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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Deutsch-slawische Beziehungen

Lelewels ist es zuzuschreiben, daß die polnische Demokratie nicht vorwiegend
die anarchistischen Züge angenommen hat, die die russische trägt, daß sie viel¬
mehr nach Überwindung der Krise von 1863 in ihren wichtigsten Bestand¬
teilen jene nationale Färbung erhalten hat, die die englische Demokratie kenn¬
zeichnet. Die Polen haben tiefer wurzelndes nationales Bewußtsein als wir,
denn bei ihnen sind auch die Sozialdemokraten national.




Die politische Entwicklung d

er Slawen ist nicht ganz in derselben
Richtung gegangen wie ihre wirtschaftliche und kulturelle. Relativ und äußerlich
am weitesten sind in politischer Hinsicht die Südslawen und unter ihnen die Bul¬
garen gekommen. Im Jahre 1879 durch Rußland vom Türkenjoch befreit, kam
Bulgarien nach mancherlei Fährnissen unter die Herrschaft eines weisen und ener¬
gischen Fürsten, des Prinzen Ferdinand von Koburg-Gotha. Dieser deutsche
Fürst hat nach unsäglichen Schwierigkeiten auf allen Gebieten des Volkslebens und
unter den gehässigsten Anfeindungen seinem Lande eine Verfassung gegeben, die,
von ihm mit Besonnenheit gehandhabt, eine gesunde Entwicklung des Landes
erwarten läßt. Als er sich den Frieden im Innern erzwungen hatte, brach
er im Einverständnis mit der Nation sein Vasallenverhültnis zur Türkei und
erhob vor wenigen Wochen sein Land zum unabhängigen Zartum.

Wie Serbien sich weiter entwickelt, müssen die nächsten Monate zeigen;
uach seiner jüngsten Vergangenheit beurteilt, scheint uns das serbische Volk
ein fauler Stamm.

Die Ostslawen (Moskowiter) haben durch die Einführung der Reichsduma
nur teilweise, nämlich ausschließlich als eine der Nationalitäten russischer
Untertanenschaft, also als russische Staatsbürger gewonnen, nicht aber als
Moskowiter. Durch die Volksvertretung haben hauptsächlich die energischen
nichtrussischen Volksstämme gewonnen, die bis zum Jahre 1905 mit Gewalt
und Ausnahmegesetzen unterdrückt wurden: die Armenier, Tataren, Juden,
Polen, Letten, Ehlen und Kleinrussen. Durch den Glaubenserlaß vom
17. April 1905 ist der orthodoxen Kirche ein scharfes Instrument gegen die
Sektierer und den kriegerischen Katholizismus entwunden, und die Zeit muß
erst lehren, ob die Staatskirche tatsächlich so viel moralische Kraft in sich hat,
daß sie die Abtrünnigen an sich fesseln kann ohne eine ihr Wesen völlig ver¬
ändernde Reformation an Haupt und Gliedern. Der Moskowiter ist nur im¬
stande, durch Passivität seine Rechte wahrzunehmen; darum braucht er auch
keine Volksvertretung, in der er selbst für sein Wohlbefinden zu kämpfen hätte.
Infolgedessen ist aber auch die vorhandne russische Volksvertretung vor allen
Dingen ein gutes Instrument in den Händen der Fremdvölker, der Polen,
Juden und Armenier gegen das Moskowitertum. Die Deutschen sind leider
zu wenig zahlreich und ebenfalls zu passiv, als daß sie in dieser Volksver¬
tretung eine nennenswerte Rolle spielen könnten. Die russische Regierung hat


Deutsch-slawische Beziehungen

Lelewels ist es zuzuschreiben, daß die polnische Demokratie nicht vorwiegend
die anarchistischen Züge angenommen hat, die die russische trägt, daß sie viel¬
mehr nach Überwindung der Krise von 1863 in ihren wichtigsten Bestand¬
teilen jene nationale Färbung erhalten hat, die die englische Demokratie kenn¬
zeichnet. Die Polen haben tiefer wurzelndes nationales Bewußtsein als wir,
denn bei ihnen sind auch die Sozialdemokraten national.




Die politische Entwicklung d

er Slawen ist nicht ganz in derselben
Richtung gegangen wie ihre wirtschaftliche und kulturelle. Relativ und äußerlich
am weitesten sind in politischer Hinsicht die Südslawen und unter ihnen die Bul¬
garen gekommen. Im Jahre 1879 durch Rußland vom Türkenjoch befreit, kam
Bulgarien nach mancherlei Fährnissen unter die Herrschaft eines weisen und ener¬
gischen Fürsten, des Prinzen Ferdinand von Koburg-Gotha. Dieser deutsche
Fürst hat nach unsäglichen Schwierigkeiten auf allen Gebieten des Volkslebens und
unter den gehässigsten Anfeindungen seinem Lande eine Verfassung gegeben, die,
von ihm mit Besonnenheit gehandhabt, eine gesunde Entwicklung des Landes
erwarten läßt. Als er sich den Frieden im Innern erzwungen hatte, brach
er im Einverständnis mit der Nation sein Vasallenverhültnis zur Türkei und
erhob vor wenigen Wochen sein Land zum unabhängigen Zartum.

Wie Serbien sich weiter entwickelt, müssen die nächsten Monate zeigen;
uach seiner jüngsten Vergangenheit beurteilt, scheint uns das serbische Volk
ein fauler Stamm.

Die Ostslawen (Moskowiter) haben durch die Einführung der Reichsduma
nur teilweise, nämlich ausschließlich als eine der Nationalitäten russischer
Untertanenschaft, also als russische Staatsbürger gewonnen, nicht aber als
Moskowiter. Durch die Volksvertretung haben hauptsächlich die energischen
nichtrussischen Volksstämme gewonnen, die bis zum Jahre 1905 mit Gewalt
und Ausnahmegesetzen unterdrückt wurden: die Armenier, Tataren, Juden,
Polen, Letten, Ehlen und Kleinrussen. Durch den Glaubenserlaß vom
17. April 1905 ist der orthodoxen Kirche ein scharfes Instrument gegen die
Sektierer und den kriegerischen Katholizismus entwunden, und die Zeit muß
erst lehren, ob die Staatskirche tatsächlich so viel moralische Kraft in sich hat,
daß sie die Abtrünnigen an sich fesseln kann ohne eine ihr Wesen völlig ver¬
ändernde Reformation an Haupt und Gliedern. Der Moskowiter ist nur im¬
stande, durch Passivität seine Rechte wahrzunehmen; darum braucht er auch
keine Volksvertretung, in der er selbst für sein Wohlbefinden zu kämpfen hätte.
Infolgedessen ist aber auch die vorhandne russische Volksvertretung vor allen
Dingen ein gutes Instrument in den Händen der Fremdvölker, der Polen,
Juden und Armenier gegen das Moskowitertum. Die Deutschen sind leider
zu wenig zahlreich und ebenfalls zu passiv, als daß sie in dieser Volksver¬
tretung eine nennenswerte Rolle spielen könnten. Die russische Regierung hat


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[0019] Deutsch-slawische Beziehungen Lelewels ist es zuzuschreiben, daß die polnische Demokratie nicht vorwiegend die anarchistischen Züge angenommen hat, die die russische trägt, daß sie viel¬ mehr nach Überwindung der Krise von 1863 in ihren wichtigsten Bestand¬ teilen jene nationale Färbung erhalten hat, die die englische Demokratie kenn¬ zeichnet. Die Polen haben tiefer wurzelndes nationales Bewußtsein als wir, denn bei ihnen sind auch die Sozialdemokraten national. Die politische Entwicklung d er Slawen ist nicht ganz in derselben Richtung gegangen wie ihre wirtschaftliche und kulturelle. Relativ und äußerlich am weitesten sind in politischer Hinsicht die Südslawen und unter ihnen die Bul¬ garen gekommen. Im Jahre 1879 durch Rußland vom Türkenjoch befreit, kam Bulgarien nach mancherlei Fährnissen unter die Herrschaft eines weisen und ener¬ gischen Fürsten, des Prinzen Ferdinand von Koburg-Gotha. Dieser deutsche Fürst hat nach unsäglichen Schwierigkeiten auf allen Gebieten des Volkslebens und unter den gehässigsten Anfeindungen seinem Lande eine Verfassung gegeben, die, von ihm mit Besonnenheit gehandhabt, eine gesunde Entwicklung des Landes erwarten läßt. Als er sich den Frieden im Innern erzwungen hatte, brach er im Einverständnis mit der Nation sein Vasallenverhültnis zur Türkei und erhob vor wenigen Wochen sein Land zum unabhängigen Zartum. Wie Serbien sich weiter entwickelt, müssen die nächsten Monate zeigen; uach seiner jüngsten Vergangenheit beurteilt, scheint uns das serbische Volk ein fauler Stamm. Die Ostslawen (Moskowiter) haben durch die Einführung der Reichsduma nur teilweise, nämlich ausschließlich als eine der Nationalitäten russischer Untertanenschaft, also als russische Staatsbürger gewonnen, nicht aber als Moskowiter. Durch die Volksvertretung haben hauptsächlich die energischen nichtrussischen Volksstämme gewonnen, die bis zum Jahre 1905 mit Gewalt und Ausnahmegesetzen unterdrückt wurden: die Armenier, Tataren, Juden, Polen, Letten, Ehlen und Kleinrussen. Durch den Glaubenserlaß vom 17. April 1905 ist der orthodoxen Kirche ein scharfes Instrument gegen die Sektierer und den kriegerischen Katholizismus entwunden, und die Zeit muß erst lehren, ob die Staatskirche tatsächlich so viel moralische Kraft in sich hat, daß sie die Abtrünnigen an sich fesseln kann ohne eine ihr Wesen völlig ver¬ ändernde Reformation an Haupt und Gliedern. Der Moskowiter ist nur im¬ stande, durch Passivität seine Rechte wahrzunehmen; darum braucht er auch keine Volksvertretung, in der er selbst für sein Wohlbefinden zu kämpfen hätte. Infolgedessen ist aber auch die vorhandne russische Volksvertretung vor allen Dingen ein gutes Instrument in den Händen der Fremdvölker, der Polen, Juden und Armenier gegen das Moskowitertum. Die Deutschen sind leider zu wenig zahlreich und ebenfalls zu passiv, als daß sie in dieser Volksver¬ tretung eine nennenswerte Rolle spielen könnten. Die russische Regierung hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/19>, abgerufen am 22.07.2024.