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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Luk Lesuch in Lhiust, dem Clusium der Alten

Felde zieht, zähmen sollen. Die stärkste wird die Pleißenburg mit dem gewaltigen
Bergfried. Der Markgraf ahnt nicht, daß in diesem Bergfried einst ein noch viel
kühnerer Mann als der Leipziger Bürgermeister, der Wittenberger Mönch sein "Los
von Rom" hindonnern wird, und daß wieder nach Jahrhunderten um eben diesen
Bergfried die rastlos aufstrebenden Bürger den idealen Mittelpunkt ihres unvergleich¬
lichen Gemeinwesens, ihr Rathaus, bauen werden, noch weniger, daß seine Urenkel
in eben dieser Stadt vor einer aus allen Gauen der Welt zusammengeströmten
Festversammlung das akademische Bürgerrecht erwerben sollen. Doch nun sind die
Weichen der Station Dohlen hinter uns, die Rädermusik wird sanfter und lieb¬
licher -- im Markgrafen Hause am Collin sitzt ein junger Herr im Schmucke blonder
Locken, er schlägt die Laute in vollen, weichen Tönen, Herr Heinrich der Er¬
lauchte, und singt die Liebesweihe:

Da -- ein Ruck der Carpenterbremse -- der Zug steht still -- der Schaffner
ruft: Würzen -- ich reibe mir die Augen und beeile mich auszusteigen, denn der
moderne V-Zug wartet nicht auf Träumende.




Gin Besuch in (Lhiusi, dem (Llusium der Alten

hiusi, im Herzen des toscanischen Berglandes gelegen, hat als
Vereinigungspunkt der Bahnlinien Florenz-Rom und Siena-
Rom in neuerer Zeit eine wenn auch nur bescheidne Bedeutung
erlangt. Jahraus, jahrein flutet hier der Fremdenstrom dem
Süden zu mit nur kurzem Halt, wo dann dem von Norden her
Kommenden zum erstenmal der köstliche Orvietowein in zierlichem,
strohumflochtnem Fiaschino kredenzt wird. Die Erinnerung daran ist für die
große Masse der Reisenden das einzige, was sie von Chiusi mitnimmt, denn
nach der Stadt, die der Station den Namen gegeben hat, fragt kaum jemand.
Sieht es doch wirklich so aus, als hätte sie sich im Bewußtsein ihrer Alter¬
tümlichkeit vor dem modernen Verkehr unten im Chianatale scheu auf die hohe
Bergwand zurückgezogen; denn eine ehrwürdige Vergangenheit und einen klang¬
vollen Namen in der Weltgeschichte hat das Städtchen in der Tat.

Clusium nannte es sich im Altertum, und aus seinen Toren zog einst, wie
jeder weiß, Porsenna gegen Rom zu Felde, um dort den König Tarquinius
wieder auf den Thron zu setzen, von dem ihn die Römer wegen seines Will¬
kürregiments gestoßen hatten. Das Unternehmen des Porsenna entsprang nicht
bloßer Abenteuerlust, sondern berechtigtem Machtgefühl; war doch Clusium da¬
mals die mächtigste Stadt des etruskischen Volkes, das seine Herrschaft vom
Po bis zum Golf von Neapel ausdehnte und ungefähr vom achten Jahr-


Grenzboten IV 1909 77
Luk Lesuch in Lhiust, dem Clusium der Alten

Felde zieht, zähmen sollen. Die stärkste wird die Pleißenburg mit dem gewaltigen
Bergfried. Der Markgraf ahnt nicht, daß in diesem Bergfried einst ein noch viel
kühnerer Mann als der Leipziger Bürgermeister, der Wittenberger Mönch sein „Los
von Rom" hindonnern wird, und daß wieder nach Jahrhunderten um eben diesen
Bergfried die rastlos aufstrebenden Bürger den idealen Mittelpunkt ihres unvergleich¬
lichen Gemeinwesens, ihr Rathaus, bauen werden, noch weniger, daß seine Urenkel
in eben dieser Stadt vor einer aus allen Gauen der Welt zusammengeströmten
Festversammlung das akademische Bürgerrecht erwerben sollen. Doch nun sind die
Weichen der Station Dohlen hinter uns, die Rädermusik wird sanfter und lieb¬
licher — im Markgrafen Hause am Collin sitzt ein junger Herr im Schmucke blonder
Locken, er schlägt die Laute in vollen, weichen Tönen, Herr Heinrich der Er¬
lauchte, und singt die Liebesweihe:

Da — ein Ruck der Carpenterbremse — der Zug steht still — der Schaffner
ruft: Würzen — ich reibe mir die Augen und beeile mich auszusteigen, denn der
moderne V-Zug wartet nicht auf Träumende.




Gin Besuch in (Lhiusi, dem (Llusium der Alten

hiusi, im Herzen des toscanischen Berglandes gelegen, hat als
Vereinigungspunkt der Bahnlinien Florenz-Rom und Siena-
Rom in neuerer Zeit eine wenn auch nur bescheidne Bedeutung
erlangt. Jahraus, jahrein flutet hier der Fremdenstrom dem
Süden zu mit nur kurzem Halt, wo dann dem von Norden her
Kommenden zum erstenmal der köstliche Orvietowein in zierlichem,
strohumflochtnem Fiaschino kredenzt wird. Die Erinnerung daran ist für die
große Masse der Reisenden das einzige, was sie von Chiusi mitnimmt, denn
nach der Stadt, die der Station den Namen gegeben hat, fragt kaum jemand.
Sieht es doch wirklich so aus, als hätte sie sich im Bewußtsein ihrer Alter¬
tümlichkeit vor dem modernen Verkehr unten im Chianatale scheu auf die hohe
Bergwand zurückgezogen; denn eine ehrwürdige Vergangenheit und einen klang¬
vollen Namen in der Weltgeschichte hat das Städtchen in der Tat.

Clusium nannte es sich im Altertum, und aus seinen Toren zog einst, wie
jeder weiß, Porsenna gegen Rom zu Felde, um dort den König Tarquinius
wieder auf den Thron zu setzen, von dem ihn die Römer wegen seines Will¬
kürregiments gestoßen hatten. Das Unternehmen des Porsenna entsprang nicht
bloßer Abenteuerlust, sondern berechtigtem Machtgefühl; war doch Clusium da¬
mals die mächtigste Stadt des etruskischen Volkes, das seine Herrschaft vom
Po bis zum Golf von Neapel ausdehnte und ungefähr vom achten Jahr-


Grenzboten IV 1909 77
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[0613] Luk Lesuch in Lhiust, dem Clusium der Alten Felde zieht, zähmen sollen. Die stärkste wird die Pleißenburg mit dem gewaltigen Bergfried. Der Markgraf ahnt nicht, daß in diesem Bergfried einst ein noch viel kühnerer Mann als der Leipziger Bürgermeister, der Wittenberger Mönch sein „Los von Rom" hindonnern wird, und daß wieder nach Jahrhunderten um eben diesen Bergfried die rastlos aufstrebenden Bürger den idealen Mittelpunkt ihres unvergleich¬ lichen Gemeinwesens, ihr Rathaus, bauen werden, noch weniger, daß seine Urenkel in eben dieser Stadt vor einer aus allen Gauen der Welt zusammengeströmten Festversammlung das akademische Bürgerrecht erwerben sollen. Doch nun sind die Weichen der Station Dohlen hinter uns, die Rädermusik wird sanfter und lieb¬ licher — im Markgrafen Hause am Collin sitzt ein junger Herr im Schmucke blonder Locken, er schlägt die Laute in vollen, weichen Tönen, Herr Heinrich der Er¬ lauchte, und singt die Liebesweihe: Da — ein Ruck der Carpenterbremse — der Zug steht still — der Schaffner ruft: Würzen — ich reibe mir die Augen und beeile mich auszusteigen, denn der moderne V-Zug wartet nicht auf Träumende. Gin Besuch in (Lhiusi, dem (Llusium der Alten hiusi, im Herzen des toscanischen Berglandes gelegen, hat als Vereinigungspunkt der Bahnlinien Florenz-Rom und Siena- Rom in neuerer Zeit eine wenn auch nur bescheidne Bedeutung erlangt. Jahraus, jahrein flutet hier der Fremdenstrom dem Süden zu mit nur kurzem Halt, wo dann dem von Norden her Kommenden zum erstenmal der köstliche Orvietowein in zierlichem, strohumflochtnem Fiaschino kredenzt wird. Die Erinnerung daran ist für die große Masse der Reisenden das einzige, was sie von Chiusi mitnimmt, denn nach der Stadt, die der Station den Namen gegeben hat, fragt kaum jemand. Sieht es doch wirklich so aus, als hätte sie sich im Bewußtsein ihrer Alter¬ tümlichkeit vor dem modernen Verkehr unten im Chianatale scheu auf die hohe Bergwand zurückgezogen; denn eine ehrwürdige Vergangenheit und einen klang¬ vollen Namen in der Weltgeschichte hat das Städtchen in der Tat. Clusium nannte es sich im Altertum, und aus seinen Toren zog einst, wie jeder weiß, Porsenna gegen Rom zu Felde, um dort den König Tarquinius wieder auf den Thron zu setzen, von dem ihn die Römer wegen seines Will¬ kürregiments gestoßen hatten. Das Unternehmen des Porsenna entsprang nicht bloßer Abenteuerlust, sondern berechtigtem Machtgefühl; war doch Clusium da¬ mals die mächtigste Stadt des etruskischen Volkes, das seine Herrschaft vom Po bis zum Golf von Neapel ausdehnte und ungefähr vom achten Jahr- Grenzboten IV 1909 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/613>, abgerufen am 24.07.2024.