Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.Siena auch der moderne, also der romantische Künstler streben, obwohl sie unter den Hiera Mathilde Fleischer Line Reiseerinnerung von W Das ist ja nun nicht maßgebend für alle, denn die Glückseligkeit der Menschen Es war in den letzten Septembertagcn, als ich von Florenz über Empoli Siena auch der moderne, also der romantische Künstler streben, obwohl sie unter den Hiera Mathilde Fleischer Line Reiseerinnerung von W Das ist ja nun nicht maßgebend für alle, denn die Glückseligkeit der Menschen Es war in den letzten Septembertagcn, als ich von Florenz über Empoli <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0532" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312217"/> <fw type="header" place="top"> Siena</fw><lb/> <p xml:id="ID_2079" prev="#ID_2078"> auch der moderne, also der romantische Künstler streben, obwohl sie unter den<lb/> verwickelten Lebensbedingungen und in der Unfertigkeit einer vorwärts schreitenden<lb/> Zeit schwieriger zu verwirklichen ist, als sie es in der antiken Welt war. Der<lb/> Roman aber schien ihm, wie schon bemerkt wurde, die dem modernen Dasein<lb/> entsprechende Form zu sein, weil dieses Dasein ein beständiges sich Entwickeln<lb/> und Wachsen ist, das Werk eines innern Bildungstriebes, und weil der<lb/> Roman das Walten dieses allgemeinen Triebes an einer einzelnen Persönlichkeit<lb/> zeigt. Darum verehrte er über alles Wilhelm Meister, der erzählt, „wie die<lb/> Bildung eines strebenden Geistes sich still entfaltet, und wie die werdende Welt<lb/> aus seinem Innern leise emporsteigt". Wie in den mittelalterlichen Mystikern,<lb/> so finden auch in den Romantikern viele der Seelen, die heute Gott, die Wahr¬<lb/> h<note type="byline"> Lark I°"thes</note> eit und das Leben suchen, sich selbst wieder. </p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Hiera<lb/><note type="byline"> Mathilde Fleischer</note> Line Reiseerinnerung von</head><lb/> <p xml:id="ID_2080"> W<lb/> z M?. < <5>>aut Bourget, der die verschiedensten Gegenden der Alten und der<lb/> Neuen Welt bereist und beschrieben hat, gibt vor allen Ländern<lb/> Italien den Vorzug. Besonders liebt er Tosknna, und in diesem<lb/> anmutigen Lande ist es das „rote Siena", das ihn so entzückt, daß<lb/> er sagt, manchmal habe er den Gedanken gehabt, man möchte doch<lb/> ! einst ans sein Grab schreiben: Seuche. Sein Herz schlägt höher bei<lb/> dem Zauberklang des Wortes: Siena. Es steigen ihm dabei Erinnerungen auf<lb/> an Tage des reinsten Glückes, wo alles sich zu vereinigen schien, seine Seele bis<lb/> zum höchsten Grade glücklichster Erregung emporzutragen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2081"> Das ist ja nun nicht maßgebend für alle, denn die Glückseligkeit der Menschen<lb/> besteht je nach Charakter und Erziehung, nach Stand und Lebenslage in den ver¬<lb/> schiedensten Dingen. Für die pommerschen und ostpreußischen Rittergutsbesitzer ist<lb/> der Ort der Sehnsucht Berlin mit Theater, Wertheim und Kempinsky. Die meisten<lb/> von ihnen würden wohl Siena ein ledernes Nest schelten. Auch nicht alle<lb/> Reisenden, die im Frühling oder im Herbst über die Alpen fahren, würden Bourgets<lb/> Entzücken begreiflich finden, wenn sie es der Mühe wert erachteten, zwischen Florenz<lb/> und Rom die Stadt der heiligen Katharina zu besuchen. Denen aber, die Ver¬<lb/> ständnis für sie haben, bietet sie viel: der Maler, der Kunsthistoriker, der Geschichts¬<lb/> forscher, der Dnntefreund, alle finden in ihren Mauern ein reiches Feld. Und<lb/> jeder gewöhnliche Sterbliche kann dort unvergeßliche Stunden des reinsten Genusses<lb/> verleben, wenn er nur Augen hat, die empfänglich sind für alles Malerische in<lb/> Natur und mittelalterlicher Architektur und ein Herz, das nicht zu spröde ist, die<lb/> innigen Gefühle der alten senesischen Meister mitzufühlen, deren liebreizende Madonnen<lb/> und Heilige auf verblichnen Goldgrunde die Kirchen und Museen zieren.</p><lb/> <p xml:id="ID_2082" next="#ID_2083"> Es war in den letzten Septembertagcn, als ich von Florenz über Empoli<lb/> nach Siena fuhr. Es kann kaum etwas Köstlicheres geben als eine Fahrt durch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0532]
Siena
auch der moderne, also der romantische Künstler streben, obwohl sie unter den
verwickelten Lebensbedingungen und in der Unfertigkeit einer vorwärts schreitenden
Zeit schwieriger zu verwirklichen ist, als sie es in der antiken Welt war. Der
Roman aber schien ihm, wie schon bemerkt wurde, die dem modernen Dasein
entsprechende Form zu sein, weil dieses Dasein ein beständiges sich Entwickeln
und Wachsen ist, das Werk eines innern Bildungstriebes, und weil der
Roman das Walten dieses allgemeinen Triebes an einer einzelnen Persönlichkeit
zeigt. Darum verehrte er über alles Wilhelm Meister, der erzählt, „wie die
Bildung eines strebenden Geistes sich still entfaltet, und wie die werdende Welt
aus seinem Innern leise emporsteigt". Wie in den mittelalterlichen Mystikern,
so finden auch in den Romantikern viele der Seelen, die heute Gott, die Wahr¬
h Lark I°"thes eit und das Leben suchen, sich selbst wieder.
Hiera
Mathilde Fleischer Line Reiseerinnerung von
W
z M?. < <5>>aut Bourget, der die verschiedensten Gegenden der Alten und der
Neuen Welt bereist und beschrieben hat, gibt vor allen Ländern
Italien den Vorzug. Besonders liebt er Tosknna, und in diesem
anmutigen Lande ist es das „rote Siena", das ihn so entzückt, daß
er sagt, manchmal habe er den Gedanken gehabt, man möchte doch
! einst ans sein Grab schreiben: Seuche. Sein Herz schlägt höher bei
dem Zauberklang des Wortes: Siena. Es steigen ihm dabei Erinnerungen auf
an Tage des reinsten Glückes, wo alles sich zu vereinigen schien, seine Seele bis
zum höchsten Grade glücklichster Erregung emporzutragen.
Das ist ja nun nicht maßgebend für alle, denn die Glückseligkeit der Menschen
besteht je nach Charakter und Erziehung, nach Stand und Lebenslage in den ver¬
schiedensten Dingen. Für die pommerschen und ostpreußischen Rittergutsbesitzer ist
der Ort der Sehnsucht Berlin mit Theater, Wertheim und Kempinsky. Die meisten
von ihnen würden wohl Siena ein ledernes Nest schelten. Auch nicht alle
Reisenden, die im Frühling oder im Herbst über die Alpen fahren, würden Bourgets
Entzücken begreiflich finden, wenn sie es der Mühe wert erachteten, zwischen Florenz
und Rom die Stadt der heiligen Katharina zu besuchen. Denen aber, die Ver¬
ständnis für sie haben, bietet sie viel: der Maler, der Kunsthistoriker, der Geschichts¬
forscher, der Dnntefreund, alle finden in ihren Mauern ein reiches Feld. Und
jeder gewöhnliche Sterbliche kann dort unvergeßliche Stunden des reinsten Genusses
verleben, wenn er nur Augen hat, die empfänglich sind für alles Malerische in
Natur und mittelalterlicher Architektur und ein Herz, das nicht zu spröde ist, die
innigen Gefühle der alten senesischen Meister mitzufühlen, deren liebreizende Madonnen
und Heilige auf verblichnen Goldgrunde die Kirchen und Museen zieren.
Es war in den letzten Septembertagcn, als ich von Florenz über Empoli
nach Siena fuhr. Es kann kaum etwas Köstlicheres geben als eine Fahrt durch
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