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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Der rote Hahn

Dabei ist Goethe ein Feind aller Gleichmacherei: jeder Mensch soll nach seinen
individuellen Fähigkeiten zur Arbeit für das Gemeinwohl erzogen werden, der eine
als Handwerker, der andre als Arbeiter im Reiche des Geistes; er ist ferner ein
Feind der romantischen, im Grunde egoistischen und weichlichen Selbstbespieglung.
Als jemand seinem Enkel Walther Jean Pauls manierierten und zärtlichen Aus¬
spruch ins Stammbuch geschrieben hatte: "Der Mensch hat drittehalb Minuten:
eine zu lächeln, eine zu seufzen und eine halbe zu lieben; denn mitten in dieser
Minute stirbt er", da schrieb der Großvater Goethe die männliche Zurechtweisung
dahinter: Ihm hat die Stunde,
Über tausend hat der Tag;
Söhnchen, werde dir die Kunde,
Was man alles leisten mag!

Ein menschlicher Ausgleich der beiden Männer, Goethe und Pestalozzi, hat
auch gegen das Ende ihres Lebens nicht stattgefunden. Die edelsten Seiten der
Persönlichkeit Pestalozzis, seine selbstlose, sich selbstaufopfernde Menschenfreundlich¬
keit, hat Goethe wegen der andern Seiten des Schweizers, die ihn abstießen,
nicht recht entdeckt. Als Pestalozzi 1827, bald vor seinem Tode, ein schweizerisches
Waisenhaus besuchte, überreichten ihm die Kinder einen Eichenkranz und sangen
dazu das Goethische Lied, das Pestalozzi in "Lienhard und Gertrud" die Mutter
mit den Kindern singen läßt:


Der du von dem Himmel bist.

"Da erstickten, so erzählt uns Pestalozzis Biograph Blochmann, Tränen die
Stimme des Greises." Er mochte wohl wehmütig daran denken, daß er gerade die
Allerkennung seines größten Zeitgenossen nicht hatte erringen können.




Der rote Hahn
von palle Rosenkrantz. Deutsch von Ida Anders
(Fortsetzung)
Zwölftes Aapitel. Ingers Geburtstag

ustesen war berittner Gendarm, und deshalb hatte er ein Einspänner¬
fuhrwerk. Ein alterer martialischer Jägermeister im Gemeinderat
hatte wiederholt vorgeschlagen, daß die Gendarmen des Kreises reiten
sollten, da sie ja doch beritten wären. Aber dies scheiterte an dem
Widerstande der Gerichtsbeamten und des Amtmanns. An und für
sich war es ja sehr richtig, aber, wandten die Sachverständigen ein,
wie sollten die Polizeibeamten es anstellen, Verbrecher zu transportieren, wenn sie
keinen Wagen hätten, auf den sie sie setzen könnten.

Justesen hätte auch nicht reiten können; kein Pferd würde seine 250 Pfund
getragen haben, und wenn er von seinen Patronillentouren heimkam, war er auch


Grenzboten III 1909 73
Der rote Hahn

Dabei ist Goethe ein Feind aller Gleichmacherei: jeder Mensch soll nach seinen
individuellen Fähigkeiten zur Arbeit für das Gemeinwohl erzogen werden, der eine
als Handwerker, der andre als Arbeiter im Reiche des Geistes; er ist ferner ein
Feind der romantischen, im Grunde egoistischen und weichlichen Selbstbespieglung.
Als jemand seinem Enkel Walther Jean Pauls manierierten und zärtlichen Aus¬
spruch ins Stammbuch geschrieben hatte: „Der Mensch hat drittehalb Minuten:
eine zu lächeln, eine zu seufzen und eine halbe zu lieben; denn mitten in dieser
Minute stirbt er", da schrieb der Großvater Goethe die männliche Zurechtweisung
dahinter: Ihm hat die Stunde,
Über tausend hat der Tag;
Söhnchen, werde dir die Kunde,
Was man alles leisten mag!

Ein menschlicher Ausgleich der beiden Männer, Goethe und Pestalozzi, hat
auch gegen das Ende ihres Lebens nicht stattgefunden. Die edelsten Seiten der
Persönlichkeit Pestalozzis, seine selbstlose, sich selbstaufopfernde Menschenfreundlich¬
keit, hat Goethe wegen der andern Seiten des Schweizers, die ihn abstießen,
nicht recht entdeckt. Als Pestalozzi 1827, bald vor seinem Tode, ein schweizerisches
Waisenhaus besuchte, überreichten ihm die Kinder einen Eichenkranz und sangen
dazu das Goethische Lied, das Pestalozzi in „Lienhard und Gertrud" die Mutter
mit den Kindern singen läßt:


Der du von dem Himmel bist.

„Da erstickten, so erzählt uns Pestalozzis Biograph Blochmann, Tränen die
Stimme des Greises." Er mochte wohl wehmütig daran denken, daß er gerade die
Allerkennung seines größten Zeitgenossen nicht hatte erringen können.




Der rote Hahn
von palle Rosenkrantz. Deutsch von Ida Anders
(Fortsetzung)
Zwölftes Aapitel. Ingers Geburtstag

ustesen war berittner Gendarm, und deshalb hatte er ein Einspänner¬
fuhrwerk. Ein alterer martialischer Jägermeister im Gemeinderat
hatte wiederholt vorgeschlagen, daß die Gendarmen des Kreises reiten
sollten, da sie ja doch beritten wären. Aber dies scheiterte an dem
Widerstande der Gerichtsbeamten und des Amtmanns. An und für
sich war es ja sehr richtig, aber, wandten die Sachverständigen ein,
wie sollten die Polizeibeamten es anstellen, Verbrecher zu transportieren, wenn sie
keinen Wagen hätten, auf den sie sie setzen könnten.

Justesen hätte auch nicht reiten können; kein Pferd würde seine 250 Pfund
getragen haben, und wenn er von seinen Patronillentouren heimkam, war er auch


Grenzboten III 1909 73
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[0575] Der rote Hahn Dabei ist Goethe ein Feind aller Gleichmacherei: jeder Mensch soll nach seinen individuellen Fähigkeiten zur Arbeit für das Gemeinwohl erzogen werden, der eine als Handwerker, der andre als Arbeiter im Reiche des Geistes; er ist ferner ein Feind der romantischen, im Grunde egoistischen und weichlichen Selbstbespieglung. Als jemand seinem Enkel Walther Jean Pauls manierierten und zärtlichen Aus¬ spruch ins Stammbuch geschrieben hatte: „Der Mensch hat drittehalb Minuten: eine zu lächeln, eine zu seufzen und eine halbe zu lieben; denn mitten in dieser Minute stirbt er", da schrieb der Großvater Goethe die männliche Zurechtweisung dahinter: Ihm hat die Stunde, Über tausend hat der Tag; Söhnchen, werde dir die Kunde, Was man alles leisten mag! Ein menschlicher Ausgleich der beiden Männer, Goethe und Pestalozzi, hat auch gegen das Ende ihres Lebens nicht stattgefunden. Die edelsten Seiten der Persönlichkeit Pestalozzis, seine selbstlose, sich selbstaufopfernde Menschenfreundlich¬ keit, hat Goethe wegen der andern Seiten des Schweizers, die ihn abstießen, nicht recht entdeckt. Als Pestalozzi 1827, bald vor seinem Tode, ein schweizerisches Waisenhaus besuchte, überreichten ihm die Kinder einen Eichenkranz und sangen dazu das Goethische Lied, das Pestalozzi in „Lienhard und Gertrud" die Mutter mit den Kindern singen läßt: Der du von dem Himmel bist. „Da erstickten, so erzählt uns Pestalozzis Biograph Blochmann, Tränen die Stimme des Greises." Er mochte wohl wehmütig daran denken, daß er gerade die Allerkennung seines größten Zeitgenossen nicht hatte erringen können. Der rote Hahn von palle Rosenkrantz. Deutsch von Ida Anders (Fortsetzung) Zwölftes Aapitel. Ingers Geburtstag ustesen war berittner Gendarm, und deshalb hatte er ein Einspänner¬ fuhrwerk. Ein alterer martialischer Jägermeister im Gemeinderat hatte wiederholt vorgeschlagen, daß die Gendarmen des Kreises reiten sollten, da sie ja doch beritten wären. Aber dies scheiterte an dem Widerstande der Gerichtsbeamten und des Amtmanns. An und für sich war es ja sehr richtig, aber, wandten die Sachverständigen ein, wie sollten die Polizeibeamten es anstellen, Verbrecher zu transportieren, wenn sie keinen Wagen hätten, auf den sie sie setzen könnten. Justesen hätte auch nicht reiten können; kein Pferd würde seine 250 Pfund getragen haben, und wenn er von seinen Patronillentouren heimkam, war er auch Grenzboten III 1909 73

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/575>, abgerufen am 21.12.2024.