Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vom thrakischen Meere

Wird getrübt, als Justine ihm bekennen muß, daß sie durch eine zu starke
Morphiumdosis den Tod Kneph veranlaßt hat. wenngleich aus reinster Ab¬
sicht. Nach vorübergehender Entfremdung vereinigen sich beide wieder; aber
sie tragen doch fortan die ganze Wucht der Verantwortung, die das Leben
derer belastet, die, unzufrieden mit den Wegen des Schicksals, den "Göttern
die Zügel aus der Hand genommen haben".

Die hier herausgegriffnen Beispiele zeigen die Richtungen an, denen sich
der psychologische Roman der Zukunft zuzuwenden scheint. Die Zeiten, wo
sich der schaffende Künstler in eine Welt der Phantasmen einspinnen konnte,
wie es seinerzeit Poe getan, sind vorüber. Das reale Leben fordert sein
Recht auch von denen, die das aus innerm Erleben sich formende Menschen¬
schicksal für wichtiger halten als die Konflikte der Massen. Und noch ein
bedeutsamer Umstand darf nicht übersehen werden: das ist die große Vor¬
liebe der modernen Autoren für solche Themen, die mit dem Denken und
Fühlen der Gegenwart in unmittelbarem Kontakt stehn. Es ist, als glaubten
sie in dieser engen Fühlung mit dem Aktuellen erHaschen zu können, was die
führenden Geister Amerikas von Anbeginn gesucht haben: den charakteristischen
Ausdruck der Wesensart der amerikanischen Kultur. Bisher tasten sie umher in
einem Gewirr blendender Farben, flutender Töne, ohne die lösende Harmonie,
"die Stimme Amerikas" finden zu können. Walt Whitman, der Pionier,
lauschte nach ihr im Odem der Wälder und Felstäler; doch was er klingen
hörte, war nur eine einzelne Saite. Frank Norris, zu dem die weiten
Weizenebenen wie die Häuserblocks von Chicago eine verstündliche Sprache
redeten, würde dem Ziel vielleicht näher gekommen sein, wenn ihm nicht der
Tod die Feder aus der Hand genommen hätte. Was ihm zu vollenden ver¬
gönnt war, ist gleich dem Schaffen der andern eine Vorarbeit. Doch mag
es sein, daß das Geistesleben Amerikas seinen Interpreten erst dann findet,
wenn der Staatenbund zum Reich, das Völkergemisch zur Nation zusammen¬
Beda prilipp geschweißt ist. __
-




Vom thrakischen Meere
von Carl Fredrich i
7. Skyros

le Insel Skyros ist der Schauplatz zweier antiker Märchen, die man
von der Schule her nicht leicht vergißt. Welcher Junge hörte nicht
mit Entrüstung, wie der unmenschlich starke und gute König Theseus
durch seinen Gastfreund, den König Lykomedes, den er in aller Freund¬
schaft besucht, von der schwindelnden Höhe der Burg heimtückisch in
das Meer gestürzt wird? Zu demselben König aber wird von einem
fürsorglichen Vater der junge Achill gebracht, damit er in Weiberkleidern mit dessen
Töchtern lebe und nicht in den münnermordenden Krieg gen Troja zu ziehen


vom thrakischen Meere

Wird getrübt, als Justine ihm bekennen muß, daß sie durch eine zu starke
Morphiumdosis den Tod Kneph veranlaßt hat. wenngleich aus reinster Ab¬
sicht. Nach vorübergehender Entfremdung vereinigen sich beide wieder; aber
sie tragen doch fortan die ganze Wucht der Verantwortung, die das Leben
derer belastet, die, unzufrieden mit den Wegen des Schicksals, den „Göttern
die Zügel aus der Hand genommen haben".

Die hier herausgegriffnen Beispiele zeigen die Richtungen an, denen sich
der psychologische Roman der Zukunft zuzuwenden scheint. Die Zeiten, wo
sich der schaffende Künstler in eine Welt der Phantasmen einspinnen konnte,
wie es seinerzeit Poe getan, sind vorüber. Das reale Leben fordert sein
Recht auch von denen, die das aus innerm Erleben sich formende Menschen¬
schicksal für wichtiger halten als die Konflikte der Massen. Und noch ein
bedeutsamer Umstand darf nicht übersehen werden: das ist die große Vor¬
liebe der modernen Autoren für solche Themen, die mit dem Denken und
Fühlen der Gegenwart in unmittelbarem Kontakt stehn. Es ist, als glaubten
sie in dieser engen Fühlung mit dem Aktuellen erHaschen zu können, was die
führenden Geister Amerikas von Anbeginn gesucht haben: den charakteristischen
Ausdruck der Wesensart der amerikanischen Kultur. Bisher tasten sie umher in
einem Gewirr blendender Farben, flutender Töne, ohne die lösende Harmonie,
„die Stimme Amerikas" finden zu können. Walt Whitman, der Pionier,
lauschte nach ihr im Odem der Wälder und Felstäler; doch was er klingen
hörte, war nur eine einzelne Saite. Frank Norris, zu dem die weiten
Weizenebenen wie die Häuserblocks von Chicago eine verstündliche Sprache
redeten, würde dem Ziel vielleicht näher gekommen sein, wenn ihm nicht der
Tod die Feder aus der Hand genommen hätte. Was ihm zu vollenden ver¬
gönnt war, ist gleich dem Schaffen der andern eine Vorarbeit. Doch mag
es sein, daß das Geistesleben Amerikas seinen Interpreten erst dann findet,
wenn der Staatenbund zum Reich, das Völkergemisch zur Nation zusammen¬
Beda prilipp geschweißt ist. __
-




Vom thrakischen Meere
von Carl Fredrich i
7. Skyros

le Insel Skyros ist der Schauplatz zweier antiker Märchen, die man
von der Schule her nicht leicht vergißt. Welcher Junge hörte nicht
mit Entrüstung, wie der unmenschlich starke und gute König Theseus
durch seinen Gastfreund, den König Lykomedes, den er in aller Freund¬
schaft besucht, von der schwindelnden Höhe der Burg heimtückisch in
das Meer gestürzt wird? Zu demselben König aber wird von einem
fürsorglichen Vater der junge Achill gebracht, damit er in Weiberkleidern mit dessen
Töchtern lebe und nicht in den münnermordenden Krieg gen Troja zu ziehen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0571" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314918"/>
          <fw type="header" place="top"> vom thrakischen Meere</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2536" prev="#ID_2535"> Wird getrübt, als Justine ihm bekennen muß, daß sie durch eine zu starke<lb/>
Morphiumdosis den Tod Kneph veranlaßt hat. wenngleich aus reinster Ab¬<lb/>
sicht. Nach vorübergehender Entfremdung vereinigen sich beide wieder; aber<lb/>
sie tragen doch fortan die ganze Wucht der Verantwortung, die das Leben<lb/>
derer belastet, die, unzufrieden mit den Wegen des Schicksals, den &#x201E;Göttern<lb/>
die Zügel aus der Hand genommen haben".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2537"> Die hier herausgegriffnen Beispiele zeigen die Richtungen an, denen sich<lb/>
der psychologische Roman der Zukunft zuzuwenden scheint. Die Zeiten, wo<lb/>
sich der schaffende Künstler in eine Welt der Phantasmen einspinnen konnte,<lb/>
wie es seinerzeit Poe getan, sind vorüber. Das reale Leben fordert sein<lb/>
Recht auch von denen, die das aus innerm Erleben sich formende Menschen¬<lb/>
schicksal für wichtiger halten als die Konflikte der Massen. Und noch ein<lb/>
bedeutsamer Umstand darf nicht übersehen werden: das ist die große Vor¬<lb/>
liebe der modernen Autoren für solche Themen, die mit dem Denken und<lb/>
Fühlen der Gegenwart in unmittelbarem Kontakt stehn. Es ist, als glaubten<lb/>
sie in dieser engen Fühlung mit dem Aktuellen erHaschen zu können, was die<lb/>
führenden Geister Amerikas von Anbeginn gesucht haben: den charakteristischen<lb/>
Ausdruck der Wesensart der amerikanischen Kultur. Bisher tasten sie umher in<lb/>
einem Gewirr blendender Farben, flutender Töne, ohne die lösende Harmonie,<lb/>
&#x201E;die Stimme Amerikas" finden zu können. Walt Whitman, der Pionier,<lb/>
lauschte nach ihr im Odem der Wälder und Felstäler; doch was er klingen<lb/>
hörte, war nur eine einzelne Saite. Frank Norris, zu dem die weiten<lb/>
Weizenebenen wie die Häuserblocks von Chicago eine verstündliche Sprache<lb/>
redeten, würde dem Ziel vielleicht näher gekommen sein, wenn ihm nicht der<lb/>
Tod die Feder aus der Hand genommen hätte. Was ihm zu vollenden ver¬<lb/>
gönnt war, ist gleich dem Schaffen der andern eine Vorarbeit. Doch mag<lb/>
es sein, daß das Geistesleben Amerikas seinen Interpreten erst dann findet,<lb/>
wenn der Staatenbund zum Reich, das Völkergemisch zur Nation zusammen¬<lb/><note type="byline"> Beda prilipp</note> geschweißt ist. __<lb/>
-</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Vom thrakischen Meere<lb/><note type="byline"> von Carl Fredrich i</note><lb/>
7. Skyros</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2538" next="#ID_2539"> le Insel Skyros ist der Schauplatz zweier antiker Märchen, die man<lb/>
von der Schule her nicht leicht vergißt. Welcher Junge hörte nicht<lb/>
mit Entrüstung, wie der unmenschlich starke und gute König Theseus<lb/>
durch seinen Gastfreund, den König Lykomedes, den er in aller Freund¬<lb/>
schaft besucht, von der schwindelnden Höhe der Burg heimtückisch in<lb/>
das Meer gestürzt wird? Zu demselben König aber wird von einem<lb/>
fürsorglichen Vater der junge Achill gebracht, damit er in Weiberkleidern mit dessen<lb/>
Töchtern lebe und nicht in den münnermordenden Krieg gen Troja zu ziehen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0571] vom thrakischen Meere Wird getrübt, als Justine ihm bekennen muß, daß sie durch eine zu starke Morphiumdosis den Tod Kneph veranlaßt hat. wenngleich aus reinster Ab¬ sicht. Nach vorübergehender Entfremdung vereinigen sich beide wieder; aber sie tragen doch fortan die ganze Wucht der Verantwortung, die das Leben derer belastet, die, unzufrieden mit den Wegen des Schicksals, den „Göttern die Zügel aus der Hand genommen haben". Die hier herausgegriffnen Beispiele zeigen die Richtungen an, denen sich der psychologische Roman der Zukunft zuzuwenden scheint. Die Zeiten, wo sich der schaffende Künstler in eine Welt der Phantasmen einspinnen konnte, wie es seinerzeit Poe getan, sind vorüber. Das reale Leben fordert sein Recht auch von denen, die das aus innerm Erleben sich formende Menschen¬ schicksal für wichtiger halten als die Konflikte der Massen. Und noch ein bedeutsamer Umstand darf nicht übersehen werden: das ist die große Vor¬ liebe der modernen Autoren für solche Themen, die mit dem Denken und Fühlen der Gegenwart in unmittelbarem Kontakt stehn. Es ist, als glaubten sie in dieser engen Fühlung mit dem Aktuellen erHaschen zu können, was die führenden Geister Amerikas von Anbeginn gesucht haben: den charakteristischen Ausdruck der Wesensart der amerikanischen Kultur. Bisher tasten sie umher in einem Gewirr blendender Farben, flutender Töne, ohne die lösende Harmonie, „die Stimme Amerikas" finden zu können. Walt Whitman, der Pionier, lauschte nach ihr im Odem der Wälder und Felstäler; doch was er klingen hörte, war nur eine einzelne Saite. Frank Norris, zu dem die weiten Weizenebenen wie die Häuserblocks von Chicago eine verstündliche Sprache redeten, würde dem Ziel vielleicht näher gekommen sein, wenn ihm nicht der Tod die Feder aus der Hand genommen hätte. Was ihm zu vollenden ver¬ gönnt war, ist gleich dem Schaffen der andern eine Vorarbeit. Doch mag es sein, daß das Geistesleben Amerikas seinen Interpreten erst dann findet, wenn der Staatenbund zum Reich, das Völkergemisch zur Nation zusammen¬ Beda prilipp geschweißt ist. __ - Vom thrakischen Meere von Carl Fredrich i 7. Skyros le Insel Skyros ist der Schauplatz zweier antiker Märchen, die man von der Schule her nicht leicht vergißt. Welcher Junge hörte nicht mit Entrüstung, wie der unmenschlich starke und gute König Theseus durch seinen Gastfreund, den König Lykomedes, den er in aller Freund¬ schaft besucht, von der schwindelnden Höhe der Burg heimtückisch in das Meer gestürzt wird? Zu demselben König aber wird von einem fürsorglichen Vater der junge Achill gebracht, damit er in Weiberkleidern mit dessen Töchtern lebe und nicht in den münnermordenden Krieg gen Troja zu ziehen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/571
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/571>, abgerufen am 04.07.2024.