Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches das Genie läßt sich am wenigsten biologisch erklären, z. B. der Klaviervirtuose. Veränderungen an der Schleswig-holsteinischen Nordseeküste. Unsre Maßgebliches und Unmaßgebliches das Genie läßt sich am wenigsten biologisch erklären, z. B. der Klaviervirtuose. Veränderungen an der Schleswig-holsteinischen Nordseeküste. Unsre <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0444" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314147"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2166" prev="#ID_2165"> das Genie läßt sich am wenigsten biologisch erklären, z. B. der Klaviervirtuose.<lb/> Die Fähigkeit, blitzschnell Noten zu lesen, gleichzeitig blitzschnell mit jedem Finger<lb/> im richtigen Moment die richtige Taste zu treffen, jeden falschen Ton zu hören,<lb/> gehörige Länge, Beweglichkeit und Stärke der Finger, endlich die vollkommne<lb/> Ausbildung der Nervenbahnen, die den Sehnerv, den Homero und die motorischen<lb/> Nerven der Finger miteinander verbinden, das alles läßt sich als ein Produkt<lb/> von Vererbung und Blutmischung ganz gut denken. Aber auch das Gemüt des<lb/> großen Komponisten, dessen Tonkombinationen zum Herzen sprechen? Dasselbe gilt<lb/> vom Kehlkopf der Sängerin und von ihrer Seele, wenn sie eine hat, sie in die<lb/> Töne hineinzulegen. Und nun gar die Gedanken, die dem Dichter zuströmen, die<lb/> epochemachenden Inspirationen des wissenschaftlichen Genies, bei denen hört jede<lb/> Möglichkeit einer materialistischen Erklärung auf. Es hieße den Tatsachen ins<lb/> Gesicht schlagen, wollte man leugnen, daß Geistesanlagen und Charakter in weitem<lb/> Umfange durch Vererbung und Blutmischung bestimmt werden, aber deren bloßes<lb/> Produkt können sie nicht sein. Darum ist der in Reibmayrs Buch unzähligemal<lb/> vorkommende häßliche Ausdruck „Züchtung" nicht bloß anstößig, sondern auch<lb/> wissenschaftlich unhaltbar. Wo es bloß auf Körperbeschaffenheit ankommt, da ist<lb/> Züchtung beim Menschen so möglich wie beim Pferde, und sie ist von nordamerika¬<lb/> nischen Pflanzern mit ihren Negern tatsächlich geübt worden. Aber für den Voll¬<lb/> menschen ist die Verehelichung eine Sache des Gemüts, des ästhetischen Geschmacks<lb/> und der wirtschaftlichen Überlegung, und jede Staatsgewalt, die sich in einem<lb/> Kulturvolke auf Menschenzüchtung verlegen wollte, würde an dem entrüsteten<lb/> Widerstande des Volkes zerbrechen. Daß dem edeln Menschen die Verbindung<lb/> mit einer unedeln Person widerstrebt, dafür hat schon die Natur gesorgt, und es<lb/> dürfte verhältnismäßig nur wenige Weiße geben, die so roh sind, daß ihnen der<lb/> geschlechtliche Verkehr mit Farbigen nicht widerwärtig wäre; auch die Abneigung<lb/> gegen nicht standesgemäße Ehebündnisse ist ganz allgemein. Will jemand das<lb/> „Züchtung" nennen, so kann mans ihm nicht verwehren; aber der Ausdruck ist<lb/> irreführend, weil Züchtung einen bewußten Züchter voraussetzt oder wenigstens<lb/> die Vorstellung eines solchen erweckt. Den Biologen muß man ja dankbar dafür<lb/> sein, daß sie die Pflicht einschärfen, bei der Gattenwahl vor allem an die Erzielung<lb/> einer gesunden Nachkommenschaft zu denken, und daß sie fordern, Ehebündnisse<lb/> zwischen kranken und verbrecherischen Personen sollten durch gesetzliche Maßregeln<lb/> verhindert werden. Aber der Engländer Gallon, der in diese Bestrebungen<lb/> Methode bringt, hat dafür das schönere Wort Nationaleugenik geprägt. Man<lb/> kann sich darüber unterrichten aus einem im Oxforder Junior Scientific Club<lb/> vom Professur Karl Pearson gehaltnen Vortrage „Über Zweck und Bedeutung<lb/> einer nationalen Rassenhygiene". (Deutsch bei B. G. Teubner in Leipzig. So<lb/> steht auf dem Umschlage; auf dem Titelblatt dagegen: München 1908 Verlag<lb/><note type="byline"> ,L. I-</note> der Archivgesellschaft.) </p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Veränderungen an der Schleswig-holsteinischen Nordseeküste. </head> <p xml:id="ID_2167" next="#ID_2168"> Unsre<lb/> Leser werden sich des Artikels „Landgewinnung in der Nordsee" entsinnen, der,<lb/> in Heft 42 des vorigen Jahrgangs der Grenzboten veröffentlicht, eine Über¬<lb/> sicht über die durch die unablässige Tätigkeit des Meeres hervorgerufnen, zum<lb/> Teil außerordentlich großen und für die Bevölkerung des Strandgebiets und der<lb/> Inseln verhängnisvollen Veränderungen an den deutschen Nordseeküsten, besonders<lb/> an der Schleswig-holsteinischen, und im nordfriesischen Archipel bot und zugleich<lb/> über die bisherigen Resultate und die weitern Aussichten der zum Schutze der ge¬<lb/> fährdeten Gebiete und zur Gewinnung neuen Landes unternommnen Arbeiten be¬<lb/> richtete. Bei der Bedeutung dieser Dinge nicht nur für die dabei zunächst inter¬<lb/> essierten Teile der preußischen Monarchie, sondern auch für das ganze Reich, ja<lb/> für die gesamte Kulturwelt, haben wir vor einigen Wochen eine Reise nach der</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0444]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
das Genie läßt sich am wenigsten biologisch erklären, z. B. der Klaviervirtuose.
Die Fähigkeit, blitzschnell Noten zu lesen, gleichzeitig blitzschnell mit jedem Finger
im richtigen Moment die richtige Taste zu treffen, jeden falschen Ton zu hören,
gehörige Länge, Beweglichkeit und Stärke der Finger, endlich die vollkommne
Ausbildung der Nervenbahnen, die den Sehnerv, den Homero und die motorischen
Nerven der Finger miteinander verbinden, das alles läßt sich als ein Produkt
von Vererbung und Blutmischung ganz gut denken. Aber auch das Gemüt des
großen Komponisten, dessen Tonkombinationen zum Herzen sprechen? Dasselbe gilt
vom Kehlkopf der Sängerin und von ihrer Seele, wenn sie eine hat, sie in die
Töne hineinzulegen. Und nun gar die Gedanken, die dem Dichter zuströmen, die
epochemachenden Inspirationen des wissenschaftlichen Genies, bei denen hört jede
Möglichkeit einer materialistischen Erklärung auf. Es hieße den Tatsachen ins
Gesicht schlagen, wollte man leugnen, daß Geistesanlagen und Charakter in weitem
Umfange durch Vererbung und Blutmischung bestimmt werden, aber deren bloßes
Produkt können sie nicht sein. Darum ist der in Reibmayrs Buch unzähligemal
vorkommende häßliche Ausdruck „Züchtung" nicht bloß anstößig, sondern auch
wissenschaftlich unhaltbar. Wo es bloß auf Körperbeschaffenheit ankommt, da ist
Züchtung beim Menschen so möglich wie beim Pferde, und sie ist von nordamerika¬
nischen Pflanzern mit ihren Negern tatsächlich geübt worden. Aber für den Voll¬
menschen ist die Verehelichung eine Sache des Gemüts, des ästhetischen Geschmacks
und der wirtschaftlichen Überlegung, und jede Staatsgewalt, die sich in einem
Kulturvolke auf Menschenzüchtung verlegen wollte, würde an dem entrüsteten
Widerstande des Volkes zerbrechen. Daß dem edeln Menschen die Verbindung
mit einer unedeln Person widerstrebt, dafür hat schon die Natur gesorgt, und es
dürfte verhältnismäßig nur wenige Weiße geben, die so roh sind, daß ihnen der
geschlechtliche Verkehr mit Farbigen nicht widerwärtig wäre; auch die Abneigung
gegen nicht standesgemäße Ehebündnisse ist ganz allgemein. Will jemand das
„Züchtung" nennen, so kann mans ihm nicht verwehren; aber der Ausdruck ist
irreführend, weil Züchtung einen bewußten Züchter voraussetzt oder wenigstens
die Vorstellung eines solchen erweckt. Den Biologen muß man ja dankbar dafür
sein, daß sie die Pflicht einschärfen, bei der Gattenwahl vor allem an die Erzielung
einer gesunden Nachkommenschaft zu denken, und daß sie fordern, Ehebündnisse
zwischen kranken und verbrecherischen Personen sollten durch gesetzliche Maßregeln
verhindert werden. Aber der Engländer Gallon, der in diese Bestrebungen
Methode bringt, hat dafür das schönere Wort Nationaleugenik geprägt. Man
kann sich darüber unterrichten aus einem im Oxforder Junior Scientific Club
vom Professur Karl Pearson gehaltnen Vortrage „Über Zweck und Bedeutung
einer nationalen Rassenhygiene". (Deutsch bei B. G. Teubner in Leipzig. So
steht auf dem Umschlage; auf dem Titelblatt dagegen: München 1908 Verlag
,L. I- der Archivgesellschaft.)
Veränderungen an der Schleswig-holsteinischen Nordseeküste. Unsre
Leser werden sich des Artikels „Landgewinnung in der Nordsee" entsinnen, der,
in Heft 42 des vorigen Jahrgangs der Grenzboten veröffentlicht, eine Über¬
sicht über die durch die unablässige Tätigkeit des Meeres hervorgerufnen, zum
Teil außerordentlich großen und für die Bevölkerung des Strandgebiets und der
Inseln verhängnisvollen Veränderungen an den deutschen Nordseeküsten, besonders
an der Schleswig-holsteinischen, und im nordfriesischen Archipel bot und zugleich
über die bisherigen Resultate und die weitern Aussichten der zum Schutze der ge¬
fährdeten Gebiete und zur Gewinnung neuen Landes unternommnen Arbeiten be¬
richtete. Bei der Bedeutung dieser Dinge nicht nur für die dabei zunächst inter¬
essierten Teile der preußischen Monarchie, sondern auch für das ganze Reich, ja
für die gesamte Kulturwelt, haben wir vor einigen Wochen eine Reise nach der
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