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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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literarische Rundschau

mählich und zumal dadurch, daß Schelling (in diesem Punkte kein Scholaste)
und A. W. Schlegel der blöden Mitwelt den Star stachen.

Auf keinem Gebiete ist wohl das Scholastentum noch so stark wie in
Philosophie und Ästhetik, vielleicht weil deren Vertreter bis dahin am weitesten
entfernt waren von der Naturwissenschaft, die heute jeden zwingt, seine Augen
aufzumachen, und in der eine bloß glänzende Phraseologie im geringsten An¬
sehen steht. Deshalb ist auch von dieser Seite her eine Errettung ans diesem
Zustande zu erhoffen. Aber ganz allgemein wirkt der Mangel an strenger
Selbstzucht, der liebe Schlendrian, das bequeme nachsprechen von andrer
Urteil, das mechanische Majorisieren in der Richtung des Scholastentums,
er ist der alte und neue, der nimmer sterbende Feind der wahren Wissen¬
schaftlichkeit.




tziterarische Rundschau
von Heinrich Spiero

ine überreiche Ernte hat in dem nun abgelaufnen Jahre der
l Tod unter den deutschen Dichtern gehalten. Neben den beiden
Ältermännern Rudolf von Gottschall und Heinrich von Reder,
neben dem auch schon ganz am Ende seiner literarischen Lauf¬
bahn stehenden Arthur Fitger sind uns eine Reihe von Per¬
sönlichkeiten entrissen worden, die wir noch lange nicht hätten missen mögen.
Schon der Tod der Freiin Frida von Bülow wog schwerer, war sie doch
die erste, die im gehaltvollen, ernsthaften Roman das Leben der deutschen
Kolonien mit einem starken Einschlag vaterländischer Leidenschaft dargestellt
hatte. Tiefer noch traf uns der unerwartete Hingang Ernsts von Wilden¬
bruch und im Sommer der des feinen, noch lange nicht genug geliebten und
gelesnen Hans Hoffmann. Aber die Klage um alle wurde noch übertönt
durch den lauten Schmerz, den der am 22. Juli erfolgte Tod Detlevs
von Liliencron auflöste. Unter einer Teilnahme, wie sie schwerlich schon
einem deutschen Dichter zuteil wurde, und die sich vom Kaiser und der
Kaiserin, dem Reichskanzler, dem Fürsten Bülow, dem Senat Hamburgs, dem
greisen Wilhelm Rande erstreckte bis hinab zu den Schulkindern der seinem
Dorfe Altrahlstedt benachbarten Gemeinden, wurde er an einem herrlichen
Sommertage zu Grabe getragen. Er war fünfundsechzig Jahre alt geworden,
hatte ein volles, reiches Lebenswerk gegeben und geschlossen, und dennoch
erschien allen seine Abberufung als zu früh, lebte er doch in aller Herzen als der
aufrechte, noch gar nicht gealterte, ungebeugte, vornehme, frische Mann auf
der Höhe seiner Kraft -- nur die wenigen, die ihn im letzten Jahre noch
gesehen hatten, wußten, daß nun doch Spuren des Alters auch bei ihm


literarische Rundschau

mählich und zumal dadurch, daß Schelling (in diesem Punkte kein Scholaste)
und A. W. Schlegel der blöden Mitwelt den Star stachen.

Auf keinem Gebiete ist wohl das Scholastentum noch so stark wie in
Philosophie und Ästhetik, vielleicht weil deren Vertreter bis dahin am weitesten
entfernt waren von der Naturwissenschaft, die heute jeden zwingt, seine Augen
aufzumachen, und in der eine bloß glänzende Phraseologie im geringsten An¬
sehen steht. Deshalb ist auch von dieser Seite her eine Errettung ans diesem
Zustande zu erhoffen. Aber ganz allgemein wirkt der Mangel an strenger
Selbstzucht, der liebe Schlendrian, das bequeme nachsprechen von andrer
Urteil, das mechanische Majorisieren in der Richtung des Scholastentums,
er ist der alte und neue, der nimmer sterbende Feind der wahren Wissen¬
schaftlichkeit.




tziterarische Rundschau
von Heinrich Spiero

ine überreiche Ernte hat in dem nun abgelaufnen Jahre der
l Tod unter den deutschen Dichtern gehalten. Neben den beiden
Ältermännern Rudolf von Gottschall und Heinrich von Reder,
neben dem auch schon ganz am Ende seiner literarischen Lauf¬
bahn stehenden Arthur Fitger sind uns eine Reihe von Per¬
sönlichkeiten entrissen worden, die wir noch lange nicht hätten missen mögen.
Schon der Tod der Freiin Frida von Bülow wog schwerer, war sie doch
die erste, die im gehaltvollen, ernsthaften Roman das Leben der deutschen
Kolonien mit einem starken Einschlag vaterländischer Leidenschaft dargestellt
hatte. Tiefer noch traf uns der unerwartete Hingang Ernsts von Wilden¬
bruch und im Sommer der des feinen, noch lange nicht genug geliebten und
gelesnen Hans Hoffmann. Aber die Klage um alle wurde noch übertönt
durch den lauten Schmerz, den der am 22. Juli erfolgte Tod Detlevs
von Liliencron auflöste. Unter einer Teilnahme, wie sie schwerlich schon
einem deutschen Dichter zuteil wurde, und die sich vom Kaiser und der
Kaiserin, dem Reichskanzler, dem Fürsten Bülow, dem Senat Hamburgs, dem
greisen Wilhelm Rande erstreckte bis hinab zu den Schulkindern der seinem
Dorfe Altrahlstedt benachbarten Gemeinden, wurde er an einem herrlichen
Sommertage zu Grabe getragen. Er war fünfundsechzig Jahre alt geworden,
hatte ein volles, reiches Lebenswerk gegeben und geschlossen, und dennoch
erschien allen seine Abberufung als zu früh, lebte er doch in aller Herzen als der
aufrechte, noch gar nicht gealterte, ungebeugte, vornehme, frische Mann auf
der Höhe seiner Kraft — nur die wenigen, die ihn im letzten Jahre noch
gesehen hatten, wußten, daß nun doch Spuren des Alters auch bei ihm


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[0268] literarische Rundschau mählich und zumal dadurch, daß Schelling (in diesem Punkte kein Scholaste) und A. W. Schlegel der blöden Mitwelt den Star stachen. Auf keinem Gebiete ist wohl das Scholastentum noch so stark wie in Philosophie und Ästhetik, vielleicht weil deren Vertreter bis dahin am weitesten entfernt waren von der Naturwissenschaft, die heute jeden zwingt, seine Augen aufzumachen, und in der eine bloß glänzende Phraseologie im geringsten An¬ sehen steht. Deshalb ist auch von dieser Seite her eine Errettung ans diesem Zustande zu erhoffen. Aber ganz allgemein wirkt der Mangel an strenger Selbstzucht, der liebe Schlendrian, das bequeme nachsprechen von andrer Urteil, das mechanische Majorisieren in der Richtung des Scholastentums, er ist der alte und neue, der nimmer sterbende Feind der wahren Wissen¬ schaftlichkeit. tziterarische Rundschau von Heinrich Spiero ine überreiche Ernte hat in dem nun abgelaufnen Jahre der l Tod unter den deutschen Dichtern gehalten. Neben den beiden Ältermännern Rudolf von Gottschall und Heinrich von Reder, neben dem auch schon ganz am Ende seiner literarischen Lauf¬ bahn stehenden Arthur Fitger sind uns eine Reihe von Per¬ sönlichkeiten entrissen worden, die wir noch lange nicht hätten missen mögen. Schon der Tod der Freiin Frida von Bülow wog schwerer, war sie doch die erste, die im gehaltvollen, ernsthaften Roman das Leben der deutschen Kolonien mit einem starken Einschlag vaterländischer Leidenschaft dargestellt hatte. Tiefer noch traf uns der unerwartete Hingang Ernsts von Wilden¬ bruch und im Sommer der des feinen, noch lange nicht genug geliebten und gelesnen Hans Hoffmann. Aber die Klage um alle wurde noch übertönt durch den lauten Schmerz, den der am 22. Juli erfolgte Tod Detlevs von Liliencron auflöste. Unter einer Teilnahme, wie sie schwerlich schon einem deutschen Dichter zuteil wurde, und die sich vom Kaiser und der Kaiserin, dem Reichskanzler, dem Fürsten Bülow, dem Senat Hamburgs, dem greisen Wilhelm Rande erstreckte bis hinab zu den Schulkindern der seinem Dorfe Altrahlstedt benachbarten Gemeinden, wurde er an einem herrlichen Sommertage zu Grabe getragen. Er war fünfundsechzig Jahre alt geworden, hatte ein volles, reiches Lebenswerk gegeben und geschlossen, und dennoch erschien allen seine Abberufung als zu früh, lebte er doch in aller Herzen als der aufrechte, noch gar nicht gealterte, ungebeugte, vornehme, frische Mann auf der Höhe seiner Kraft — nur die wenigen, die ihn im letzten Jahre noch gesehen hatten, wußten, daß nun doch Spuren des Alters auch bei ihm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/268>, abgerufen am 04.07.2024.