine neue und farbenfrohe Kunst der Inszenierung boten, die den Geist unserer klassischen Meisterwerke in ungeahnten Bildern aufleuchten ließ. Dieselbe Erfahrung wiederholte sich im Herbst 1883, als mit der Begründung des Deutschen Theaters zum ersten Male der Versuch gemacht wurde, eine Kunststätte mit hohen künstlerischen Aufgaben ohne staatliche Unterstützung zu schaffen. Fünf Jahre später wurden bei der Eröffnung des Berliner und Lessingtheaters ähnliche Wege eingeschlagen, und zuletzt hat Max Reinhardt mit dem Arbeitsfleiß seiner beiden Bühnen an dein Bau der Überlieferung die morschen Stellen herausgefunden und junge Kräfte sich eifrig regen lassen. Es dauerte immer lange, bis das Schauspielhaus die Not¬ wendigkeit einsah, bei der Durchführung des Spielplans seine Schritte zu be¬ schleunigen, um nicht bei der vorwärts drängenden Entwicklung durch einen kräftigen Ruck beiseite geschoben zu werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/114>, abgerufen am 21.12.2024.