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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Aufgaben der Volksvertreter
von Rechtsanwalt or. Marivitz

l
e Geschichte aller Parteien zeigt, daß das stolze Bewußtsein,
Mitregierender zusein, die Pflicht, Volksvertreter zu sein,
bei den Abgeordneten erheblich überwiegt. Wer die Wirksamkeit
der Fraktionen nach den Verhandlungen und Beschlüssen der
Parteitage beurteilen wollte, würde sich ein Zerrbild schaffen, das
mit der wirklichen Geschichte kaum eine Ähnlichkeit aufwiese. Das gilt selbst
von der demokratischsten aller Parteien, der Sozialdemokratie. Mögen die
Beschlüsse der Parteitage noch so energisch die praktische Mitarbeit verwerfen:
die Erklärung des Radikalissimus Bebel über die Erbschaftssteuer auf der
Leipziger Tagung spricht Bände über den Wert solcher Beschlüsse -- ganz zu
schweigen von der Betätigung der sozialdemokratischen Abgeordneten in den
Ausschüssen und Kommissionen. Es würde zu weit führen, wollte man aus¬
einandersetzen, warum dem überall so sein muß, gleichgiltig, ob das parlamentarische
System herrscht oder nicht; es würde auch zu weit führen, hier zu untersuchen,
ob das Referendum, wie es zum Beispiel in der Schweiz besteht, eine wünschens¬
werte Neuerung in unserm Verfassungsleben sein könnte. Uns scheint, daß
nicht nur der Gallier rsruin ouxiäus gewesenist, und daß die Gesetz¬
gebung großer Reiche nicht von dem nur allzuhäufigen Wechsel der Volks¬
stimmung abhängig sein soll. Darum aber bleibt der Reichstag doch die
Vertretung des deutschen Volkes. Es ist notwendig, diesen selbstverständlichen
Satz wieder einmal auszusprechen. Denn ob der am 30. November 1909
zusammengetretne Reichstag noch als eine Volksvertretung im
tiefern Sinne anzusehen ist, ist mehr als zweifelhaft.

Zum erstenmal während der Regierungszeit unsers jetzigen Kaisers ist eine
Reichstagswahl unter einer klaren, unzweideutigen und die ganze Politik
beherrschenden Parole vor sich gegangen. Die konservativen wie die liberalen
Abgeordneten wurde auf denn Block eingeschworen. Tausende und Abertausende


Gren,boten IV 1909 56


Aufgaben der Volksvertreter
von Rechtsanwalt or. Marivitz

l
e Geschichte aller Parteien zeigt, daß das stolze Bewußtsein,
Mitregierender zusein, die Pflicht, Volksvertreter zu sein,
bei den Abgeordneten erheblich überwiegt. Wer die Wirksamkeit
der Fraktionen nach den Verhandlungen und Beschlüssen der
Parteitage beurteilen wollte, würde sich ein Zerrbild schaffen, das
mit der wirklichen Geschichte kaum eine Ähnlichkeit aufwiese. Das gilt selbst
von der demokratischsten aller Parteien, der Sozialdemokratie. Mögen die
Beschlüsse der Parteitage noch so energisch die praktische Mitarbeit verwerfen:
die Erklärung des Radikalissimus Bebel über die Erbschaftssteuer auf der
Leipziger Tagung spricht Bände über den Wert solcher Beschlüsse — ganz zu
schweigen von der Betätigung der sozialdemokratischen Abgeordneten in den
Ausschüssen und Kommissionen. Es würde zu weit führen, wollte man aus¬
einandersetzen, warum dem überall so sein muß, gleichgiltig, ob das parlamentarische
System herrscht oder nicht; es würde auch zu weit führen, hier zu untersuchen,
ob das Referendum, wie es zum Beispiel in der Schweiz besteht, eine wünschens¬
werte Neuerung in unserm Verfassungsleben sein könnte. Uns scheint, daß
nicht nur der Gallier rsruin ouxiäus gewesenist, und daß die Gesetz¬
gebung großer Reiche nicht von dem nur allzuhäufigen Wechsel der Volks¬
stimmung abhängig sein soll. Darum aber bleibt der Reichstag doch die
Vertretung des deutschen Volkes. Es ist notwendig, diesen selbstverständlichen
Satz wieder einmal auszusprechen. Denn ob der am 30. November 1909
zusammengetretne Reichstag noch als eine Volksvertretung im
tiefern Sinne anzusehen ist, ist mehr als zweifelhaft.

Zum erstenmal während der Regierungszeit unsers jetzigen Kaisers ist eine
Reichstagswahl unter einer klaren, unzweideutigen und die ganze Politik
beherrschenden Parole vor sich gegangen. Die konservativen wie die liberalen
Abgeordneten wurde auf denn Block eingeschworen. Tausende und Abertausende


Gren,boten IV 1909 56
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[0445] [Abbildung] Aufgaben der Volksvertreter von Rechtsanwalt or. Marivitz l e Geschichte aller Parteien zeigt, daß das stolze Bewußtsein, Mitregierender zusein, die Pflicht, Volksvertreter zu sein, bei den Abgeordneten erheblich überwiegt. Wer die Wirksamkeit der Fraktionen nach den Verhandlungen und Beschlüssen der Parteitage beurteilen wollte, würde sich ein Zerrbild schaffen, das mit der wirklichen Geschichte kaum eine Ähnlichkeit aufwiese. Das gilt selbst von der demokratischsten aller Parteien, der Sozialdemokratie. Mögen die Beschlüsse der Parteitage noch so energisch die praktische Mitarbeit verwerfen: die Erklärung des Radikalissimus Bebel über die Erbschaftssteuer auf der Leipziger Tagung spricht Bände über den Wert solcher Beschlüsse — ganz zu schweigen von der Betätigung der sozialdemokratischen Abgeordneten in den Ausschüssen und Kommissionen. Es würde zu weit führen, wollte man aus¬ einandersetzen, warum dem überall so sein muß, gleichgiltig, ob das parlamentarische System herrscht oder nicht; es würde auch zu weit führen, hier zu untersuchen, ob das Referendum, wie es zum Beispiel in der Schweiz besteht, eine wünschens¬ werte Neuerung in unserm Verfassungsleben sein könnte. Uns scheint, daß nicht nur der Gallier rsruin ouxiäus gewesenist, und daß die Gesetz¬ gebung großer Reiche nicht von dem nur allzuhäufigen Wechsel der Volks¬ stimmung abhängig sein soll. Darum aber bleibt der Reichstag doch die Vertretung des deutschen Volkes. Es ist notwendig, diesen selbstverständlichen Satz wieder einmal auszusprechen. Denn ob der am 30. November 1909 zusammengetretne Reichstag noch als eine Volksvertretung im tiefern Sinne anzusehen ist, ist mehr als zweifelhaft. Zum erstenmal während der Regierungszeit unsers jetzigen Kaisers ist eine Reichstagswahl unter einer klaren, unzweideutigen und die ganze Politik beherrschenden Parole vor sich gegangen. Die konservativen wie die liberalen Abgeordneten wurde auf denn Block eingeschworen. Tausende und Abertausende Gren,boten IV 1909 56

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/445>, abgerufen am 24.07.2024.