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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Frauenbriefe und Frauenbildung

Charakteristiken aus als die ersten beiden. Als Forscherverdienst nimmt Ferrero
für sich in Anspruch die Entwirrung der Verwirrung, die zu Rom in den
drei Tagen nach der Ermordung Cäsars herrschte, und die in die Ge¬
schichtschreibung übergegangen ist. In der Erzählung der Leichenfeier folgt
er dem Sueton und verweist damit die große Rede des Antonius, die
Shakespeare so effektvoll gestaltet hat, ins Reich der Legende.


Carl Ientsch


Frauenbriefe und Frauenbildung

le
K?5>s gibt eine hübsche und speziell den Frauen angemeßne Kunst,
die wir heute trotz der Tage der Frauenfragen so gut wie ver¬
loren haben: die Kunst des Briefeschreibens! Diese Kunst, die
zur Zeit unsrer Urgroßmutter eine so vielgeübte und vielbeliebte
I war, uns wieder mehr zu eigen zu machen, wäre wohl der
Mühe wert. Nicht, als ob zu wenig Briefe geschrieben würden! Vom
Gegenteil überzeugen die immer zunehmenden Arbeiten (und Einnahmen) unsrer
PostVerwaltung. Aber die Qualität der beförderten Schriftstücke steht nicht
im Einklang mit ihrer Quantität. Wir empfinden es durchschnittlich als Last,
Briefe schreiben zu müssen; wo ist wohl jemand, der aus Liebhaberei über
literarische, politische, religiöse Zeitfragen korrespondierte? Man beschränkt sich
vielmehr zumeist auf sogenannte Familienbriefe, d. h. Mitteilungen über das
Ergehen der einzelnen Familienmitglieder, wünscht sich an den dazu her¬
gebrachten Tagen Glück und Gesundheit, und im übrigen dienen die bequemen
und deswegen so beliebten Ansichtspostkarten als Träger und Erhalter freund¬
schaftlicher Beziehungen.

Wie ganz anders verkehrten dagegen unsre Vorfahren brieflich miteinander!
Wenn wir heute so sehr für die Biedermeierzeit schwärmen und unserm Haus¬
gerät gern jenen altväterischen Anstrich geben, so täten wir ganz gut, auch in
dieseni Punkte ein wenig in ihre Fußtapfen zu treten. Wir wundern uns,
wenn wir einen dicken Band in die Hand bekommen, der nur die wichtigsten
Briefe einer Frau enthält; wir lächeln über die sentimentalen Gefühlsergüsse,
die in jener Zeit nun einmal nicht fehlen konnten; aber wir staunen auch in
aufrichtiger Bewunderung über manchen geistvollen Brief, der in klarer Sprache
kluge und wohlbegründete Urteile über allerhand Zeitfragen gibt. Heute würde
sich jede, aber auch jede Dame zur Schriftstellerin berufen fühlen, die so zu
schreiben verstünde; damals wurden Bünde über Bünde solcher Briefe ge¬
schrieben, nur aus dem Bedürfnis freundschaftlicher Aussprache heraus. Woran
liegt es denn, daß dieses Bedürfnis und damit auch jene Kunst uns so sehr
verloren gegangen ist?


Frauenbriefe und Frauenbildung

Charakteristiken aus als die ersten beiden. Als Forscherverdienst nimmt Ferrero
für sich in Anspruch die Entwirrung der Verwirrung, die zu Rom in den
drei Tagen nach der Ermordung Cäsars herrschte, und die in die Ge¬
schichtschreibung übergegangen ist. In der Erzählung der Leichenfeier folgt
er dem Sueton und verweist damit die große Rede des Antonius, die
Shakespeare so effektvoll gestaltet hat, ins Reich der Legende.


Carl Ientsch


Frauenbriefe und Frauenbildung

le
K?5>s gibt eine hübsche und speziell den Frauen angemeßne Kunst,
die wir heute trotz der Tage der Frauenfragen so gut wie ver¬
loren haben: die Kunst des Briefeschreibens! Diese Kunst, die
zur Zeit unsrer Urgroßmutter eine so vielgeübte und vielbeliebte
I war, uns wieder mehr zu eigen zu machen, wäre wohl der
Mühe wert. Nicht, als ob zu wenig Briefe geschrieben würden! Vom
Gegenteil überzeugen die immer zunehmenden Arbeiten (und Einnahmen) unsrer
PostVerwaltung. Aber die Qualität der beförderten Schriftstücke steht nicht
im Einklang mit ihrer Quantität. Wir empfinden es durchschnittlich als Last,
Briefe schreiben zu müssen; wo ist wohl jemand, der aus Liebhaberei über
literarische, politische, religiöse Zeitfragen korrespondierte? Man beschränkt sich
vielmehr zumeist auf sogenannte Familienbriefe, d. h. Mitteilungen über das
Ergehen der einzelnen Familienmitglieder, wünscht sich an den dazu her¬
gebrachten Tagen Glück und Gesundheit, und im übrigen dienen die bequemen
und deswegen so beliebten Ansichtspostkarten als Träger und Erhalter freund¬
schaftlicher Beziehungen.

Wie ganz anders verkehrten dagegen unsre Vorfahren brieflich miteinander!
Wenn wir heute so sehr für die Biedermeierzeit schwärmen und unserm Haus¬
gerät gern jenen altväterischen Anstrich geben, so täten wir ganz gut, auch in
dieseni Punkte ein wenig in ihre Fußtapfen zu treten. Wir wundern uns,
wenn wir einen dicken Band in die Hand bekommen, der nur die wichtigsten
Briefe einer Frau enthält; wir lächeln über die sentimentalen Gefühlsergüsse,
die in jener Zeit nun einmal nicht fehlen konnten; aber wir staunen auch in
aufrichtiger Bewunderung über manchen geistvollen Brief, der in klarer Sprache
kluge und wohlbegründete Urteile über allerhand Zeitfragen gibt. Heute würde
sich jede, aber auch jede Dame zur Schriftstellerin berufen fühlen, die so zu
schreiben verstünde; damals wurden Bünde über Bünde solcher Briefe ge¬
schrieben, nur aus dem Bedürfnis freundschaftlicher Aussprache heraus. Woran
liegt es denn, daß dieses Bedürfnis und damit auch jene Kunst uns so sehr
verloren gegangen ist?


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[0456] Frauenbriefe und Frauenbildung Charakteristiken aus als die ersten beiden. Als Forscherverdienst nimmt Ferrero für sich in Anspruch die Entwirrung der Verwirrung, die zu Rom in den drei Tagen nach der Ermordung Cäsars herrschte, und die in die Ge¬ schichtschreibung übergegangen ist. In der Erzählung der Leichenfeier folgt er dem Sueton und verweist damit die große Rede des Antonius, die Shakespeare so effektvoll gestaltet hat, ins Reich der Legende. Carl Ientsch Frauenbriefe und Frauenbildung le K?5>s gibt eine hübsche und speziell den Frauen angemeßne Kunst, die wir heute trotz der Tage der Frauenfragen so gut wie ver¬ loren haben: die Kunst des Briefeschreibens! Diese Kunst, die zur Zeit unsrer Urgroßmutter eine so vielgeübte und vielbeliebte I war, uns wieder mehr zu eigen zu machen, wäre wohl der Mühe wert. Nicht, als ob zu wenig Briefe geschrieben würden! Vom Gegenteil überzeugen die immer zunehmenden Arbeiten (und Einnahmen) unsrer PostVerwaltung. Aber die Qualität der beförderten Schriftstücke steht nicht im Einklang mit ihrer Quantität. Wir empfinden es durchschnittlich als Last, Briefe schreiben zu müssen; wo ist wohl jemand, der aus Liebhaberei über literarische, politische, religiöse Zeitfragen korrespondierte? Man beschränkt sich vielmehr zumeist auf sogenannte Familienbriefe, d. h. Mitteilungen über das Ergehen der einzelnen Familienmitglieder, wünscht sich an den dazu her¬ gebrachten Tagen Glück und Gesundheit, und im übrigen dienen die bequemen und deswegen so beliebten Ansichtspostkarten als Träger und Erhalter freund¬ schaftlicher Beziehungen. Wie ganz anders verkehrten dagegen unsre Vorfahren brieflich miteinander! Wenn wir heute so sehr für die Biedermeierzeit schwärmen und unserm Haus¬ gerät gern jenen altväterischen Anstrich geben, so täten wir ganz gut, auch in dieseni Punkte ein wenig in ihre Fußtapfen zu treten. Wir wundern uns, wenn wir einen dicken Band in die Hand bekommen, der nur die wichtigsten Briefe einer Frau enthält; wir lächeln über die sentimentalen Gefühlsergüsse, die in jener Zeit nun einmal nicht fehlen konnten; aber wir staunen auch in aufrichtiger Bewunderung über manchen geistvollen Brief, der in klarer Sprache kluge und wohlbegründete Urteile über allerhand Zeitfragen gibt. Heute würde sich jede, aber auch jede Dame zur Schriftstellerin berufen fühlen, die so zu schreiben verstünde; damals wurden Bünde über Bünde solcher Briefe ge¬ schrieben, nur aus dem Bedürfnis freundschaftlicher Aussprache heraus. Woran liegt es denn, daß dieses Bedürfnis und damit auch jene Kunst uns so sehr verloren gegangen ist?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/456>, abgerufen am 22.07.2024.